Re: Dichtung und Philosophie
Verfasst: 25. Okt 2012, 13:15
Lieber Vito,
ich freu mich sehr, daß Du mit Rilkes Samskola-Aufsatz etwas anfängst.
Es ist laaaange her – aber ich habe mich nun doch entschlossen, noch etwas mehr zu alledem zu sagen.
Worum es mir geht mit meinem Beharren auf dem Unterschied von „Korrigieren“ und „Verwandeln“, das ist:
Ich bin überzeugt davon, daß jeder Mensch, jedes Kind, von Anfang an „richtig“ ist, genau so, wie er ist. Niemand muß „korrigiert“ werden, um so zu sein wie alle anderen und damit besser in die Gesellschaft zu passen; und selbst wenn er ein „Zwerg“ sein sollte, müßte er nicht „gestreckt“ werden.
Denn es liegt etwas zutiefst „Richtiges“ darin, daß die Menschen unterschiedlich sind: Jeder einzelne Mensch hat schließlich etwas anderes „zu tun“ in diesem seinem Leben...
Und das ist der Grund dafür, warum ich Rilke aus ganzem Herzen zustimme, wenn er sagt (Hervorhebung von mir):
»Es scheint mir nichts als Unordnung zu stiften, wenn die allgemeine Bemühung (übrigens eine Täuschung!) sich anmaßen sollte, die Bedrängnisse schematisch zu erleichtern oder aufzuheben, was die Freiheit des Anderen viel stärker beeinträchtigt, als die Noth selber es tut, die mit unbeschreiblichen Anpassungen und beinahe zärtlich, dem, der sich ihr anvertraut, Anweisungen ertheilt, wie ihr - wenn nicht nach außen, so nach innen - zu entgehen wäre.«
Ja.
Wenn wir unser gesamtes „System“ so ändern wollten, daß alle Menschen dieselben „Nöthe“ hätten (denn ich glaube nicht, daß es auch nur einen einzigen Menschen gibt auf dieser Welt, in dessen Leben es keine „Noth“ gibt; selbstverständlich ist sie nicht immer materiell...) --- dann würde der ganzen Menschheit sehr sehr viel verlorengehen.
Das heißt nicht, daß ich meine, unser System sei gut so, wie es ist, und wir könnten daher die Hände in den Schoß legen und es so lassen.
Selbstverständlich müssen wir es verändern (da fühle ich mich einig mit Rilke: »Wolle die Wandlung«, sagt er, und »Du mußt dein Leben ändern«...).
Schon gar nicht meine ich, daß wir etwa nicht helfen sollen, dort wo es nottut.
Auch lilaloufan spricht ja weiter oben von „fraternité“, Brüderlichkeit... und selbstverständlich helfe ich meinem Bruder, wenn ich bemerke, daß er in Not ist! Aber eben nicht schematisch, sondern konkret und individuell und, wenn es irgend möglich ist, im Sinne von „Hilfe zur Selbsthilfe“...
Übrigens müßten wir das „System“ selbst dann verändern, wenn es heute „gut“ wäre - denn was heute „gut“ ist, muß morgen noch lange nicht „gut“ sein...
Aber es sollte dabei eben meiner Ansicht nach niemals in Richtung schematischer Gleichheit gehen, in allen, auch wirtschaftlichen, Belangen.
Sondern immer in Richtung Ermöglichung – damit im Idealfall jeder einzelne Mensch, sei es nun ein „Bettler“, ein „Zwerg“, ein „Held“ oder auch ein Dichter, den „Sinn“ seines Lebens finden und schließlich das „erfüllen“ kann, wozu er hier in diese Welt gekommen ist.
Dazu gehört es natürlich, nicht auch weiterhin immer ungerechtere „äußere Startbedingungen“ zu schaffen, die ja mit der inneren Unterschiedlichkeit der Menschen nicht viel zu tun haben.
Deshalb fiel mir in diesem Zusammenhang Rilkes Samskola-Aufsatz ein...
