Liebe Gwendolina,
etwas verspätet auch von mir ein herzliches Willkommen hier im Forum!
Ich habe Euer Gespräch zu Rilkes Gedicht »An die Musik« schon vor längerer Zeit gelesen, komme aber erst jetzt dazu, meine Gedanken dazu zu formulieren.
Ich teile ja Deine Skepsis in Bezug auf Analysen poetischer Texte von Literaturwissenschaftlern – nur allzuoft wird da etwas auseinandergenommen, und beim Zusammensetzen muß man leider erkennen, daß das Wichtigste dabei verlorengegangen ist (wie sagt Mephisto so schön:
»Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben, /Sucht erst den Geist heraus zu treiben, /Dann hat er die Teile in seiner Hand, /Fehlt leider! nur das geistige Band.«…)
Ich denke dann immer mit Vergnügen an Christian Morgenstern, der seinen „Galgenliedern“ gleich die passende literaturwissenschaftliche Betrachtung des Herrn »Jeremias Müller, Lic. Dr.« voranstellte (
Versuch einer Einleitung).
Aber nun beschäftigt mich etwas:
Im Gegensatz zu Otto Betz, dem Rilke in diesem Gedicht auf einen
»Weg in unvertraute Bereiche« zu deuten scheint,
»die von uns (noch) nicht bewohnbar sind«, siehst Du darin eine
»kristallklare Lobpreisung an der Menschen höchstes Gut, was das Auditive betrifft - mit direktem Zugang zu Hirn, Bauch und Herz - bewohnbar.«.
Allerdings: im Gegensatz sowohl zu Otto Betz als auch zu Dir spricht Rilke von
»nicht mehr bewohnbar«…
Auch ich kenne dieses Gedicht seit langem.
Obendrein bin ich Sängerin - und gerade dieses »nicht mehr Bewohnbare« der
»anderen Seite der Luft« bedeutet mir sehr viel.
Wir sind es ja heute gewohnt, mit Musik so umzugehen, als wäre sie ein Gegenstand, über den wir nach Gutdünken verfügen könnten.
Das ist aber eine Täuschung.
Schon wenn ein Komponist seine Inspiration in aufschreibbare Zeichen faßt und damit gewissermaßen „tötet“, um anderen zu ermöglichen, sie wieder zum Leben zu erwecken, wird sie zu etwas anderem – die Verantwortung dafür, sie „in die Welt zu bringen“, liegt nun nicht mehr bei ihm allein, sondern er vertraut sie „reproduzierenden Künstlern“ an. So wird sie zwar aufführbar, interpretierbar, aber damit auch verfälschbar, im schlechtesten Fall sogar vollkommen mißverstehbar...
Und wenn ein Musiker ein Musikstück zum Erklingen bringt, so beginnt es noch im selben Augenblick zu
verklingen, unwiederbringlich – das „Festhalten“ auf diversen Tonträgern hat Rilke zwar
fasziniert, aber Musik läßt sich auch heute noch niemals wirklich vollständig festhalten (jeder, der einmal ein Konzert live miterlebt und sich danach den Mitschnitt angehört hat, wird das wohl bestätigen).
Wenn Musik, die einmal,
uns übersteigend, hinausgedrängt hat, für uns dennoch
bewohnbar bliebe – wozu dann ein
heiliger Abschied?
- - -
Was mich an diesem Gedicht besonders berührt, ist die Wendung, nach der Du gefragt hast:
_________Du Zeit,
die senkrecht steht auf der Richtung
_______________vergehender Herzen.
Und ich war fast ein wenig erschrocken, als ich las, daß auch die Version mit „Lichtung“ kursiert… und dann wieder beruhigt, als sich diese Version als Fehler herausgestellt hatte.
Natürlich begreife ich, warum Du,
camillo, findest, »auf der Lichtung vergehender Herzen« sei schön.
Ja.
Die Lichtung vergehender Herzen, auf der Musik „steht“, oder vielleicht sogar auch
wächst… ein wunderschönes Bild.
Aber es ist nunmal nicht
Rilkes Bild.
Sondern Musik ist für ihn
Zeit, die nicht (wie unsere übliche Zeit, mit der zu „rechnen“ wir gewohnt sind) dieselbe Richtung nimmt wie unsere „vergehenden Herzen“, sondern die zu dieser Richtung
senkrecht steht.
Ich wäre niemals auf den Gedanken gekommen, es so auszudrücken - aber dieses Bild sagt mir etwas, für das ich tatsächlich keine anderen Worte finde.
Um auf Dein, Gwendolina, Cusanus-Zitat
hier zurückzukommen: ich weiß es wohl nicht so, wie es
wißbar ist. Aber tief in meinem Herzen
weiß ich es. Und ich empfinde eine tiefe Freude darüber, daß auch Rilke es wußte.
Herzlichen Gruß,
stilz