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Geschichten vom lieben Gott

Verfasst: 26. Jul 2025, 05:52
von Lovely
Hallo,
Welches Gottesverständnis hat R.M. Rilke in seinen "Geschichten vom lieben Gott"?
Lovely

Re: Geschichten vom lieben Gott

Verfasst: 28. Jul 2025, 15:26
von helle
Auszug aus einem vor einigen Jahren verfaßten, von allen angeschriebenen Verlagen abgelehnten Romanversuch über Rilke. Wenn ich mir diesen Versuch heute ansehe, muß ich den Verlagen wohl dankbar sein. Da es am Ende aber einerlei ist, gebe ich eine einschlägige längere Passage aus einem fiktiven Gespräch zwischen Rilke und einem jungen Schweizer Pfarrer namens Zimmermann zum Besten. Das Drumherum um Deine theologisch ausgerichtete Frage müßtest Du wohlwollend in Kauf nehmen.

Grüßchen, helle
[…] Natürlich, irgendwann kommt Zimmermann dann doch auf die Geschichten vom lieben Gott zu sprechen. Er habe bereits ein wenig darin gelesen, und nur erst einen vorläufigen Eindruck. Ja, meint Rilke. Nun, der Pfarrer nimmt sich zusammen, er lobt auf dem Weg zum unvermeidlichen »aber« diese und jene Stelle, etwa, daß von einem Lehrer gesagt werde, er müsse sozusagen das einzige Loch im Bretterzaun sein, durch welches die Schüler in den Obstgarten sähen, er weiß nicht genau, aber auf solche Vergleiche käme er beim besten Willen nicht. Aber es komme ihm auch vor, als sei im Ganzen der Glaube des Buches manchmal etwas leicht gewogen und koste den Autor wenig. Es habe manchmal etwas scheinbar Kindliches, Naives, das er, Zimmermann, ihm, Rilke, nicht ganz, nun ja, glaube. Letztlich habe er wohl wenig mit seinem, Zimmermanns, Gott zu tun, sagt er, wirklich glauben oder zweifeln würde wohl keiner in Rilkes Buch; es stehe nur einfach da auf dem Papier. So, das war sein Vorstoß, er atmet schwer, obwohl sie sich mittlerweile auf einem Hochsitz niedergelassen haben, wo man, wie der Pfarrer meint, mit etwas Glück das Rotwild erspähen könne. So direkt hat es Rilke lange keiner gesagt, er denkt eine Zeit darüber nach, aber er nimmt es nicht schwer, der Eifer des jungen Mannes freut ihn heimlich, die Jugend neigt ja zum Grundsätzlichen. Als ließe sich das Wahre feststellen.