Mir ist es bisher noch niemals in den Sinn gekommen, Rilke vorzuwerfen, daß er nicht versucht hat, „die Welt zu retten“. Schließlich war Rilke Dichter, nicht Politiker... und als solcher nahm er die Aufgabe wahr, Bewußtsein zu schaffen - ein Bewußtsein, aus dem heraus dann auch sozial „verwandelnd“ gehandelt werden kann.
Ich sehe zum Beispiel den „Malte“ als einen derartigen Versuch an.
Rilke schreibt dazu (in einem Brief vom 24. Februar 1912, hier hab ich mal mehr daraus zitiert):
»Diese Aufzeichnungen, indem sie ein Maß an sehr angewachsene Leiden legen, deuten an, bis zu welcher Höhe die Seligkeit steigen könnte, die mit der Fülle dieser selben Kräfte zu leisten wäre.«
Herzlichen Gruß,
Ingrid
P.S.:
Angeregt von Deinen Fragen habe ich ein bißchen gegooglet, und da finde ich (ohne genauer recherchiert zu haben, hier) das folgende:
»Dass Rilke sozial und politisch blind war, ist nur bedingt richtig. In Paris grüssten ihn die unter den Brücken nächtigenden Clochards, weil sie seinen Respekt und sein Mitgefühl spürten. Das Leid eines Blinden, dem er im Jardin du Luxembourg begegnete, bewegte ihn monatelang - führte ihn zu der Frage, ob denn sein Denken, Schreiben, Dichten über den Blinden diesem überhaupt etwas helfen könne.
Im ersten Weltkrieg wollte er Mitarbeiter von Romain Rollands Friedens- und Kriegsgefangenen-Arbeit in Genf werden - ähnlich wie Hermann Hesse (dieser ihm so sehr verwandte!) in einem Schweizer Amt für Gefangenenfürsorge tätig war. Der Krieg "versteinerte" ihn, so dass er fast "erlosch" - sogar noch für vier Jahre danach, bis 1922 der "Sturm" der Elegien aus ihm brach, als bräche er aus Stein.«
ich freu mich sehr, daß Du mit Rilkes Samskola-Aufsatz etwas anfängst.
Es ist laaaange her – aber ich habe mich nun doch entschlossen, noch etwas mehr zu alledem zu sagen.
Worum es mir geht mit meinem Beharren auf dem Unterschied von „Korrigieren“ und „Verwandeln“, das ist:
Ich bin überzeugt davon, daß jeder Mensch, jedes Kind, von Anfang an „richtig“ ist, genau so, wie er ist. Niemand muß „korrigiert“ werden, um so zu sein wie alle anderen und damit besser in die Gesellschaft zu passen; und selbst wenn er ein „Zwerg“ sein sollte, müßte er nicht „gestreckt“ werden.
Denn es liegt etwas zutiefst „Richtiges“ darin, daß die Menschen unterschiedlich sind: Jeder einzelne Mensch hat schließlich etwas anderes „zu tun“ in diesem seinem Leben...
Und das ist der Grund dafür, warum ich Rilke aus ganzem Herzen zustimme, wenn er sagt (Hervorhebung von mir):
»Es scheint mir nichts als Unordnung zu stiften, wenn die allgemeine Bemühung (übrigens eine Täuschung!) sich anmaßen sollte, die Bedrängnisse schematisch zu erleichtern oder aufzuheben, was die Freiheit des Anderen viel stärker beeinträchtigt, als die Noth selber es tut, die mit unbeschreiblichen Anpassungen und beinahe zärtlich, dem, der sich ihr anvertraut, Anweisungen ertheilt, wie ihr - wenn nicht nach außen, so nach innen - zu entgehen wäre.«
Ja.
Wenn wir unser gesamtes „System“ so ändern wollten, daß alle Menschen dieselben „Nöthe“ hätten (denn ich glaube nicht, daß es auch nur einen einzigen Menschen gibt auf dieser Welt, in dessen Leben es keine „Noth“ gibt; selbstverständlich ist sie nicht immer materiell...) --- dann würde der ganzen Menschheit sehr sehr viel verlorengehen.
