Hallo stilz,
das von Dir eingefügte »normalerweise« benennt wohl das Problem. Es wird für alle damit verbundenen Fragen hier kaum zureichende Antworten geben und ich beziehe mich angesichts der weitreichenden Fragestellung und des Umfangs des Requiems nur auf die hier angeführten Zeilen.
Deutlich unterscheidet Rilke seine Auffassung vom Tod und seine Art des Umgangs mit Verstorbenen von dem, was man gemeinhin darüber denkt. Natürlich hat er sich schon früh und in vielfacher Hinsicht von den üblichen Auffassungen abgesetzt, in Gedichten wie »Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort«, im »Malte« (»Ist es möglich«) usf., das gehört sich eigentlich auch für einen Autor, nicht nur der Jahrhundertwende, als das Denken Nietzsches noch allgegenwärtig war. Im »Requiem« ist die Distanzierung von landläufigen Vorstellungen gleich zu Beginn zu sehen. Niemand spräche wohl davon, Tote zu »haben«, so wie man Kinder oder Freunde hat, i.d.R. bezieht sich das Verb auf Lebende bzw. würde man im Sprechen über Verstorbene ein ›gekannt‹, ›erfahren‹, ›beklagen müssen‹ oder wie immer als Partizip ergänzen. Diese erste, von Zweifeln nicht angefressene und fast herrische Abgrenzung vom alltäglichen Wahrnehmen und Sprechen schildert mit scheinbarer Selbstverständlichkeit die Erfahrung des Sprechenden in seinem Umgang mit den Toten. Ihnen sind Attribute zugesprochen, die ihnen wie von Natur aus zu gehören scheinen: »gerecht« zu sein, im Totenreich »zuhaus« und andere mehr; so, als wäre ihr Verhalten unabhängig von der persönlichen und subjektiven Zusprechung des Autors. Vielmehr erscheint dessen eigene Sicht als ein Objektives. Von diesem allgemeinen Dasein der Toten (oder besser: seiner Toten) nimmt das Bewußtseins des Gedichts die mit ›du‹ angesprochene Freundin ausdrücklich aus: ihre Ausnahme bestätigt seine Regel. Andere Tote haben seinen Frieden nicht gestört, seine Nachtruhe nicht unterbrochen, sein Gewissen nicht belastet.
Kehrt man zur Ausgangsfrage zurück, scheint der Tod der »Freundin« (daran, daß sie es war, besteht trotz der Krisen und Enttäuschungen dieser Freundschaft kein Zweifel) dem Sprecher des Gedichts nun doch, anders als ›normalerweise‹, ›mitten ins Herz‹ zu gehen. Vielleicht kann man eher noch von ›Gewissen‹ als von ›Herz‹ sprechen. Die Attribute, die der Verstorbenen zugeeignet werden, lassen an eine Lebende denken: Nicht nur, daß sie »umgeht«, wie man allgemein von Geistern sagt, sie handelt willentlich, sie »streift« das Ich des Gedichts, stößt an etwas an, erschrickt, tritt herein oder wird niedergezogen. Auch diese Bewegungen der Unruhe schildert das Gedicht als ein Tatsächliches, eher wie Feststellungen denn als Eindrücke. Die Möglichkeit, daß sie durch Wahrnehmung und Gefühl des Sprechers erst hervorgerufen, zumindest aber verstärkt und schlimmstenfalls eingebildet sein könnten, steht nicht in Betracht. Das Gedicht stellt poetische Behauptungen auf – als solche müssen sie nicht belegt werden, schließlich sind es keine juristischen oder wie immer des Belegs bedürftigen Aussagen, dennoch erscheinen sie axiomatisch (wie vergleichbar Rilkes Rede von den Engeln). Über ihre Gültigkeit, ihre Evidenz, Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit entscheidet allerdings nicht mehr und nicht allein der Dichter, sondern auch und zunehmend sein Publikum.
- Andere Frage: Ob der Name Paula Modersohn Becker von Rilke selbst in Klammern hinzugefügt wurde oder von Herausgebern (mal mit, mal ohne Bindestrich), habe ich nicht herausgefunden. Die »Freundin« würde damit als unverwechselbare historische Person erkennbar. Das spielt auch eine Rolle in der Frage, ob Otto Modersohn im Gedicht angesprochen ist, wie stilz an anderer Stelle bestritten hat:
Den klagt er allerdings ausdrücklich nicht an, weil er nicht mit Modersohn persönlich hadert, sondern mit "dem Mann" im allgemeinen.
Das ist menschlich vornehm, aber in der Sache diskussionswürdig. Otto Modersohn hat mehr für das Werk Paulas getan und ihr Ingenium früher erkannt als jeder andere.
helle