Sie trinken einen Obstler aus dem Flachmann des Pfarrers, der Rilke den ersten Schluck läßt und den Rand der Trinkflasche mit einem Taschentuch reinigt. Das macht warm. Rilke hat das stockige Stroh auf den Holzsitz gelegt, so daß seine Füße den Boden nicht berühren. Nun stelle ihn der Pfarrer da vor eines seiner Bücher, sagt er endlich, den Schweiß unter der Hutnarbe mit dem Einstecktuch abtupfend, was aufzuklären und zu kommentieren er sich durchaus ratlos fühle. Wie er die Erfindungen dieses nahezu unwillkürlichen Diktats von damals nun, von seinem jetzigen Lebensalter her, rechtfertigen solle? Nicht, daß er das, was damals in ihm gewesen sein müsse, von sich weise, aber sein Lebensgefühl habe sich doch auch verwandelt seither und wolle sich doch auch gelegentlich auf Neues, Gegenwärtiges einlassen – es sei ja Weniges ermüdender als die überwucherten Pfade nachzuziehen. Leider zeigt sich gar kein Getier, nicht einmal ein Schneehuhn, nur in der Ferne ist eine Gestalt als roter Farbfleck zu sehen, der Seuchenwärter vermutlich, er wildert, behauptet Zimmermann. Bald wird es empfindlich kalt. Der Pfarrer stopft eine kurze Pfeife. Also, was wollen Sie, fragt Rilke freundlich, er guckt, ob der junge Mann es wagt, ihn anzusehen, aber der ist auf seine Hände konzentriert und hat schon ein paar Zündhölzer verbraucht, jetzt nimmt er drei auf einmal, so daß die Flamme tüchtig anschlägt. Wer ihn nun um jener Arbeiten willen zur Rechenschaft ziehe, meint Rilke, müsse die Art seines Produzierens beachten, er habe diese jugendlichen Sachen doch aus einer Art Unwillkürlichkeit heraus improvisiert: Sollte er das damalige »Ganze« – er setzt mit beiden Zeigefingern Anführungszeichen um das zuvor vom Pfarrer gebrauchte Wort – näher bezeichnen, dann vielleicht als einen Versuch, Gott aus der Sphäre des Hörensagens und Geschriebenen in die Zonen des alltäglichen Erlebens zu versetzen; dieser Zugang sei ihm von Kindheit an gegeben: dies möchte also, soweit sich überhaupt dergleichen sagen lasse, die unbewußte Absicht gewesen sein, aus der jene Geschichten hervorgegangen seien und ihr Naives erklären. Rilke hat ein paar Bucheckern aus seiner Jackentasche gekramt und trotz klammer Finger den Kern freigeschält, höflicherweise bietet er dem Pfarrer davon an, der aber winkt ab, obwohl die Pfeife schon wieder aus ist. Die Abgetrenntheit, diese endgültig gewordene Jenseitigkeit Gottes, sagt Rilke kauend, hätte ihn immer erstaunt, ja seit der Kindheit beunruhigt, derart, daß er eigentlich nur Kindern wirklich zutraue, mit Gott umzugehen, am wenigsten aber denen, die sich anstrengten, dies und das für wahr zu erklären, was man Glauben nennt. Der Pfarrer fühlt sich irgendwie überrumpelt, so richtig ist Rilke gar nicht auf das eingegangen, was er ihm vorgehalten hat, oder? Sein Pulver aber hat er weitgehend verschossen. Und ein bißchen beeindruckt ihn auch die Gelassenheit des Mannes, der da neben ihm im letzten Streifen Winterlicht wie ein Eichhörnchen Bucheckern knabbert, die Schalen von der Handfläche pustet und seine Auffassungen so beiläufig vorträgt als spräche er über Küchenzettel oder Fahrpläne. Wollen wir weitergehen, fragt Zimmermann, steckt die Pfeife ein und setzt schon einen Fuß auf die Sprosse, aber Rilke bleibt noch einen Moment sitzen.

Dieser Zwang zu Gott, sagt er, die Hände reibend und mehr wie zu sich selbst, ja, fast etwas verächtlich klingt es jetzt, er sieht auch seinerseits den Pfarrer nicht mehr an, obwohl der ihm nun gegenübersteht, sondern auf seine vereisten, wenige Zentimeter über dem Boden schwebenden Schuhspitzen, der Zwang zu Gott habe doch gar keinen Ort, wenn einer mit der Entdeckung des Ganzen (diesmal betont er das Wort nur) begonnen habe, eine Entdeckung, in der es eigentlich kein Aufhören geben könne, egal wo man begonnen habe. Am besten sollte man sich dabei nicht groß um einen Gott im Jenseits kümmern, solange man sich selbst als etwas Hiesiges, mit diesen Bäumen, dem Schnee oder, Rilke hustet verhalten, selbst der Losung einer Wildschweinrotte Verwandtes empfinde. Zimmermann stöhnt, er nimmt eine weitere Sprosse hinab und bleibt gleichsam auf halber Höhe zwischen Himmel und Erde stecken, während Rilke nach den letzten Früchten fingert, sie ohne weiter Umstände in den Mund steckt und die Hülsen zwischen die Kappen der Schuhe ins Stroh spuckt. Es sei doch wohl mehr wert, die Gegenwart als etwas Einfaches, ja Einfältiges zu fühlen, wozu keine Kenntnisse vonnöten seien, kein Inhalt des Gefühls, keine Pflicht, kein Verzicht, keine Einschränkung: nur eine Richtung des Herzens in dieser – er untermalt seine Worte mit einer Handbewegung in Richtung des Abendhimmels – vollkommenen Weite des Alls. Lassen Sie doch Christus aus dem Spiel und all die Heckenschützen, sagt Rilke und seine Stimme hat die Festigkeit einer Posaune erreicht, die Kirche solle nicht zu Rückfällen in die unendliche Mühe und Trübsal zwingen, die es ihn, er meint Christus, also Ihn, gekostet habe, die Menschen zu erlösen, sinnvoller sei es wohl, dieses Erlöstsein täglich anzutreten. Er streicht die Reste der Vogelmahlzeit vom Mantel und sagt voilà, in der Tat, es werde kalt, sie sollten gehen […].