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Imaginärer Lebenslauf

Verfasst: 3. Dez 2016, 10:29
von Kesselbaum
Hallo!
Ich bin neu im Forum und habe gleich eine Bitte: ich möchte Imaginärer Lebenslauf verwenden, um eine junge, ambitionierte Kollegin zu verabschieden. Kennt jemand dazu eine Art Interpretation im weitesten Sinne? Oder würde mir jemand seine Meinung dazu sagen? Ich stolpere etwas über den letzten Teil...
Herzlichen Dank und auch Danke für die Aufnahme!

Re: Imaginärer Lebenslauf

Verfasst: 3. Dez 2016, 21:29
von sedna
Willkommen im Rilke-Forum, Kesselbaum,

mit Dank für Deine Anfrage!
Dazu von meiner Seite zunächst das Gedicht samt einiger Eckdaten zur Entstehung:


Imaginärer Lebenslauf

Erst eine Kindheit, grenzenlos und ohne
Verzicht und Ziel. O unbewußte Lust.
Auf einmal Schrecken, Schranke, Schule, Frohne
und Absturz in Versuchung und Verlust.

Trotz. Der Gebogene wird selber Bieger
und rächt an anderen, daß er erlag.
Geliebt, gefürchtet, Retter, Ringer, Sieger
und Überwinder, Schlag auf Schlag.

Und dann allein im Weiten, Leichten, Kalten.
Doch tief in der errichteten Gestalt
ein Atemholen nach dem Ersten, Alten ...

Da stürzte Gott aus seinem Hinterhalt.



Rilke schrieb es in Luzern, den 15. September 1923 eigens für die Festschrift der "Freien Vereinigung Gleichgesinnter", und schließt den Begleitbrief der Sendung an Forstinspektor Burri mit den Worten:
Es hätte mir leid getan, der "Freien Vereinigung Gleichgesinnter" in Luzern kein Zeichen meiner Erinnerung anzubieten, die immer lebhaft und dankbar geblieben ist.
Lebhaft scheint mir hier passend gewählt; vielleicht vermag es ja weiteren Eindrücken Vorschub zu leisten ...

Viel Freude mit Rilke!

sedna

Re: Imaginärer Lebenslauf

Verfasst: 4. Dez 2016, 16:28
von helle
Mahler sagt mal, die Hörner, die wir uns abstießen, seien manchmal das Beste an uns; so etwas Ähnliches scheint mir hier vorzuliegen. Die frühe, noch unschuldige Lebensphase wird gegenüber Durchsetzungsfähigkeit und Selbstbehauptungswillen späterer Lebensjahre rehabilitiert oder besser ins reche Licht gesetzt. Man kann sich allerdings fragen, warum bei Rilkes weitem Gottesbegriff nur die Unschuld des »Gebogenen« und nicht die Siegesmentalität des »Biegers« göttlichen Beistand hat, da ja beides ein Seiendes ist, und überdies das letztere vielleicht besser zur ambitionierten Kollegin paßt.

So oder so - viel Spaß bei der Abschiedsfeier
wünscht helle

Re: Imaginärer Lebenslauf

Verfasst: 10. Dez 2016, 19:54
von sedna
Hallo zusammen!
Ja, es tönt zunächst ein klarer Wille zum regelkonformen Aufbau: These - Antithese - Synthese ... inhaltlich sehe ich es etwas anders als Du, helle.
Dazu eine Möglichkeit, Gott (über formale Ebenen hinweg) als nicht wertenden Beistand in Erscheinung treten zu lassen: nach dem Ersten, Alten klingt mir hier, allerdings erst rückblickend, irgendwie dramaturgisch zwingend als Stichwort für eben jenen deus ex machina, der allein durch seinen überraschenden Auftritt verhindert, daß aus dem begonnenen Sonett noch ein formstrengeres englisches werden kann. Was nun daraus wird, spielt dann aber keine Rolle mehr. Der Vorhang fällt ... und Hauptsache, am Eigenen weiter gebaut. Eine ziemlich witzige Wendung, wie um nur zu sagen: Dabeisein ist alles, oder As you like it oder ... oder?
Fast möchte ich sagen - bis demnächst in diesem Theater :lol:
Adventsgrüße von
sedna

Re: Imaginärer Lebenslauf

Verfasst: 11. Dez 2016, 06:22
von Kesselbaum
Ganz herzlichen Dank für all eure Mühe und das Teilen eurer Gedanken. Fremde Menschen nehmen sich Zeit um die Fragen anderer Fremder zu beantworten...das ist wirklich wunderbar und gar nicht selbstverständlich!