Rilke und die Zeit

Rilke-Texte gesucht und gefunden

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Mona
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Rilke und die Zeit

Beitrag von Mona »

Hallo,

eine Frage aus konkretem Anlass: gibt es ein Zeit-Gedicht von Rilke ? Hatte Rilke immer Zeit, hatte er immer die Ruhe weg oder war er auch mal im Stress und unter Zeitdruck ?

Mir geht es momentan so, dass mir ständig die Zeit wegläuft . Heute war ich sogar so vertieft in meine Arbeit, dass ich fast in der Bibliothek eingeschlossen worden wäre . HILFE !

Mona :lol:
"Wie man sich lange über die Bewegung der Sonne getäuscht hat, so täuscht man sich immer noch über die Bewegung des Kommenden. Die Zukunft steht fest,... wir aber bewegen uns im unendlichen Raume."(RMR)
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lilaloufan
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Zeit läuft weg

Beitrag von lilaloufan »

Hallo Mona, sieh’ mal hier: http://www.rilke.de/phpBB3/viewtopic.php?p=2100#2100 - das vielzitierte Wort findest du hier: http://www.rilke.de/gedichte/wunderliches_wort.htm .

Übrigens berichtet Rilke aus seinem „Turm“ oft von Briefrückstand. Stress? Eustress, würde ich sagen. Als Eustress empfand ich es auch, als ich vor vielen Jahren manche Nacht in einer Bibliothek verbracht habe. Disstress dagegen wäre, lauter anspruchslose (oder von vorneherein unlösbare) Aufgaben gleichzeitig erledigen zu sollen, man kennt das aus der Alltagsküche. Vertieft die Zeit vergessen dagegen ist eigentlich nicht Zeitnot, nicht wahr?

Kennst du die Frage: «Wie lang ist eine Kinderminute?»

:) Christoph
Zuletzt geändert von lilaloufan am 19. Sep 2011, 20:15, insgesamt 1-mal geändert.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
Mona
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Beitrag von Mona »

Hallo Christoph,

«Wie lang ist eine Kinderminute?» - fragst Du . Nein, diese Frage kannte ich bisher noch nicht . Kannst Du mir eine Antwort geben ?

Im Internet sagt man: Lost in Hyperspace . Ich komme mir momentan so vor, habe ich einmal einen roten Faden, steckt er in einem Wollknäuel mit vielen anderen bunten und anderen roten Fäden und ich finde immer mehr Bedenkenswertes . "Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben..." (H. Hesse)

Mona :lol:
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Paul A.
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Beitrag von Paul A. »

Hallo, Mona,

Lost in Hyperspace ? Es beginnt schon viel früher. Diese Geschichte kennst Du bestimmt auch ?!

Gebrüder Grimm
Grimms Märchen: Kinder- und Hausmärchen (KHM)
Der süße Brei


Es war einmal ein armes, frommes Mädchen, das lebte mit seiner Mutter allein, und sie hatten nichts mehr zu essen. Da ging das Kind hinaus in den Wald, und begegnete ihm da eine alte Frau, die wußte seinen Jammer schon und schenkte ihm ein Töpfchen, zu dem sollt es sagen: »Töpfchen, koche«, so kochte es guten, süßen Hirsebrei, und wenn es sagte: »Töpfchen, steh«, so hörte es wieder auf zu kochen.

Das Mädchen brachte den Topf seiner Mutter heim, und nun waren sie ihrer Armut und ihres Hungers ledig und aßen süßen Brei, sooft sie wollten.

Auf eine Zeit war das Mädchen ausgegangen, da sprach die Mutter: »Töpfchen, koche«, da kocht es, und sie ißt sich satt; nun will sie, daß das Töpfchen wieder aufhören soll, aber sie weiß das Wort nicht. Also kocht es fort, und der Brei steigt über den Rand hinaus und kocht immerzu, die Küche und das ganze Haus voll und das zweite Haus und dann die Straße, als wollt's die ganze Welt satt machen, und ist die größte Not, und kein Mensch weiß sich da zu helfen. Endlich, wie nur noch ein einziges Haus übrig ist, da kommt das Kind heim und spricht nur: »Töpfchen, steh«, da steht es und hört auf zu kochen, und wer wieder in die Stadt wollte, der mußte sich durchessen.

Soviel zur Technik :wink: !

Paul :lol:
"... Knaben, o werft den Mut/ nicht in die Schnelligkeit,/ nicht in den Flugversuch./ Alles ist ausgeruht:/ Dunkel und Helligkeit,/ Blume und Buch." (R.M. Rilke)
Mona
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Beitrag von Mona »

Danke, Paul, für diesen liebenswürdigen Hinweis :wink: !

