"Unordnung" von Rilke?

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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kaskade
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"Unordnung" von Rilke?

Beitrag von kaskade »

Hallo,

in meiner Tageszeitung fand ich neulich folgenden Text:


UNORDNUNG

Rainer Maria Rilke

Man ordnet und fügt die Worte
auf sehr verschiedene Weise,
doch wie könnte es je gelingen,
mit ihnen der Rose zu gleichen?

Wenn wir den sonderbaren
Anspruch des Spiel (sic) ertragen,
dann nur, weil ein Engel manchmal
für eine leichte Unordnung sorgt.


Ich konnte mich an diesen Rilke-Text nicht erinnern und habe im Internet nachgeforscht - ergebnislos. Auch die mehrmalige Nachfrage bei der Zeitung (NRZ) brachte nichts ein, denn es kam keine Reaktion.
Ist das Gedicht (mit dem vermutlichen Druckfehler) wirklich von Rilke? Wer weiß Näheres dazu?

Vielen Dank, kaskade
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lilaloufan
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Re: "Unordnung" von Rilke?

Beitrag von lilaloufan »

Willkommen kaskade.

Das Gedicht (Vergers, 53 – Werke Bd. II, p. 551) ist im Juli 1924 in Bad Ragaz entstanden:
  • On arrange et on compose
    les mots de tant de façons,
    mais comment arriverait-on
    à égaler une rose?

    Si on supporte l'étrange
    prétention de ce jeu,
    c'est que, parfois, un ange
    le dérange un peu.
Im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft von 1997, p. 526 [im Aufsatz: »Der späte Rilke als französischer Dichter«], hat der Schweizer Literaturwissenschaftler Bernhard Böschenstein seine Übertragung dieses Gedichts ins Deutsche veröffentlicht; sie lautet:
  • Wir wenden und verbinden
    die Wörter, wir erfinden
    sie neu, doch wie erreichen,
    dass sie der Rose gleichen?

    Doch wenn man die Befremdung
    in diesem Anspruch liebt,
    ists weil mit einer Wendung
    das Spiel ein Engel trübt.
Dass die in der NRZ verwendete Überschrift „Unordnung“ völlig danebenhaut, ist ja ganz offenkundig.

lilaloufan
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
kaskade
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Re: "Unordnung" von Rilke?

Beitrag von kaskade »

Danke für die Hilfe beim Suchen und für die Information!
Wer weiß, woher die NRZ diesen Text hat. Es sieht aus, als habe man eine x-beliebige Übersetzung benutzt. Die Redaktionen des WAZ-Konzerns (es gibt in weiten Teilen des Ruhrgebietes keine alternative Lokalpresse :( ) nehmen es oft nicht so genau.
Ich habe die Redaktion um die Quelle gebeten, das gestaltet sich wohl schwierig.
Sollte sich das Rätsel lösen, werde ich es hier posten.

Gruß, kaskade
helle
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Re: "Unordnung" von Rilke?

Beitrag von helle »

Mein bescheidener Senf zum Thema:

Wir ordnen und fügen
die Wörter in vielfachen
Formen - wie wär's nur zu machen,
daß sie der Rose genügen?

Wenn uns dieses Spiels ferne
Regel zu akzeptieren gelingt,
dann weil ein Engel sie gerne
mal leicht durcheinanderbringt.

(es ist loser Senf, keiner im Glas)
Gruß, h.
stilz
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Re: "Unordnung" von Rilke?

Beitrag von stilz »

:-) Lieber helle, Dein Versuch hat mich angeregt, nun auch noch meinen Senf dazuzugeben und einen eigenen Versuch zu wagen:
  • Wir ordnen die Worte mit viel Geschick,
    wir fügen sie fest oder lose,
    doch lehrt uns schon ein einziger Blick,
    wie unerreichbar die Rose.

    Ertragen wir dann die Mängel,
    vom Dünkel des Spieles entzückt,
    so nur, weil – vielleicht – ein Engel
    sie uns ein wenig verrückt.
Aber wie ich es auch wende - Rilke ist mir ähnlich unerreichbar wie ihm die Rose...
Sich dem „Rilke-Ton“ anzunähern, das ist wohl Bernhard Böschenstein besser gelungen als mir (allerdings muß ich sagen, daß ich bei dem Reim „façons / arriverait-on“ auch nicht sofort an Rilke denken würde...)

Wie dem auch sei: wie gut, daß es diesen ein bisserl unordentlichen Engel gibt (auch wenn er für Böschenstein „eine Erfindung“ ist) - :D

Herzlichen Gruß,
stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
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lilaloufan
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Re: "Unordnung" von Rilke?

