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Im Herbst: worauf bezieht sich die zweite Strophe?

Verfasst: 19. Nov 2023, 02:10
von valennad
Liebe Alle

Ich bräuchte nun eilig Eure Hilfe. Es geht darum, dass eine russische Dame von jemandem aus Wien eine Hilfe geholt hat, und zwar betreffend des Rilkes Gedichts "Im Herbst". Da schreibt die Muttersprächlerin:

"Meiner Meinung nach bezieht sich die zweite Strophe eben auf diesen "Laurenziberg", der sich "auf Strahlenkrücken stützt"."

Und damit bin ich gar nicht einverstanden, weil für mich ganz klar ist, dass das "auf Strahlenkrücken stützt" sich auf die Sonne bezieht, die "sucht müd schon frühe ihr Valladolid".

Nun wäre ich froh, wenn Ihr mir in dem Fall Eure Meinungen hier schreibt, dass ich sie in die entsprechende Diskussion übertragen könnte.

Danke im voraus.

...

Im Herbst

Ein Riesenspinngewebe, zieht
Altweibersommer durch die Welt sich;-
und der Laurenziberg gefällt sich
im goldig-bläulichen Habit.

Weil er so mild herübersieht,
sucht müd, gestützt auf Strahlenkrücken,
die Sonne hinter seinem Rücken
schon frühe ihr Valladolid.

Re: Im Herbst: worauf bezieht sich die zweite Strophe?

Verfasst: 19. Nov 2023, 11:59
von valennad
weil es mir in dem Fall wirklich eilig war, habe ich eine Hilfe auch woanders bezogen:

https://www.wer-weiss-was.de/t/im-rilke ... he/9518196

somit ist es vorläufig erledigt

Re: Im Herbst: worauf bezieht sich die zweite Strophe?

Verfasst: 23. Nov 2023, 17:05
von stilz
Hallo valennad,

Du hast natürlich recht, es ist die Sonne, die sich auf Strahlenkrücken stützt, und nicht der Laurenziberg.

Aufgrund der frühen Entstehungszeit würde ich annehmen, daß der Prager Laurenziberg gemeint ist.
Was genau es zu bedeuten hat, daß die Sonne hinter seinem Rücken ihr Valladolid sucht - das ist mir allerdings bisher nicht klar.

Herzlich,
stilz

Re: Im Herbst: worauf bezieht sich die zweite Strophe?

Verfasst: 24. Nov 2023, 02:00
von valennad
Hallo Stilz und – vielen Dank für die Antwort!

Dank allen Diskussionen um dieses Gdicht, die ich in der letzten Zeit verfolgt habe, kann ich mir nun das Bild ziemlich deutlich vorstellen.

Der Berg ist eitel, aber nicht böse. So lässt er die müde gewordene und dadurch behinderte Sonne immer früher hinter sich untergehen, weil die Tage immer kürzer werden und die Sonne immer tiefer geht. Und die Sonne geht nun gen Süd-Westen unter, also gen Valladolid, den sie, bildlich gesagt, dabei sucht.

Gruss,
Valentin

Re: Im Herbst: worauf bezieht sich die zweite Strophe?

Verfasst: 27. Nov 2023, 18:31
von Georg Trakl
Sehr geehrte(r) valennad,
hier zu Ihrer Information der Link zu einer musikalisch umrahmten Rilke-Lesung in der Gemeinde Enns in der Murmürzfurche - bei F. Stelzhamer 1853 das "steyrische Valladolid" (!) genannt - mit Bezugnahme auf einen "Laurenziberg". Dieser wäre also durchaus in räumlicher Nähe zu diesem Event zu verorten. Vielleicht gibt es jedoch noch andere Laurenziberge, die möglicherweise aber ganz anders heißen ... Immerhin bin ich guter Hoffnung, Ihren durchaus bescheidenen Wünschen entsprechend, ein wenig Licht in Ihr Dunkel bezüglich der geografischen Gegebenheiten gebracht zu haben! Ad multus anus!

