Liebe(r) intensity,
bis Mittwoch, sagst Du – nun, da bin ich natürlich etwas spät dran.
Dennoch will ich versuchen, einige meiner Gedanken und Empfindungen zu diesem Gedicht formulieren – vielleicht fängst Du ja noch etwas damit an.
intensity- hat geschrieben:
stimmt es, dass das Gedicht aussagt, dass um vom niederen Sein zu einer höheren Ebene zu gelangen, den tod in kauf nehmen muss und man sich deshalb schon während des lebens auf den "abschied" vorbereiten soll?
Also, so würde ich es nicht ausdrücken.
Auch ich sehe den Tod als das Ereignis, das sozusagen die Grenze zwischen den beiden „Reichen“ bildet, von denen Rilke spricht.
Aber schon Deine Ausdrücke „niederes Sein“ und „höhere Ebene“ finde ich problematisch - Rilke spricht vom »reinen Bezug« einerseits und vom »Reich der Neige, unter Schwindenden« andererseits. Und wenn man bedenkt, wie sehr er in vielen anderen Gedichten das »Hiersein«
preist (ich denke an
»Hiersein ist herrlich« aus der Siebenten Elegie; oder an »Meide den Irrtum, daß es Entbehrungen gebe
für den geschehnen Entschluß, diesen: zu sein!« aus einem anderen Orpheus-Sonett; und natürlich an
»Ich rühme.«) --- das will mir nicht recht zu einem „niederem Sein“ passen, das man doch irgendwie mit etwas „Minderwertigem" verbindet, das es zu „überwinden“ gilt. Und davon finde ich bei Rilke nichts.
Den letzten drei Zeilen:
- Zu dem gebrauchten sowohl, wie zum dumpfen und stummen
Vorrat der vollen Natur, den unsäglichen Summen,
zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl.
versuche ich mich so anzunähern:
Die
volle Natur enthält einerseits all das, was »schon gebraucht« ist, also: fertig ausgestaltet, physisch oder in Gestalt von Naturgesetzen vorhanden, oder doch
einmal gewesen - und andererseits den »Vorrat«, den
Keim zu alledem, das sich erst
in Zukunft gestalten wird, und der bis dahin noch »dumpf und stumm« ist.
Und wer sich „jubelnd dazuzählt“ – der scheint mir nicht ein bloß passives „Objekt der Schöpfung“ zu sein; sondern er ist sozusagen
aktiver Mit-Erschaffer...
Natürlich ist es schwierig, wenn nicht unmöglich, bei einem solchen Gedicht die „Aussage“ zu formulieren. Man könnte am ehesten in der dritten Strophe eine Art „Zusammenfassung“ sehen:
- Sei - und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
Und in der nächsten Zeile findet sich nun auch ein „Ziel“, allerdings geht es nicht darum, „zu einer höheren Ebene zu gelangen“, sondern Rilke sagt:
- daß du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.
Heißt das nicht: die Zeit dieses Erdendaseins nicht nur gewissermaßen passiv verstreichen zu lassen, sondern sie aktiv „völlig zu vollziehen“, zu
erfüllen?
Das gelingt wohl am besten, wenn man das „Ganze“ sieht, wenn man den Tod und die »Bedingung des Nicht-Seins« (den »unendlichen
Grund deiner innigen Schwingung«!) nicht „draußen“ läßt, sondern mit hereinnimmt in dieses einmalige, herrliche, kostbare Leben...
Für mich geht es in diesem Gedicht also um ein freudiges Bejahen nicht nur des „Hierseins“, sondern auch der
Todes-Erfahrung, schon hier und jetzt, mitten im Leben.
Und ich denke dabei auch an den Brief, den Wolfgang Amadeus Mozart an seinen damals schon todkranken Vater Leopold schrieb, am 4. April 1787:
»…da der Tod /: genau zu nemmen :/ der wahre Endzweck unsers lebens ist, so habe ich mich seit ein Paar Jahren mit diesem wahren, besten freunde des Menschen so bekannt gemacht, daß sein Bild nicht allein nichts schreckendes mehr für mich hat, sondern recht viel beruhigendes und tröstendes! und ich danke meinem gott, daß er mir das glück gegönnt hat mir die gelegenheit /: sie verstehen mich :/ zu verschaffen, ihn als den schlüssel zu unserer wahren Glückseeligkeit kennen zu lernen. - ich lege mich nie zu bette ohne zu bedenken, daß ich vielleicht /: so Jung als ich bin :/ den andern Tag nicht mehr seyn werde - und es wird doch kein Mensch von allen die mich kennen sagn können daß ich im Umgange mürrisch oder traurig wäre - und für diese glückseeligkeit danke ich alle Tage meinem Schöpfer und wünsche sie von Herzen Jedem meiner Mitmenschen.«
Nun würde mich interessieren, was Du zu meinen Gedanken meinst...
Herzlichen Gruß,
stilz