Beitrag von lilaloufan »

stilz hat geschrieben:
Wie dem auch sei: wie gut, daß es diesen ein bisserl unordentlichen Engel gibt (auch wenn er für Böschenstein „eine Erfindung“ ist) - :D
Ach? ― Liebe Ingrid, beziehst Du das auf: „Wir erfinden sie [die Wörter] neu“? Ich würde daraus nicht schließen, dass für Bernhard Böschenstein der Engel „nur ein Wort“ sei. – (Aber freilich hab' ich Deinen Smiley nicht übersehen… :wink: )

Erstaunt hat mich, dass Rilke hier vom » jouer « schreibt und nicht, wie sonst, vom » toujours travailler «. Wird vielleicht erst durch den Anspruch des Engels das Spiel zur „großen Arbeit“?

Grüßle,
l.

{ (ergänzt:) P.S.: Das Verb: » supporter « heißt hier wohl nicht (resignatives) Er-tragen im Sinne von Erdulden, sondern etwas Ähnliches wie „Überstehn“ – eine Steigerung.}
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lilaloufan
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Re: "Unordnung" von Rilke?

Beitrag von lilaloufan »

lilaloufan hat geschrieben:Wird vielleicht erst durch den Anspruch des Engels das Spiel zur „großen Arbeit“?
Das will ich erläutern: In meiner Lesart bezieht sich: » déranger « auf: » la prétention «.

Also, nur wenn ein Engel die Hürde dieses Anspruchs, den wir immer an uns selbst richten, unversehens ein wenig so zurückstuft, dass es der Springrichter gar nicht bemerkte, sind unsere schöpferischen Kräfte wirklich frei; ohne dies wäre der dichterische Parcours nicht zu bewältigen. Nicht gestört wird das „Spiel“, sondern ermöglicht.

Christoph
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Re: "Unordnung" von Rilke?

Beitrag von stilz »

lilaloufan hat geschrieben:
stilz hat geschrieben:Wie dem auch sei: wie gut, daß es diesen ein bisserl unordentlichen Engel gibt (auch wenn er für Böschenstein „eine Erfindung“ ist) - :D
Ach? ― Liebe Ingrid, beziehst Du das auf: „Wir erfinden sie [die Wörter] neu“? Ich würde daraus nicht schließen, dass für Bernhard Böschenstein der Engel „nur ein Wort“ sei.

Lieber Christoph,

nein, ich habe mich auf die Parenthese im folgenden Zitat bezogen (aus demselben Jahrbuch-Artikel, in dem auch seine deutsche Umdichtung steht), da sagt er es ganz ausdrücklich:
Bernhard Böschenstein hat geschrieben:Der Dichter anerkennt seine heuristische Seite, zugleich erschrickt er vor ihr und läßt den ihn umstimmenden Engel intervenieren – auch er eine Erfindung – und die Rose als Utopie einer uneinlösbaren dichterischen Erfüllung, die mit Worten das Unaussprechliche einzufangen versucht. Die Verbindung von artistischer Erfindung und mystischer Entgrenzung findet hier eine sehr knappe programmatische Bekundung.
Und:
lilaloufan hat geschrieben:Das will ich erläutern: In meiner Lesart bezieht sich: » déranger « auf: » la prétention «.
Ah. Das hätte ich tatsächlich nicht so gelesen.
Meine Französischkenntnisse sind leider sehr unzulänglich ... ich gestehe: ich hatte dieses „Derangieren“ instinktiv, ohne viel darüber nachzudenken, auf die von uns schließlich, vermeintlich, erreichte „Ordnung“ bezogen.
Ich sehe nun, daß sich das wohl nicht halten läßt.
Allerdings: wenn es doch » la prétention « heißt – müßte es da nicht, wenn sich das Verb dárauf beziehen sollte, » la dérange « heißen statt, wie bei Rilke, » le dérange « ?
Aus diesem männlichen Artikel schließe ich nun, daß das Durcheinanderbringen sich auf das Spiel bezieht.

Und daher ändere ich gleich das Pronomen in meiner Übersetzung...
und stimme damit im Grunde sowohl helles Übersetzung zu (mir gefällt hier insgesamt der leichte, spielerische Tonfall, und besonders das mehrdeutige „gerne“, das in mir eine ganze Kette von Gedanken auslöst :) ):
helle hat geschrieben:Wenn uns dieses Spiels ferne
Regel zu akzeptieren gelingt,
dann weil ein Engel sie gerne
mal leicht durcheinanderbringt.
zu als auch Deinem:
lilaloufan hat geschrieben:Nicht gestört wird das „Spiel“, sondern ermöglicht.
Herzlichen Gruß,
Ingrid

P.S.: Ach nein, ich lasse mein ursprünglich weiblich gemeintes Pronomen in der letzten Zeile so stehen. :lol: Dieser Engel hat es so eingerichtet, daß es in meinem Gedicht ja schließlich als Plural gelesen werden kann und sich so auf „Mängel“ bezieht – und das finde ich, wenn auch keineswegs wörtlich übersetzt, so doch insgesamt stimmig.

