Liebe arme,
mit einiger Verspätung antworte ich Dir endlich:
Es gab also ein Gesetz für sie – und vielleicht ist es dasgleiche für alle Künstler und Dichter – die hiesige Welt zu Kunst verwandeln. Und das geht schlecht mit dem Alltag zusammen.
Dieses "Gesetz" gab es sicherlich für
Rilke. Ob auch für
Paula Modersohn-Becker - das ist für mich noch die Frage.
Die lebendige Paula schrieb am 26. Juli 1900 in ihr Tagebuch:
Paula Becker hat geschrieben:Mir kamen heute beim Malen die Gedanken her und hin und ich will sie aufschreiben für meine Lieben. Ich weiß, ich werde nicht sehr lange leben. Aber ist das denn traurig? Ist ein Fest schöner, weil es länger ist? Und mein Leben ist ein Fest, ein kurzes intensives Fest. Meine Sinneswahrnehmungen werden feiner, als ob ich in den wenigen Jahren, die mir geboten sein werden, alles, alles noch aufnehmen sollte. Mein Geruchsinn ist augenblicklich erstaunlich fein. Fast jeder Atemzug bringt mir eine neue Wahrnehmung von Linden, von reifem Korn, von Heu und Reseden. Und ich sauge alles in mich ein und auf. Und wenn nun die Liebe mir noch blüht, vordem ich scheide, und wenn ich drei gute Bilder gemalt habe, dann will ich gern scheiden mit Blumen in den Händen und im Haar.
Sie schreibt also mehr vom
Aufnehmen als vom "Verwandeln"; und sie spricht
zuerst von der Liebe, die ihr blühen möge,
dann erst von ihren Bildern. Drückt diese Tagebuchstelle nicht aus, daß man zuerst voll und ganz
leben muß, bevor man etwas "verwandeln" kann?
Paula Modersohn-Becker wünschte sich ein Kind - und ich ahne: weniger der "Säfte" wegen, sondern weil sie empfand, daß das zu einem erfüllten Leben (insbesondere einem
Frauenleben?) dazugehört...
- - -
Doch jetzt klag ich an:
den Einen nicht, der dich aus dir zurückzog,
(ich find ihn nicht heraus, er ist wie alle)
doch alle klag ich in ihm an: den Mann.
Du fragst:
arme hat geschrieben:Meint Rilke hier durchaus den Modersohn?
Ja, Modersohn, so verstehe auch ich es. Den klagt er allerdings ausdrücklich
nicht an, weil er nicht mit Modersohn persönlich hadert, sondern mit "dem Mann" im allgemeinen.
Darauf folgen diese Zeilen:
Denn dieses Leiden dauert schon zu lang,
und keiner kanns; es ist zu schwer für uns,
das wirre Leiden von der falschen Liebe,
die, bauend auf Verjährung wie Gewohnheit,
ein Recht sich nennt und wuchert aus dem Unrecht.
Wo ist ein Mann, der Recht hat auf Besitz?
...
Denn das ist Schuld, wenn irgendeines Schuld ist:
die Freiheit eines Lieben nicht vermehren
um alle Freiheit, die man in sich aufbringt.
Wir haben, wo wir lieben, ja nur dies:
einander lassen; denn daß wir uns halten,
das fällt uns leicht und ist nicht erst zu lernen.
Meint Rilke, Otto habe seine Frau Paula, nachdem sie ihn verlassen hatte, um ihre Freiheit gebracht, indem er auf sein "Besitzrecht" pochte?
Die wikipedia weiß es anders:
Am 3. September 1906 teilte Paula Modersohn-Becker ihrem Mann mit, er möge in die Scheidung einwilligen, und sie bat ihn, ihr noch einmal 500 Mark zu geben. Danach wollte sie allein für ihren Lebensunterhalt aufkommen. Wenige Tage später, am 9. September, widerrief sie ihre Entscheidung. Den Meinungswechsel bewirkte maßgeblich Bernhard Hoetger, der ihr in den Tagen dazwischen deutlich machte, wie wenig sie dazu im Stande sein würde, für sich selbst finanziell aufzukommen.