Für heute habe ich erstmal beschlossen - wie das Mädchen: "Töpfchen, steh!" zu sagen, nachdem ich über acht Stunden fleissig gelesen habe und jetzt meine Augen weh tun. Es ist wie im richtigen Leben: man muss auch mal Pausen machen. Das sagt auch mein Freund, und der muss es wissen: er ist im Betriebsrat !

Mona :lol:
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lilaloufan
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lost in hyperspace

Beitrag von lilaloufan »

Janusz Korczak - aber auch die ganze Piagetsche Entwicklungspsychologie – machen aufmerksam darauf, um wieviel mehr ein Kind in einer Zeiteinheit erlebt als wir Erwachsenen. »Wenn ich wieder ein Kind wäre, würde ich gern alles im Gedächtnis behalten, alles wissen und können, was ich jetzt weiß und kann. Und, dass niemand merkt, dass ich schon groß war.« (Übers. Mieczyslaw Wójcicki)

Die Formulierung: „Wie lang ist eine Kinderminute?“ habe ich in den achtziger Jahren in Stuttgart in einem Vortrag gehört; ich weiß aber nicht, ob die Vortragende diese rhetorische Frage zitiert hat.

Liebe Mona,
Mona hat geschrieben:Ich komme mir momentan so vor, habe ich einmal einen roten Faden, steckt er in einem Wollknäuel mit vielen anderen bunten und anderen roten Fäden und ich finde immer mehr Bedenkenswertes.
das mag Rilke auf seine Weise gekannt haben, und er wünscht H. U. (24. März 1926), diesem möge „ein unmittelbar Fassliches, eine Beschäftigung im unbildlichsten Sinn, zwischen die Hände" gedrängt sein. Er solle mit einer Feder „Tatsachen (…) notieren, des eigenen und lieber noch des fremderen Lebens, und, in jedem Fall, schaffen Sie sich, neben der Feder, die bestimmt ist, Freunden ein Zeichen Ihres Ergehens und Treibens zu liefern, eine zweite Feder an, die Sie wie ein Werkzeug behandeln:“ – Ich unterbreche hier mal das Zitat, weil es mir darauf ankam: Dieses Arbeiten mit zwei Fenstern, dessen eines du ganz konsequent dem Fortgang deines linearen Gedankengangs widmest, so dass du allenfalls im zweiten Fenster dich in den Hyperspace-Irrgärten nichtlinearer Informationsfülle verlieren kannst, wäre schon ein mal ein methodischer Weg zur Internet- / Recherchedisziplin.

Freilich meint Rilke mit der zweiten Feder die künstlerisch disziplinierte. „Und lassen Sie sich durch das, was aus dieser zweiten Feder hervorgeht, nicht selber bewegen, seien Sie hart gegen das Mindeste ihrer Produkte. Das handwerklich Hinausgestellte, das diese andere Feder umreißt, wirke nicht weiter in Ihr eigenes Leben zurück, sei es eine Bildung, eine Umsetzung, eine Verwandlung, zu der das «Ich» nur der erste und letzte Anstoß war, die aber von da ab Ihnen gegenüber bleibt, abstammend von Ihrem Impuls, aber sofort so weit fortgeschoben auf die Ebene der künstlerischen Entfremdung, des dinglichen Alleinseins, dass Sie nur noch als ein ruhiger Beauftragter an der Vollendung dieses geheim Gegenständlichen sich beteiligt fühlen.

:wink: Christoph
Zuletzt geändert von lilaloufan am 4. Mai 2009, 14:22, insgesamt 1-mal geändert.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
Barbara
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Beitrag von Barbara »

Hallo,

Rilke und die Zeit :lol: !?

Seit heute bin ich mit DSL unterwegs, nach einigen Anfangsschwierigkeiten. Geht wirklich viel schneller der Weg über die Daten-Autobahn :-) !

Was wohl Rilke zu dieser Tempo-Beschleunigung gesagt hätte ?

Barbara :lol:

ps.: und nicht vergessen: heute Nacht Uhren umstellen: Winter-Zeit :wink: !
Renée
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Rilke und die Zeit

Beitrag von Renée »

Gruß an Euch alle:

ist niemand auf die Verse gestoßen:

"Wunderliches Wort die Zeit vertreiben
sie zu halten wäre das Problem..."

aus dem "Nachlass des Grafen C.W.", das doch im Rilke-Projekt so einen Erfolg hatte?

Alles Gute, Renée
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Anna B.
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Rilke und die Zeit

Beitrag von Anna B. »

Hallo,

Rilke hatte bestimmt ein bewußtes Gefühl für die Zeit ?!