Das heißt nicht, daß ich meine, unser System sei gut so, wie es ist, und wir könnten daher die Hände in den Schoß legen und es so lassen.
Selbstverständlich müssen wir es verändern (da fühle ich mich einig mit Rilke: »Wolle die Wandlung«, sagt er, und »Du mußt dein Leben ändern«...).
Schon gar nicht meine ich, daß wir etwa nicht helfen sollen, dort wo es nottut.
Auch lilaloufan spricht ja weiter oben von „fraternité“, Brüderlichkeit... und selbstverständlich helfe ich meinem Bruder, wenn ich bemerke, daß er in Not ist! Aber eben nicht schematisch, sondern konkret und individuell und, wenn es irgend möglich ist, im Sinne von „Hilfe zur Selbsthilfe“...
Übrigens müßten wir das „System“ selbst dann verändern, wenn es heute „gut“ wäre - denn was heute „gut“ ist, muß morgen noch lange nicht „gut“ sein...
Aber es sollte dabei eben meiner Ansicht nach niemals in Richtung schematischer Gleichheit gehen, in allen, auch wirtschaftlichen, Belangen.
Sondern immer in Richtung Ermöglichung – damit im Idealfall jeder einzelne Mensch, sei es nun ein „Bettler“, ein „Zwerg“, ein „Held“ oder auch ein Dichter, den „Sinn“ seines Lebens finden und schließlich das „erfüllen“ kann, wozu er hier in diese Welt gekommen ist.
Dazu gehört es natürlich, nicht auch weiterhin immer ungerechtere „äußere Startbedingungen“ zu schaffen, die ja mit der inneren Unterschiedlichkeit der Menschen nicht viel zu tun haben.
Deshalb fiel mir in diesem Zusammenhang Rilkes Samskola-Aufsatz ein...
Mir ist es bisher noch niemals in den Sinn gekommen, Rilke vorzuwerfen, daß er nicht versucht hat, „die Welt zu retten“. Schließlich war Rilke Dichter, nicht Politiker... und als solcher nahm er die Aufgabe wahr, Bewußtsein zu schaffen - ein Bewußtsein, aus dem heraus dann auch sozial „verwandelnd“ gehandelt werden kann.
Ich sehe zum Beispiel den „Malte“ als einen derartigen Versuch an.
Rilke schreibt dazu (in einem Brief vom 24. Februar 1912, hier hab ich mal mehr daraus zitiert):
»Diese Aufzeichnungen, indem sie ein Maß an sehr angewachsene Leiden legen, deuten an, bis zu welcher Höhe die Seligkeit steigen könnte, die mit der Fülle dieser selben Kräfte zu leisten wäre.«
Herzlichen Gruß,
Ingrid
P.S.:
Angeregt von Deinen Fragen habe ich ein bißchen gegooglet, und da finde ich (ohne genauer recherchiert zu haben, hier) das folgende:
»Dass Rilke sozial und politisch blind war, ist nur bedingt richtig. In Paris grüssten ihn die unter den Brücken nächtigenden Clochards, weil sie seinen Respekt und sein Mitgefühl spürten. Das Leid eines Blinden, dem er im Jardin du Luxembourg begegnete, bewegte ihn monatelang - führte ihn zu der Frage, ob denn sein Denken, Schreiben, Dichten über den Blinden diesem überhaupt etwas helfen könne.
Im ersten Weltkrieg wollte er Mitarbeiter von Romain Rollands Friedens- und Kriegsgefangenen-Arbeit in Genf werden - ähnlich wie Hermann Hesse (dieser ihm so sehr verwandte!) in einem Schweizer Amt für Gefangenenfürsorge tätig war. Der Krieg "versteinerte" ihn, so dass er fast "erlosch" - sogar noch für vier Jahre danach, bis 1922 der "Sturm" der Elegien aus ihm brach, als bräche er aus Stein.«