Liebe sedna,
sedna hat geschrieben:
Liebe stilz, es hat Dringliches mitzuteilen, Bittendes, das sehe ich ebenso und vorallem in den Wiederholungen; der Eindruck eines Gebets stellte sich in dieser Form bei mir allerdings nicht ein.
Unter „Gebet“ verstehe ich ein Gespräch mit „Gott“.
Das ist natürlich in vielen Fällen eine Bitte (Lieber Gott, bitte mach, daß... bitte laß mich...), es kann aber auch eine Beichte sein (Ich bekenne, daß ich...), eine Frage um Rat (Was soll ich tun?) - - - in diesem Gedicht sehe ich es als ein Gespräch mit einer „höheren Instanz“, die einem freundlich zugeneigt ist, der man nicht gleichgültig ist... die gerade so viel „nachfragt“, daß man Klarheit gewinnen kann über das, was einen im Innersten bewegt...
sedna hat geschrieben:Eine Fülle von Satzzeichen fällt auf; "Herr Herr Herr" wiederum wird ohne Punkt und Komma hervorgestoßen, ungehalten? ... Ich finde, es klingt sehr dramatisch!
Für mich klingt das weniger ungehalten als
freudig. Vielleicht sogar
glückselig.
Aber Dein „ungehalten“ macht mir bewußt, daß Rilke bei derartigen Begriffen in Umstülpungen dachte (ich denke an die hängenden Kätzchen der Hasel in der
zehnten Elegie:
Und wir, die an steigendes Glück
denken, empfänden die Rührung,
die uns beinah bestürzt,
wenn ein Glückliches fällt.) - - -
Jedenfalls empfinde ich hier ein „großes“ Gefühl:
Einerseits, weil es jemanden gibt, den Rilke in dieser Weise mit „Herr“ anreden und von dem er erwarten kann, daß er ihm aufmerksam und wohlwollend zuhört.
Andererseits, weil Rilke dieser „höheren Instanz“ auch etwas zu sagen hat: er „sieht“ den Grund, warum er hier auf Erden ist, er weiß, daß er die Voraussetzungen hat, sich an diese Lebensaufgabe zu machen... und er empfindet auch, daß sie niemals vollkommen erfüllt werden kann – aber das nimmt der "furchtbaren Seligkeit" nichts weg:
aber versuchen will ich ihn...
sedna hat geschrieben:Und man liest es so, als wäre (vordergründig) dieses Gedicht als "das Ding" herbeibeschworen. Aber, wie wir es ja allesamt empfinden, die Bedeutung des Dichtens mit darin.
Ja - für mich ist das „Objekt“ dieses Gedichtes etwas viel Größeres als nur dieses eine Gedicht. Deshalb sprach ich von „Lebensaufgabe“. Aber es kann sich auch, etwas kleiner und konkreter, um die Elegien handeln...
Ich denke an diesen Satz aus einem Brief an Ellen Delp (27.10.1915):
Rainer Maria Rilke hat geschrieben:Diese, nicht mehr von Menschen aus, sondern im Engel geschaute Welt, ist vielleicht meine wirkliche Aufgabe, wenigstens kämen in ihr alle meine früheren Versuche zusammen.
Übrigens sehe ich eine Entwicklung während dieser „Anrufung“ – auch deshalb vergleiche ich das Gedicht mit einem
Gespräch, mit einer
allmählichen Verfertigung der Gedanken beim Reden:
Das wiederholte
und mir setzt Rilke zuerst an zweite Stelle und in Klammern, als würde das Äußere in seiner Wahrnehmung zunächst das Innere überstrahlen; in Zeile 8 verschwinden die Klammern, zudem wird das „Innere“ jetzt an die erste Stelle gesetzt. Immer mehr scheint ab nun das Innere das Äußere zu „überwiegen“; ab der Wiederholung in Zeile 14 (
und mir und mir) bedeutet „innen“ und „außen“ nicht nur: dies- bzw jenseits der eigenen Haut, sondern es geht um das, was ich
kenne, im Gegensatz zu dem, was ich
nicht kenne, was
ungenau bleibt:
aus vielen Ungenaun und immer mir,
aus nichts als mir und dem, was ich nicht kenn,
das Ding zu machen, Herr Herr Herr, ...
Das dreimalige Herr deutet für mein Empfinden auf die Größe der Aufgabe hin – und auf ihre Schwere.
(Man könnte nun auch noch nach dem Unterschied fragen zwischen einem solchen Gespräch mit dem „Herrn“ und dem Gespräch Kleists mit seiner Schwester, oder Moliéres mit seiner Magd...)
sedna hat geschrieben:Wie würdest Du den letzten Vers betonen?
zusammennimmt: nichts wiegend als die Ankunft.
Das wäre mein Favorit: schmutz
Ja - so betone auch ich es. Mit Pause für den Doppelpunkt.
Und gerade hier berührt mich der Inhalt sehr: daß das zu der
großen Arbeit dazugehört: das Ding, das Rilke schließlich machen will, wird sich unterscheiden vom bloßen Ausdruck seines Erlebens. Diesem Ding soll nichts „Schweres“ mehr anhaften, es wird nicht die ganze Mühsal des Weges (von dem die beiden folgenden Gedichte sprechen) mit sich tragen (und den Leser damit womöglich erschlagen), sondern es wird zeigen,
wie glücklich ein Ding sein kann, wie schuldlos und unser,
wie selbst das klagende Leid rein zur Gestalt sich entschließt,
dient als ein Ding, oder stirbt in ein Ding ---
eben:
nichts wiegend als die Ankunft.
Herzlich,
stilz