Vor bald zwölf Jahren führte mich eine Konzertreise nach China.
Ich hatte zwar nicht viel Zeit, mich darauf vorzubereiten – aber ich besorgte mir einen Reiseführer und natürlich auch einen Sprachführer (ich übte die schwierige Aussprache mit den unterschiedlichen „Tönen“ der verschiedenen Silben, bis eine chinesische Bekannte halbwegs zufrieden war)... denn ich hoffte, nicht nur einen Eindruck vom Land zu bekommen, sondern auch mit den dort lebenden Menschen ein wenig in Kontakt zu kommen.
Es war sehr sehr schwierig. Unsere Kulturen schienen mir so weit entfernt voneinander zu sein - schon bei dem Versuch einer Verständigung über die allereinfachsten Dinge ergaben sich fundamentale Mißverständnisse, nicht nur in wenig „touristischen“ Gegenden... ich mußte mich einstweilen damit begnügen, an den verschiedenen Führungen teilzunehmen, und nahm mir für „irgendwann später einmal“ vor, mich intensiver mit der chinesischen Kultur zu beschäftigen, um dann vielleicht einen leichteren Zugang zu den Menschen dort zu finden.
Nun, wie es oft geht im Leben: mein Plan harrt bis heute seiner Ausführung...
Stattdessen stieß ich eines Tages hier im Forum auf
diese Sätze :
Dasha hat geschrieben:Grüß euch alle ganz lieb!
Schließlich habe ich Mut zu lesen Rilkes Elegien. Es sind fünf Jahre vergangen, seit ich begann, Deutsch zu lernen. Aber es tut mir leid, daß nun ich auch nicht verstehen manche Satze kann. Also suche ich Ihre Hilfe.
Für Ihre Mühe danke ich im Voraus.
Ich wagte es damals nicht, an diesem Gespräch teilzunehmen – denn ich war noch sehr Rilke-unerfahren, und Dichtungen wie die Duineser Elegien waren für mich ein Buch vielleicht nicht mehr mit sieben, aber doch noch mit einigen Siegeln.
Und wie staunte ich, daß ein Chinese, der erst seit wenigen Jahren Deutsch lernte, Rilkes Elegien nicht nur las, sondern solche Fragen dazu stellte!
Beim
nächsten Mal, einige Jahre später, „begegneten“ wir einander: ich versuchte einige Antworten und war dann sehr berührt (und etwas beschämt) davon, daß Dasha sich nicht nur für meine Antworten, sondern zuallererst für meine
Warmherzigkeit bedankte.
Dasha war schon sehr viel länger als ich Teilnehmer unseres Forums – und nicht nur als Fragender: sein
letzter Eintrag war eine
Antwort, in Gestalt seiner Übersetzung eines Rilke-Gedichtes ins Chinesische.
Und vor kurzem erst las ich seine
ausführlichen Antworten auf die Frage einer Teilnehmerin zu Rilkes Gedicht
Der Berg. Darin stehen die bemerkenswerten Sätze:
»Wollen Sie die Ostasiens Kunst (einschl. Japanische Kunst) begreifen, mussen Sie die Chinesische Philosophie und die Bücher über Maltechniken lernen.«
und:
»Man muss zuerst nach Frankreich gehen, um Japonismus zu untersuchen.«
Der Eindruck, den ich gleich zu Beginn unserer virtuellen Bekanntschaft von Dasha hatte (und der sich im Laufe der Jahre noch vertiefte), war der eines Menschen von ausgesuchter Höflichkeit und Freundlichkeit, aber nicht etwa in einem förmlichen, äußerlichen Sinne –
Herzenstakt ist wohl das richtige Wort dafür.
Dazu kam ein profundes Wissen, eine schier unglaubliche Belesenheit, die weit über meine eigene hinausging – und sogar unsere gliwi (deren Tod Dasha mit einem
Requiem aus China würdigte)
bedankte sich einmal bei ihm für ein Celan-Gedicht, das ihr bisher unbekannt war.
Dasha war ein sehr aufmerksamer Leser. Seine Fragen zeugten von tiefstem Verständnis und brachten mir, die Deutsch als Muttersprache hat, immer wieder Dinge zum Bewußtsein, die ich zuvor „überlesen“ hatte – ich verdanke seinen Anregungen sehr viel für meinen eigenen Weg zu Rilke.
Bei alledem atmete alles, was Dasha schrieb, eine große
Bescheidenheit.
Wie oft dachte ich an Sokrates und seinen berühmten (aber mit „Ich weiß, daß ich nichts weiß“ etwas falsch übersetzten) Satz: „Es ist mir bewußt, wenn ich etwas nicht weiß.“ – In diesem Sinne bleibt Dasha für mich einer der weisesten Menschen, denen ich jemals begegnet bin.
Am Schluß meines Gedenkens mögen zwei seiner Sätze stehen, die mich seither begleiten – Dasha hatte darauf
aufmerksam gemacht, daß buddhistische Texte für Chinesen natürlich Übertragungen aus einer ihnen fremden Sprache sind, und sagte dann:
»Ein Jahrtausend streiten wir miteinander über sie. Aber ich glaube, daß die menschliche Herzen im gleichen Takt schlagen.«
Lieber Dasha, auch mir ist das zur Gewißheit geworden. Darin waren und sind Sie mein Lehrer.
Danke, daß Sie aus China in unser Forum gekommen sind, um uns zu lehren, unsere eigenen Dichter noch tiefer zu begreifen...
Ihre Worte werden mir kostbar bleiben.
In Liebe und Dankbarkeit
Ingrid