Dieses Gespräch wollte ich mit vier Fragen impulsieren, und es kam nicht zustande. Heute ist mir im Erwachen klar geworden, woran das liegen könnte: Meine Fragen waren Scheinfragen; wer den Grundtenor meiner Beiträge in diesem Forum kennt, konnte bemerken, dass sich in der Form der Alternativfrage eben doch Behauptungen oder mindestens Schwerpunktsetzungen versteckten – und wer hat schon Neigung, sich auf Fragen einzulassen, die nicht in ehrlicher Erkenntnissuche auftreten, sondern Antworten vorgeben?lilaloufan in einem an dieser Stelle gelöschten Eröffnungsbeitrag hat geschrieben:Am 22. Dezember, drei Tage vor Weihnachten 1923, schickt Rilke von Château de Muzot aus die beiden Bücher: „Duineser Elegien“ und „Sonette an Orpheus“ an Nanny von Escher und schreibt ihr dazu im begleitenden Brief:Ich möchte ein Gespräch beginnen über einige in dieser Passage angesprochene Motive.Rainer Maria Rilke am 22.Ⅻ.1923 hat geschrieben:[E]s liegt im Wesen dieser Gedichte, in ihrer Kondensierung und Verkürzung (…), dass sie mehr angelegt scheinen, mittels der Eingebung des Gleichgerichteten, als mit dem, was man „Verstehen“ nennt, allgemein erfasst zu werden. Zwei innerste Erlebnisse waren für ihre Hervorbringung entscheidend:
- Der im Gemüt mehr und mehr erwachsene Entschluss, das Leben gegen den Tod hin offen zu halten, und, auf der anderen Seite,
Hier wäre, sozusagen, die „Handlung“ dieser Gedichte zu suchen, und ab und zu steht sie, glaub ich, einfach und stark, im Vordergrund.
- das geistige Bedürfnis, die Wandlungen der Liebe in dieses erweiterte Ganze anders einzustellen, als das im engeren Lebenskreislauf (der den Tod einfach als das Andere ausschloss), möglich war.
[Hervorh. l.]
Deshalb habe ich das einsam gebliebene Posting nun gelöscht und anstelle meiner vier Fragen vier Thesen formuliert, die hoffentlich provokant genug sind, entweder zu überzeugen oder sich hier verteidigen zu lassen, wenn ich sie nicht aufgrund eurer erbetenen Antworten einmal mildern oder zurücknehmen will.
- Wer ist Rilkes Orpheus?
- Nicht der bloße Orpheus des griechischen Mythos’.
- Sondern vielmehr die Präfiguration eines nachmythologisch dem aufgeklärten modernen Bewusstsein zugänglichen Gottes!
- Gedichte „mittels der Eingebung des Gleichgerichteten“ erfassen: Das spricht
- nicht etwa bloß von einer Art empathischen Lesens.
- Sondern vielmehr von einer aktiven Öffnung für die gleiche Inspiration, die den Dichter begabte!
- „das Leben gegen den Tod hin offen halten“: Das spricht
- nicht etwa bloß von gelassener Todeserwartung.
- Sondern vielmehr vom: „Wer nicht stirbt, bevor er stirbt, der verdirbt, wenn er stirbt“ des Schlesischen Boten (siehe: »Der Tod ist die uns abgekehrte, von uns unbeschienene Seite des Lebens: Wir müssen versuchen, das größeste Bewusstsein unseres Daseins zu leisten, das in beiden unabgegrenzten Bereichen zu Hause ist, aus beiden unerschöpflich genährt…«)!
- „die Wandlungen der Liebe“: Das spricht
- nicht etwa bloß von den Wandlungen, die das Beziehungsleben erfährt – wie bei Sándor Márai.
- Sondern vielmehr von den Wandlungen, die das Wesen der Liebe an dem Menschen vollzieht, der es als ein solches erahnt!