Kombiniere: Jeder Engel ist schrecklich

Ein Beitrag vom Jörg Neugebauer, Mitglied der Rilke-Gesellschaft.

Ich versorgte Rilke mit Literatur, er hatte wenig zu lesen. Die ausgehauchten Bände in der Schlossbibliothek zu Duino kannte er alle längst auswendig, und von Lou kamen nur selten noch Briefe.

So brachte ich ihm „Nick Knatterton“ und andere Comics, dazu die karierte Knatterton-Mütze, die ich in Triest in einer Hafenkneipe vom Haken entwendet hatte. Die trug er nun häufig, auch begann er Sätze jetzt manchmal mit „Kombiniere“, so etwa „Kombiniere: Jeder Engel ist schrecklich“.

In Duino war er ziemlich auf sich gestellt, allein mit einer Haushälterin, die am Spätnachmittag das Schloss verließ. Ich war also fast sein einziger Besucher, brachte ihm, wie gesagt, Bücher oder besser gesagt Hefte, manchmal auch eins dieser Sexmagazine, Kreuzworträtsel lehnte er ab. Ansonsten schwiegen wir und sahen aufs Meer. Die Fenster des Schlosses gehen ja fast alle auf die weite Bucht hinaus, was sollten wir angesichts dessen groß reden.

Rilke rauchte dann seine Knatterton-Pfeife und hatte die Füße in Fußwärmern stecken, die Zimmer dort sind nicht gut beheizt. Jeden Sonntagnachmittag erschien ein italienischer Fremdenführer, der, von einer nur undeutlich sichtbaren Besuchergruppe umringt, erklärte, der tschechoslowakische Poet Rilke habe hier eine Zeitlang gelebt und ein berühmtes Gedicht geschrieben. Er habe es selbst mal zu lesen versucht, sei aber mit dem österreichischen Humor nicht klargekommen. Im Grunde sei Rilke Schweizer gewesen, spätestens bei seinem Tod. Und er rezitierte den Anfang der ersten Elegie auf Italienisch:

Chi se io gridassi mi udirebbe mai
dalle schiere degli angeli
ed anche se uno di loro al cuoro mi prendesse,
io verrei meno per la sua più forte presenza.

Das sind hier so meine Séancen, meinte Rilke lächelnd und zog an seiner Pfeife. Um sich für meine Knatterton-Lieferungen zu revanchieren, las er mir gelegentlich Artikel aus der „Gazzetta dello Sport“ vor, Spielberichte von Partien der Seria A. Das kam meinem kärglichen Italienisch zugute, praktischerweise fasste er den Inhalt am Schluss jeweils noch kurz auf Deutsch zusammen. Rilke war eingefleischter Milan-Fan, ich hielt es mehr mit Juventus. Die Gazzetta habe er 1912 schon abonniert gehabt, seither werde sie täglich ins Schloss geliefert. Meist fingen jedoch die Gärtner sie ab.

Auf mich wirkte der Garten recht leblos, Rilke begleitete mich nur widerstrebend, wenn ich doch mal hinunterwollte. War früher hier mehr Betrieb? konnte ich mich nicht enthalten zu fragen. Rilke zuckte die Achseln. Bin nicht mehr oft unten gewesen, mit der Fürstin von Thurn und Taxis ein paarmal, das waren angeregte Gespräche. Kommt sie denn gar nicht mehr her? fragte ich. Rilke wusste es nicht. Es gebe Gerüchte, sie habe das Schloss verkauft und er sei versehentlich mit verkauft worden. „Kombiniere: Wahrscheinlich bin ich deswegen immer noch hier.“

Jörg Neugebauer

Anmerkung: Nick Knatterton war in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts eine im deutschen Sprachraum populäre Comicfigur.