Archiv der Kategorie: Rilke-Zitat

Wie haben Sie recht gehabt, so eingestanden und aufrichtig zu feiern. Dieses vertrauliche Fest ist nicht ganz leicht zu übergehen. Es ist nun einmal da in seinem alten Selbstbewußtsein und voll guten Gewissens, und sperrt man es aus, so kommt es durch Ritzen und Fugen herein, und auf einmal geht die Zeit doch damit hin, gutmütig, wie sie mit allem geht.

Aus einem Brief an Mathilde Vollmöller vom 31.12.1908

Spaziergang

Schon ist mein Blick am Hügel, dem besonnten,
dem Wege, den ich kaum begann, voran.
So faßt uns das, was wir nicht fassen konnten,
voller Erscheinung, aus der Ferne an —

und wandelt uns, auch wenn wirs nicht erreichen,
in jenes, das wir, kaum es ahnend, sind;
ein Zeichen weht, erwidernd unserm Zeichen …
Wir aber spüren nur den Gegenwind.

Muzot, 1924

 

Schon bricht das Glück, verhalten viel zu lang,
höher hervor und überfüllt die Wiese;
der Sommer fühlt schon, der sich streckt, der Riese,
im alten Nußbaum seiner Jugend Drang.

Die leichten Blüten waren bald verstreut,
Das ernstre Grün tritt handelnd in die Bäume,
und, rund um sie, wie wölbten sie die Räume,
und wieviel morgen war von heut zu heut.

Im Mai 1924

Der Ölbaum-Garten

Er ging hinauf unter dem grauen Laub
ganz grau und aufgelöst im Ölgelände
und legte seine Stirne voller Staub
tief in das Staubigsein der heißen Hände.

Nach allem dies. Und dieses war der Schluß.
Jetzt soll ich gehen, während ich erblinde,
und warum willst Du, daß ich sagen muß
Du seist, wenn ich Dich selber nicht mehr finde.

Ich finde Dich nicht mehr. Nicht in mir, nein.
Nicht in den andern. Nicht in diesem Stein.
Ich finde Dich nicht mehr. Ich bin allein.

Ich bin allein mit aller Menschen Gram,
den ich durch Dich zu lindern unternahm,
der Du nicht bist. O namenlose Scham…

Später erzählte man: ein Engel kam -.

Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht
und blätterte gleichgültig in den Bäumen.
Die Jünger rührten sich in ihren Träumen.
Warum ein Engel? Ach es kam die Nacht.

Die Nacht, die kam, war keine ungemeine;
so gehen hunderte vorbei.
Da schlafen Hunde und da liegen Steine.
Ach eine traurige, ach irgendeine,
die wartet, bis es wieder Morgen sei.

Denn Engel kommen nicht zu solchen Betern,
und Nächte werden nicht um solche groß.
Die Sich-Verlierenden läßt alles los,
und sie sind preisgegeben von den Vätern
und ausgeschlossen aus der Mütter Schooß.

 

Aus: Neue Gedichte (1907)

Neue Sonne, Gefühl des Ermattens
vermischt mit hingebendem Freuen;
aber noch mehr fast ergreift mich die Unschuld des neuen
Schattens.

Schatten des frühesten Laubes, das du durchhellst,
Schatten der Blüten –: wie klar!
Wie du dich, wahres, nirgends verstellst,
offenes Jahr.

Unser Dunkel sogar wird davon zarter,
genau so rein war vielleicht sein Ursprung.
Und einmal war das alte Schwarz aller Marter
so jung.

Aus dem Nachlass des Grafen C.W. (1921)

„Man sollte nicht fürchten, daß unsere Kraft nicht hinreichte, irgend eine, und sei es die nächste und sei es die schrecklichste Todeserfahrung zu ertragen; der Tod ist nicht über unsere Kraft, er ist der Maßstrich am Rande des Gefäßes.“

Aus einem Brief an Gräfin Sizzo vom 6.1.1923

 

Auswanderer-Schiff

Neapel

Denk: daß einer heiß und glühend flüchte,
und die Sieger wären hinterher,
und auf einmal machte der
Flüchtende kurz, unerwartet, Kehr
gegen Hunderte –: so sehr
warf sich das Erglühende der Früchte
immer wieder an das blaue Meer:

als das langsame Orangen-Boot
sie vorübertrug bis an das große
graue Schiff, zu dem, von Stoß zu Stoße,
andre Boote Fische hoben, Brot, –
während es, voll Hohn, in seinem Schooße
Kohlen aufnahm, offen wie der Tod.

 

Neue Gedichte, 1907

 

Wie ein Ton, der in Spiegel schaut,
klang im November ein Amsellaut
oder als rührte ans eigene Haar
einer, weil’s einmal geliebkost war.

Aber am Morgen im Februar
darf es ein Fink schon wagen
etwas was kein Erinnern war
offen ins Jahr zu sagen.

Februar 1924

Zu der Zeichnung, John Keats im Tode darstellend

Nun reicht an’s Antlitz dem gestillten Rühmer
die Ferne aus den offnen Horizonten:
so fällt der Schmerz, den wir nicht fassen konnten,
zurück an seinen dunklen Eigentümer.

Und dies verharrt, so wie es, leidbetrachtend,
sich bildete zum freiesten Gebilde,
noch einen Augenblick, – in neuer Milde
das Werden selbst und den Verfall verachtend.

Gesicht: o wessen? Nicht mehr dieser eben
noch einverstandenen Zusammenhänge.
O Aug, das nicht das schönste mehr erzwänge
der Dinge aus dem abgelehnten Leben.
O Schwelle der Gesänge,
o Jugendmund, für immer aufgegeben.

Und nur der Stirne baut sich etwas dauernd
hinüber aus verflüchtigten Bezügen,
als strafte sie die müden Locken lügen,
die sich an ihr ergeben, zärtlich trauernd.

Paris, 1914

 

John Keats in His Last Illness, by Joseph Severn
John Keats in His Last Illness (Joseph Severn)