» supporter « lese ich übrigens sowohl als »ertragen« als auch (hier mag meine Affinität zum Englischen mitsprechen :wink: ) als »(gerne) unterstützen«; und finde hier jetzt tatsächlich die Übersetzung »Fan« für das substantivisch gebrauchte Wort...
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lilaloufan
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Re: "Unordnung" von Rilke?

Beitrag von lilaloufan »

stilz hat geschrieben:…Wenn es doch » la prétention « heißt – müßte es da nicht, wenn sich das Verb dárauf beziehen sollte, » la dérange « heißen statt, wie bei Rilke, » le dérange « ?
Aus diesem männlichen Artikel schließe ich nun, daß das Durcheinanderbringen sich auf das Spiel bezieht.
Oh ja, das hab' ich übersehen, Du hast ganz Recht. Je suis désolé, mein bisschen Französisch hab' ich beim Trampen aufgenommen Ende der Sechziger Jahre.

Christoph
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Re: "Unordnung" von Rilke?

Beitrag von kaskade »

Hallo,

ich habe jetzt Antwort von der NRZ erhalten und zitiere daraus:

"Sie haben Recht gehabt mit Ihrer Skepsis, die von Ihnen bemängelte Rilke-Gedichtzeile heißt im Original: Wenn wir den sonderbaren / Anspruch des Spieles ertragen. Es ist ein Text aus dem französisch-deutschen Band "Vergers/Obstgärten" der im ars vivendi Verlag erschienen ist. Es handelt sich um ein unbekannteres Werk Rilkes, das erstmals in seinem Todesjahr erschienen ist. Das Original ist Französisch, die Übersetzung spürbar neu. Sie stammt von der Lyrikerin Yvonne Goetzfried. "

Mein Schul-Französisch reicht leider nicht aus, um die Übersetzung bewerten zu können. Immerhin – Dank der Einträge hier und der Reaktion der NRZ weiß ich jetzt wenigstens mehr.

Gruß, kaskade
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Re: "Unordnung" von Rilke?

Beitrag von lilaloufan »

Danke fürs Weitergeben der lange säumigen NRZ-Antwort.
stilz in [url=http://rilke.de/phpBB3/viewtopic.php?p=10472#p10472]Posting 10472[/url] hat geschrieben:Bei amazon lese ich: "Die Übersetzung aus dem Französischen von Yvonne Goetzfried ist dem lyrischen Ton und dem Rhythmus ebenso verpflichtet wie der Genauigkeit und der Bedeutungsvielfalt von Rilkes Sprache." ---

Naja. Also, zumindest bei diesem Gedicht wurde diese "Verpflichtung" meiner Meinung nach halt nicht besonders gut erfüllt. Aber es ist auch sehr schwierig, und bei manchen Gedichten wohl eine Unmöglichkeit, Rilke wirklich "befriedigend" zu übersetzen...
Das gilt wohl auch hier.

Ob die völlig deplatzierte Überschrift: „Unordnung“ wohl auch bei Yvonne Goetzfried (*1946, †2006) [❉] in dem ars vivendi-Bändchen steht? Oder ist dieser Unfug in der Zeitung hinzugekommen?

l.

❉: „Yvonne Gloetzel“ steht in der Verlagsinfo neuerdings zu lesen. Früher stand da „Yvonne Goetzfried“, aber es ist dieselbe Auflage. Sonderbar! – Ergänzt am 4. Juni 2012: Und bei den »Quatrains Valaisans« verwendet der Verlag auf ein- und derselben Katalogseite beide Namen (OT: „Yvonne Goetzfrieds lyrische Übertragungen sind behutsame Annäherungen an Rilkes Sprache. Die zweisprachige Ausgabe lässt den deutschen Leser eine neue dichterische Welt entdecken.“).
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Re: "Unordnung" von Rilke?

Beitrag von lilaloufan »

ad ❉:

Der Verlag hat mir sofort freundlich geantwortet:
  • „In unserem Gedichtband »Vergers – Obstgärten« erscheinen die Gedichte ohne Überschriften.
    Ansonsten ist die Übersetzung wie in der Zeitung wiedergegeben.

    Frau Yvonne Gloetzel verwendete für ihre Übersetzungen ihren Mädchennamen Goetzfried.

    Vielen Dank auch für Ihren Hinweis, wir werden das umgehend auf unserer Seite angleichen.

    Bei weiteren Fragen können Sie sich jederzeit an uns wenden.“
l.
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