Herzlich, Ihr G. Trakl jun.

https://youtu.be/stSu7GaPFZw

Re: Im Herbst: worauf bezieht sich die zweite Strophe?

Verfasst: 28. Nov 2023, 16:54
von valennad
Oh ja! Vielen Dank! So spannend wird es plötzlich!

Re: Im Herbst: worauf bezieht sich die zweite Strophe?

Verfasst: 24. Jan 2024, 09:21
von MeinSebastian
Liebe Valennad,

es scheint, als ob die Interpretation des Gedichts "Im Herbst" von Rilke unterschiedliche Perspektiven zulässt. Die Meinung der russischen Dame, dass sich die zweite Strophe auf den "Laurenziberg" bezieht, ist eine mögliche Sichtweise. Sie sieht möglicherweise eine Verbindung zwischen dem beschriebenen Berg und der Metapher "auf Strahlenkrücken stützt". Diese Interpretation könnte darauf hinweisen, dass der Berg auf strahlende Sonnenstrahlen angewiesen ist.

Deine Interpretation, dass sich "auf Strahlenkrücken stützt" auf die Sonne bezieht, die "müde schon früh ihr Valladolid sucht", ist ebenfalls valide. Hier wird die Sonne personifiziert und scheint sich auf ihre Strahlen zu stützen, um weiter zu scheinen.

Es ist wichtig zu bedenken, dass Gedichte oft Raum für unterschiedliche Interpretationen lassen, und die Schönheit liegt oft in der Vielfalt der Deutungen. Vielleicht könnt ihr beide Perspektiven in eurer Diskussion berücksichtigen und gemeinsam herausfinden, wie verschiedene Lesarten zu einem tieferen Verständnis des Gedichts beitragen können.

Ich bin seit diesem Jahr als Freelance Data Analyst und Freelance Research Analyst tätig. Nur als Info. Hier arbeite ich viel Datenbasiert. Auch Power Bi Developer werde ich genannt.

Ich hoffe, das hilft dir weiter. Viel Erfolg bei eurer Diskussion!

Mit freundlichen Grüßen, Sebastian

Re: Im Herbst: worauf bezieht sich die zweite Strophe?

Verfasst: 26. Jan 2024, 11:05
von stilz
Hallo Sebastian, und willkommen im Forum!

Du schreibst:
MeinSebastian hat geschrieben: 24. Jan 2024, 09:21 Es ist wichtig zu bedenken, dass Gedichte oft Raum für unterschiedliche Interpretationen lassen, und die Schönheit liegt oft in der Vielfalt der Deutungen.
Da stimme ich Dir natürlich zu!

In diesem Fall aber läßt die Grammatik nur die Deutung zu, daß die Sonne es ist, die sich auf die Strahlenkrücken stützt.
Die Worte »gestützt auf Strahlenkrücken« erfüllen in diesem Satz die Funktion eines Adverbs (wie »mild« oder »müd«), stehen also bei dem Verbum, auf das sie sich beziehen:

  • Weil er so mild herübersieht,
    sucht müd, gestützt auf Strahlenkrücken,
    die Sonne hinter seinem Rücken
    schon frühe ihr Valladolid.

Wenn es der Laurenziberg wäre, der sich auf Strahlenkrücken stützt, müßte es heißen:
  • Weil er, gestützt auf Strahlenkrücken,
    so mild herübersieht,
    sucht müd die Sonne hinter seinem Rücken
    schon frühe ihr Valladolid.
Der "weitere" Raum, den diese Metapher dennoch öffnet, liegt nicht in der Grammatik, sondern in den Assoziationen, die man beim Lesen zunächst haben könnte. Und die Entdeckung, die man dann bei genauerem Lesen machen kann, nämlich: daß die Grammatik nicht die erste Assoziation zuläßt, sondern ein anderes Bild zeichnet - diese Entdeckung macht noch einmal etwas mit mir als Leser.
Auch solche Entdeckungen zählen für mich zum Reichtum und zur Schönheit eines Gedichts.

Herzlich,
stilz