Freud über Rilke?

Lou Andreas-Salomé, Clara Westhoff, Marie von Thurn und Taxis, Ellen Key, Baladine Klossowska, Leonid Pasternak, Anton Kippenberg, ...

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Fiedel
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Freud über Rilke?

Beitrag von Fiedel »

Ich beschäftige mich aktuell mit der Freundschaft zwischen Freud und Rilke,
da ist die Frage aufgekommen, ob der Vortrag Freuds "Der Dichter und das Phantasieren" (an dieser Stelle auch ein Link zur online Version: https://literaturkritik.de/id/15166) sich womöglich direkt oder indirekt auf Rilke beziehen könnte.
Der Vortrag ist von 1907/1908, persönlich begegnet sind die beiden sich aber wohl erst 1911, aber ich habe auch schon gehört, dass Freud sich trotz seiner vagen Formulierung meist auf einen bestimmten Kreis stützt.
Weiß jemand mehr zu diesem Thema? Von Vermutungen zu Korrekturen des mir Gesagten ist alles sehr willkommen :)
stilz
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Re: Freud über Rilke?

Beitrag von stilz »

Hallo Fiedel, und willkommen im Forum!

Leider kenne ich bisher keine Aussagen von Freud über Rilke - aber Rilke hat sich zu seiner Scheu vor einer Psychoanalyse geäußert, in einem Brief an Emil Freiherr von Gebsattel:
Rilke hat geschrieben:Nämlich, ich bin über die ernstesten Erwägungen zu dem Ergebnis gekommen, daß ich mir den Ausweg der Analyse nicht erlauben darf, es sei denn, daß ich wirklich entschlossen wäre, jenseits von ihr, ein neues (möglicherweise unproduktives) Leben zu beginnen.
[…]
so viel, wie ich mich kenne, scheint mir sicher, daß, wenn man mir meine Teufel austriebe, auch meinen Engeln ein kleiner, ein ganz kleiner (sagen wir) Schrecken geschähe, - und - fühlen Sie - gerade darauf darf ich es auf keinen Preis ankommen lassen.
Danke für den link zu Freuds Vortrag!

Herzlich,
stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
helle
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Re: Freud über Rilke?

Beitrag von helle »

Eine Empfehlung zum Thema ist das im 2022 erschienene dreibändige Werk »En face – Texte von Augenzeugen. Erinnerungen an Rainer Maria Rilke«, hg. von Curdin Ebneter und Erich Unglaub, von dem hier im Forum, wie ich glaube, noch nicht die Rede war, obwohl es sich um ein enorm materialreiches, vorzüglich bebildertes und sorgfältig kommentiertes Werk handelt. Neben der »Chronik« von Ingeborg Schnack und dem Rilke-Handbuch sicher ein weiteres, mindestens für alle biographischen Kontexte unverzichtbares Standardwerk. Im Personenregister des dritten Bands gibt es mehrere Verweise auf Freud. Manche sind beiläufig u. lapidar, die meisten stehen natürlich im Kontext von Lou Andreas-Salomé, aber einige sind auch ganz erstaunlich.

Die Bekanntschaft mit Rilke datiert Freud auf [September] 1913, eine weitere Begegnung gab es 1915 in Wien; Freud schreibt 1925, Rilke habe ihn »angerufen, eine Einladung zum Mittagessen angenommen und uns alle durch seine Konversation und seine Erzählungen entzückt. Seither habe ich ihn aber nicht wiedergesehen. Ich habe keinen Grund anzunehmen, daß er sich besonders für Psychoanalyse interessiert oder ihr sympathisch gegenübersteht.« Damit behielt Freud recht. Trotz seines kurzzeitig angedeuteten Wunsches nach einer ›Aussprache‹ (1916) scheint Rilke zu keiner weiteren Begegnung mit dem Arzt gestimmt gewesen zu sein. Näher war er mit Freuds Nichte Lilly Freud-Marlé bekannt, Material dazu findet man im oben erwähnten »En face«.

Die für mich erstaunlichste Äußerung Rilkes zu Freud überliefert Elisabeth Gundolf, damals hieß sie noch Salomon, in einem Aufsatz von 1923, auf den im Forum vor vielen Jahren hingewiesen wurde (viewtopic.php?p=10260&hilit=gundolf#p10260): Danach habe Rilke Freud als »einen der wichtigsten Bahnbrecher aller Jahrhunderte, […] ja als den einzigen Heros unserer eigenen Zeit« bezeichnet. » ›Freud hat den Menschen ihre Unschuld wiedergegeben‹, sagte er und dafür allein schon verdiene er unsere Liebe wie kein zweiter.« Wenn man die gelegentlichen Äußerungen Rilkes zu Fragen der Psychoanalyse und die, soweit mir bekannt, ihr gegenüber stets bekundete Reserve und Relativierung bedenkt, wäre die von Elisabeth Salomon überlieferte Äußerung umso erstaunlicher.

h.
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