Er schreibt ja auch:

Wenn die Uhren so nah
wie im eigenen Herzen schlagen,
und die Dinge mit zagen
Stimmen sich fragen:
Bist du da? - :

Dann bin ich nicht der, der am Morgen erwacht,
einen Namen schenkt mir die Nacht,
den keiner, den ich am Tage sprach,
ohne tiefes Fürchten erführe -

Jede Türe
in mir gibt nach...

Und da weiß ich, dass nicht vergeht,
keine Geste und kein Gebet
(dazu sind die Dinge zu schwer) -
meine ganze Kindheit steht
immer im mich her.
Niemals bin ich allein.
Viele, die vor mir lebten
und fort von mir strebten,
webten,
webten
an meinem Sein.

Und setz ich mich zu dir her
und sage dir leise: Ich litt -
hörst du?

Wer weiß wer
murmelt es mit.

Anna Blume :lol:
"anna blume... man kann dich auch von hinten lesen... du bist von hinten wie von vorne: "a-n-n-a." (kurt schwitters)
stilz
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Beitrag von stilz »

Vielen Dank, Anna, für "einen Namen schenkt mir die Nacht..."! Das ist wunderbar.

Auch das 22. Sonett an Orpheus darf nicht fehlen beim Thema "Rilke und die Zeit":

Wir sind die Treibenden.
Aber den Schritt der Zeit,
nehmt ihn als Kleinigkeit
im immer Bleibenden.

Alles das Eilende
wird schon vorüber sein;
denn das Verweilende
erst weiht uns ein.

Knaben, o werft den Mut
nicht in die Schnelligkeit,
nicht in den Flugversuch.

Alles ist ausgeruht:
Dunkel und Helligkeit,
Blume und Buch.



Alles ist ausgeruht... ich wünsche allen eine Gute Nacht!

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Paul A.
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Beitrag von Paul A. »

Hallo,

Danke, Ingrid, für das Gedicht, das ja auch in meiner Signatur steht, weil es eines meiner Lieblingsgedichte von Rilke ist.

Nun möchte auch ich ein Rilke–Gedicht beisteuern, das mich heute morgen bei einem langen Strandspaziergang begleitet hat. Ich vergaß die Zeit und begegnete Venus. In gewisser Weise – auch sie ist mit der Zeit verbunden:

Geburt der Venus

An diesem Morgen nach der Nacht, die bang
vergangen war mit Rufen, Unruh, Aufruhr, -
brach alles Meer noch einmal auf und schrie.
Und als der Schrei sich langsam wieder schloß
und von der Himmel blassem Tag und Anfang
herabfiel in der stummen Fische Abgrund -:
gebar das Meer.

Von erster Sonne schimmerte der Haarschaum
der weiten Wogenscham, an deren Rand
das Mädchen aufstand, weiß, verwirrt und feucht.
So wie ein junges grünes Blatt sich rührt,
sich reckt und Eingerolltes langsam aufschlägt,
entfaltete ihr Leib sich in die Kühle
hinein und in den unberührten Frühwind.

Wie Monde stiegen klar die Kniee auf
und tauchten in der Schenkel Wolkenränder;
der Waden schmaler Schatten wich zurück,
die Füße spannten sich und wurden licht,
und die Gelenke lebten wie die Kehlen
von Trinkenden.

Und in dem Kelch des Beckens lag der Leib
wie eine junge Frucht in eines Kindes Hand.
In seines Nabels engem Becher war
das ganze Dunkel dieses hellen Lebens.
Darunter hob sich licht die kleine Welle
und floß beständig über nach den Lenden,
wo dann und wann ein stilles Rieseln war.
Durchschienen aber und noch ohne Schatten,
wie ein Bestand von Birken im April,
warm, leer und unverborgen, lag die Scham.

Jetzt stand der Schultern rege Waage schon
im Gleichgewichte auf dem graden Körper,
der aus dem Becken wie ein Springbrunn aufstieg
und zögernd in den langen Armen abfiel
und rascher in dem vollen Fall des Haars.

Dann ging sehr langsam das Gesicht vorbei:
aus dem verkürzten Dunkel seiner Neigung
in klares, waagrechtes Erhobensein.
Und hinter ihm verschloß sich steil das Kinn.

Jetzt, da der Hals gestreckt war wie ein Strahl
und wie ein Blumenstiel, darin der Saft steigt,
streckten sich auch die Arme aus wie Hälse
von Schwänen, wenn sie nach dem Ufer suchen.

Dann kam in dieses Leibes dunkle Frühe
wie Morgenwind der erste Atemzug.
Im zartesten Geäst der Aderbäume
entstand ein Flüstern, und das Blut begann
zu rauschen über seinen tiefen Stellen.
Und dieser Wind wuchs an: nun warf er sich
mit allem Atem in die neuen Brüste
und füllte sie und drückte sich in sie, -
daß sie wie Segel, von der Ferne voll,
das leichte Mädchen nach dem Strande drängten.

