Liebe Beatrice,
Deine Zeilen haben mich sehr berührt, als ich sie vorgestern las. Ich wollte sofort antworten - und dann zögerte ich doch. Und je mehr Zeit verstrich, desto unsicherer wurde ich,
was eigentlich ich Dir zu sagen haben könnte...
Als vor einiger Zeit ein innig geliebter Freund ganz unerwartet starb (durch einen Autounfall), da fand ich in Rilkes
Schlußstück ausgedrückt, was und wie es geschehen war: "lachenden Munds", "mitten im Leben" - und der Tod wagte "zu weinen mitten in uns"...
Aber das war noch nicht alles: denn ich erlebte, wie nicht nur
sein, sondern auch
mein Leben sich vollkommen veränderte, von einem Augenblick zum andern, obwohl äußerlich alles seinen gewohnten Gang ging: alles, jede kleinste alltägliche Verrichtung, erschien mir nun wie
auf diesen Tod bezogen...
Damals las ich Rilkes
Todes-Erfahrung. Und habe darin meine Empfindung genau geschildert gefunden:
- ...
Doch als du gingst, da brach in diese Bühne
ein Streifen Wirklichkeit durch jenen Spalt
durch den du hingingst: Grün wirklicher Grüne,
wirklicher Sonnenschein, wirklicher Wald.
Ja. Und nicht nur meine
Wahrnehmung schien sich verändert zu haben;
ich selbst war in einer ganz unerwarteten und inmitten meiner Trauer auch seltsam beglückenden Weise -
lebendiger geworden.
- ...
aber dein von uns entferntes,
aus unserm Stück entrücktes Dasein kann
uns manchmal überkommen, wie ein Wissen
von jener Wirklichkeit sich niedersenkend,
so daß wir eine Weile hingerissen
das Leben spielen, nicht an Beifall denkend.
Und nun, da ich merke, daß (nach etwas mehr als drei Jahren) das "Grün" ringsum wieder zu verblassen droht, weil kein so unmittelbarer Anlaß mehr es "wirklicher" macht - nun lese ich das "Schlußstück" noch etwas anders. Im Sinne eines "Memento mori", im Sinne der Möglichkeit, auch weiterhin "abschiedlich zu leben", wie Du es nennst.
Ich möchte dazu auch noch aus einem Brief zitieren, der mir viel bedeutet - auch wenn er nicht von Rilke ist.
Am 4. April 1787 schreibt Wolfgang Amadeus Mozart an seinen todkranken Vater Leopold:
„…da der Tod /: genau zu nemmen :/ der wahre Endzweck unsers lebens ist, so habe ich mich seit ein Paar Jahren mit diesem wahren, besten freunde des Menschen so bekannt gemacht, daß sein Bild nicht allein nichts schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel beruhigendes und tröstendes! und ich danke meinem gott, daß er mir das glück gegönnt hat mir die gelegenheit /: sie verstehen mich :/ zu verschaffen, ihn als den schlüssel zu unserer wahren Glückseeligkeit kennen zu lernen. - ich lege mich nie zu bette ohne zu bedenken, daß ich vielleicht /: so Jung als ich bin :/ den andern Tag nicht mehr seyn werde - und es wird doch kein Mensch von allen die mich kennen sagn können daß ich im Umgange mürrisch oder traurig wäre - und für diese glückseeligkeit danke ich alle Tage meinem Schöpfer und wünsche sie von Herzen Jedem meiner Mitmenschen.“
Liebe Beatrice, ich habe vorhin geschrieben, ich wäre etwas unsicher, was ich Dir eigentlich sagen will - nun weiß ich's wieder:
Du fragst: "wo finde ich...?" -
Hier ist der Ort. Herzlich willkommen!
Allerdings findest Du hier wohl kaum "fertige Interpretationen" oder allgemeingültige "Anweisungen", wie Rilke "richtig" zu verstehen sei. Sondern viele
Gespräche (in denen Du sicherlich schon ein bisserl gelesen hast), die manchmal Wesentliches berühren, dann auch wieder seltsam abdriften oder versiegen, um vielleicht nach Jahren wieder aufgenommen zu werden - ganz wie im wirklichen Leben halt.
Ich würde mich freuen, wenn Du Deine eigenen Gedanken, Fragen und Empfindungen zu Rilkes Gedichten mit uns teilst und wir miteinander ins Gespräch kommen.
Herzlichen Gruß!
Ingrid