Und jedenfalls schreibt sie am 17. November an Clara Rilke-Westhoff:
Paula Modersohn-Becker hat geschrieben:Ich habe diesen Sommer gemerkt, daß ich nicht die Frau bin alleine zu stehen … Ob ich schneidig handle, darüber kann uns erst die Zukunft aufklären. Die Hauptsache ist: Stille für die Arbeit und die habe ich auf die Dauer an der Seite Otto Modersohns am meisten.
Oder meint Rilke, Paula habe Ottos Kind nicht aus eigenem Wunsch empfangen, sondern nur, weil Otto auf sein "Besitzrecht" pochte?
Auch das scheint mir zweifelhaft. Aus ihren Briefen spricht
Liebe... auch noch, nachdem sie ihn verlassen hatte.
Und ihre Freude über dieses Kind war groß - noch einmal die wikipedia:
Von ihrem Ende wird in einem Familienbrief gesagt:
»Am achtzehnten Tage kommt Kurt herausgeradelt, sein Hu–ih klingt von fern auf der Chaussee und aus der Wochenstube klingt es lustig zurück: Hu–ih! Kurt untersucht noch einmal gründlich und erlaubt: sie darf aufstehen. Die Wärterin hilft ihr schnell in die Kleider, dann schreitet sie, auf Mann und Bruder gestützt, mühelos ins Wohnzimmer. Ein Lehnstuhl ist in die Mitte geschoben, dort thront sie selig, rechts und links die Männer. Das Kindlein hat sich eben noch einmal recht satt getrunken, es ist eine herrliche Überfülle von Nahrung vorhanden. Alle Kerzen an den beiden Kronleuchtern müssen brennen, ›es ist beinah' wie Weihnachten‹ ... ›Ach, wie freue ich mich! wie freue ich mich!‹ Plötzlich werden ihr die Füße schwer, ein paar röchelnde Atemzüge – sie sagt leise: ›Wie schade!‹ Und stirbt ...«
- - -
Sieh diese Rose an auf meinem Schreibtisch;
ist nicht das Licht um sie genau so zaghaft
wie über dir: sie dürfte auch nicht hier sein.
Im Garten draußen, unvermischt mit mir,
hätte sie bleiben müssen oder hingehn, –
nun währt sie so: was ist ihr mein Bewußtsein?
Du fragst:
arme hat geschrieben:Ich verstehe nicht richtig den Inhalt der Verbe hin/gehen und währen. Ist hin/gehen hier dasselbe wie welken im Gegensatz zum Währen. Und ist Bewuβtsein der Bewuβtsein im allgemeinen oder gerade das, was Rilke jetzt von Paula weiβ?
Ja, "hingehn" verstehe auch ich hier als
verwelken, dem natürlichen Lauf der Dinge - besser gesagt: der
Pflanzen - folgend.
Nun aber ist diese Rose abgeschnitten auf Rilkes Schreibtisch --- wo sie eigentlich nicht hingehört.
"Währen" ist
überleben, dauern, fortbestehen, bleiben.
Die Rose wird - falls sie nicht im Wasser steht - vertrocknen, und sie kann als Trockenblume fortbestehen (die Rosen aus meinem Hochzeitsstrauß "währten" noch Jahrzehnte nach der Hochzeit...).
Und so wie die Rose aus ihrer natürlichen Umgebung herausgeschnitten wurde, so sieht Rilke auch die Verstorbene, solange sie sich "in seinem Blick aufhält" in einer Umgebung, in die sie eigentlich nicht gehört...
In der Frage:
Was ist ihr mein Bewußtsein? (Was bedeutet ihr mein Bewußtsein?) beziehe ich "mein" auf Rilke, es ist
sein Bewußtsein; "ihr" beziehe ich auf die
Rose: die Rose weiß nichts von Rilkes Gedanken, Rilkes Bewußtsein kann ihr eigentlich nichts bedeuten... oder doch?
Und Paula?
Kann Rilkes Bewußtsein die verstorbene Freundin wirklich erreichen?
Könnte es nicht auch sein, daß das "Stoßen", das "Bitten", das er empfindet, ihn an ein
eigenes Unerfülltes mahnt?
Das bleibt für mich eine offene Frage.
Ganz herzliche Grüße!
stilz