Liebe arme,
wie schön, daß Du jetzt die "Melodie der Dinge" übersetzt!
Ich versuche mal einige Antworten:
1) Was kann hier ”unbescheidenere Liebe” bedeuten? (Absatz VIII)
In Absatz VII heißt es:
]…] da sich ein Mensch vor dir still und klar abhebt von seiner Herrlichkeit. […] Du liebst diesen Menschen fortan. Das heißt du bist bemüht die Umrisse seiner Persönlichkeit, wie du sie in jener Stunde erkannt hast, nachzuzeichnen mit deinen zärtlichen Händen.
Die hier geschilderte (menschliche) Liebe gilt also jeweils einem Einzelnen, der sich abhebt.
In nächsten Absatz (VIII) wird die
Kunst mit der
Liebe Gottes verglichen, die sich nicht damit
bescheidet,
bei dem Einzelnen stehen [zu] bleiben --- und also insofern
unbescheidener ist als die Liebe eines Menschen zu einem einzelnen anderen Menschen.
4) Und: ”Sie dulden keine Stunde um sich.” (Absatz XX)
Das bezieht sich auf die zuvor geschilderte
gemeinsame Stunde - den mehreren Menschen gemeinsamen
Hintergrund, in dem sich die
Brücken zu einander finden, und ohne den mehrere Menschen, die zusammenkommen,
noch nicht beisammen sein können.
Aber nicht alle Menschen hören die
mächtige Melodie des Hintergrundes - viele sind gewissermaßen so sehr mit Vordergründigem beschäftigt, daß sie
keine Zeit zu haben meinen für diese Melodie,
keine (gemeinsame)
Stunde um sich dulden --- und daher auch die Brücken nicht finden können, die sie mit anderen verbinden würden. Sie haben
den Sinn des Daseins verloren.
Das bringt mich zu Deiner zweiten Frage:
2) Was alles inbegreift hier ”der Sinn”?: ”den Sinn und das Insiegel desselben Fürsten”
In früheren Zeiten mag wohl die Zugehörigkeit zu ein- und demselben Fürstentum einen solchen Hintergrund gebildet haben, ein selbstverständliches Gemeinsames, das Menschen miteinander verband.
(Dafür fällt mir ein lustiges Beispiel ein - Mozarts "Bandelterzett": Ein junges Paar, natürlich Sopran und Tenor, sucht das "Bandel" - da kommt der Baß dazu und fragt, ob er behilflich sein kann. Sie scheuchen den Fremden zunächst fort - aber als er sagt: "Schaut's, i wett, i kann Euch dienen, denn i bin a geborner Wiener", sind sie begeistert: "Unser Landsmann! Ja, dem muß man nichts verhehlen, sondern alles treu erzählen..."
und so kann das Bandel schließlich zu seiner Besitzerin zurückfinden.)
Heutzutage ist das freilich nicht mehr so einfach, und wir müssen den gemeinsamen Hintergrund (für den der "
Sinn und das Insiegel desselben Fürsten" hier als Metapher dienen) jedesmal von neuem suchen...
Soviel für jetzt.
Nur noch eines:
6) Es fehlt hier wohl das Verb: "Je ausdrücklicher ich meine allseitiger Stilisierung…"
Das ist wirklich ein schwieriger Satz:
Je nach ausdrücklicher ich meine allseitiger Stilisierung oder vorsichtiger Andeutung derselben, findet der Chor auf der Szene selbst seinen Raum und wirkt dann auch durch seine wachsame Gegenwart, oder sein[422] Anteil beschränkt sich auf die Stimme, die, breit und unpersönlich, aus dem Brauen der gemeinsamen Stunde steigt.
Ich glaube allerdings nicht, daß ein Verbum fehlt; ein Komma und ein Doppelpunkt würden es für mich schon verständlich machen:
Je nach ausdrücklicher, ich meine: allseitiger Stilisierung oder vorsichtiger Andeutung derselben, findet der Chor auf der Szene selbst seinen Raum[…], oder sein Anteil beschränkt sich auf die Stimme [aus dem Hintergrund].
(Ich beziehe mich auf die im Eingangspost verlinkte Version des Textes --- leider habe ich ihn noch immer nicht in Buchform vor mir. Vielleicht gibt es ja dort erhellende Satzzeichen?)
Fortsetzung folgt - oder vielleicht mag ein anderer Mitleser gern noch mehr zu Deinen Fragen sagen?
Herzlichen Gruß!
stilz