So landete die Göttin.

Hinter ihr,
die rasch dahinschritt durch die jungen Ufer,
erhoben sich den ganzen Vormittag
die Blumen und die Halme, warm, verwirrt,
wie aus Umarmung. Und sie ging und lief.

Am Mittag aber, in der schwersten Stunde,
hob sich das Meer noch einmal auf und warf
einen Delphin an jene selbe Stelle.
Tot, rot und offen.


Paul :lol:
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stilz
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Beitrag von stilz »

Lieber Paul,

und jetzt danke ich Dir... wir haben hier zwar einen sehr nassen, kalten Herbstsonntag, aber ich war dennoch grad auf einem herrlichen Strandspaziergang :lol:

Übrigens ad Renée: auf das "wunderliche Wort" (das natürlich eines der wichtigsten Rilke'schen "Zeit-Gedichte" ist) weist Du - via lilaloufan - ja schon in der allerersten Antwort hier hin: http://rilke.de/phpBB3/viewtopic.php?p=7095#7095

Lieben Gruß aus vielen Regentropfen!

stilz
Zuletzt geändert von stilz am 25. Feb 2008, 10:25, insgesamt 1-mal geändert.
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Anna B.
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Beitrag von Anna B. »

Gefunden:

Ist dir nicht so: die Uhren schlügen
nichtmehr für uns die zage Zahl? -
Die letzten Lichter sind wie Lügen
vor dieser Mondnacht klaren Zügen
und löschen leise aus im Tal.

Jetzt kommt es über alle Dinge,
dies ernste, stumme Sichverstehn.
Mir ist, daß Eins zum Andern ginge,
um so - das Große und Geringe
versöhnt - ins Ewige zu gehn.
RMR
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helle
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Beitrag von helle »

Um die Anthologie noch etwas zu erweitern. Ein Gedicht, das fragt und sich fragen läßt:


XXVII. Sonett

Giebt es wirklich die Zeit, die zerstörende?
Wann, auf dem ruhenden Berg, zerbricht sie die Burg?
Dieses Herz, das unendlich den Göttern gehörende,
wann vergewaltigts der Demiurg?

Sind wir wirklich so ängstlich Zerbrechliche,
wie das Schicksal uns wahr machen will?
Ist die Kindheit, die tiefe, versprechliche,
in den Wurzeln - später - still?

Ach, das Gespenst des Vergänglichen,
durch den arglos Empfänglichen
geht es, als wär es ein Rauch.

Als die, die wir sind, als die Treibenden,
gelten wir doch bei bleibenden
Kräften als göttlicher Brauch.


Aus: Die Sonette an Orpheus, Zweiter Teil
stilz
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Beitrag von stilz »

Guten Abend,

wie schön, daß ChrisR gerade jetzt diesen thread wieder hervorgeholt hat! Danke!
Denn die von ihm zitierte Stelle aus dem „Malte“ fehlte tatsächlich noch in unserer kleinen Zeit-Anthologie.
(Und obwohl die Wanduhr-Diskussiongerade ein bisserl abzuschweifen scheint :wink: : auch sie gehört natürlich dazu)

Zeit, die man verzweifelt zu sparen versucht, und die einem dennoch am Ende nicht übrigbleibt… dazu fällt mir jetzt natürlich auch noch Hugo von Hofmannsthal ein, die Marschallin im „Rosenkavalier“ (und natürlich hör ich’s in der Interpretation von Richard Strauss):

Die Zeit, im Grunde, Quinquin,
die Zeit, die ändert doch nichts an den Sachen.
Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding.
Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar Nichts.
Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie.
Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen.
In den Gesichtern rieselt sie,
im Spiegel da rieselt sie,
in meinen Schläfen fließt sie.
Und zwischen mir und dir, da fließt sie wieder.
Lautlos, wie eine Sanduhr.
Oh, Quinquin!
Manchmal hör ich sie fließen unaufhaltsam.
Manchmal steh ich auf mitten in der Nacht
und laß die Uhren alle, alle stehn.
Allein, man muß sich auch vor ihr auch nicht fürchten!
Auch sie ist ein Geschöpf des Vaters,
der uns alle erschaffen hat.


Weiß vielleicht jemand, ob Rilke den "Rosenkavalier" gekannt hat?

Gute Nacht (na, ich laß die Uhren alle weitergehen :wink: )

stilz
Zuletzt geändert von stilz am 25. Feb 2008, 10:26, insgesamt 1-mal geändert.
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