Marilke hat geschrieben:…weil ich finde, dass sich jeder seine eigene Beziehung der beiden vorstellen sollte. Eine richtige Antwort gibt es meiner Meinung nach nicht.
Liebe Marilke, diese Bemerkung hat mich nun ein paar Tage lang beunruhigt.
Denn ich habe mich natürlich fragen müssen, beginnt das Interpretieren denn wirklich beim „Ausphantasieren“, oder hört vielmehr alle Interpretationskunst auf überhaupt sinnvoll zu sein, wenn die Vorstellungen des Lesers über das, was der Autor meinte, so beliebig sein dürfen, wie es Deine Meinung nahelegt.
- [Wir hatten hier vorzeiten einmal eine Diskussion über eine vermutlich witzigseinwollende Umdeutung dessen, was in der (zu Lebzeiten von ihm bestimmten) Inschrift auf Rilkes Grabstein steht: «Oh Rainer, Wieder Spruch» oder so ähnlich textete da jemand herum. Damals schon stand die Frage im Raum, wie weit kann interpretatorische Willkür gehen.]
Über „Beziehung“ (was für mich eh ein Unwort ist) gibt es bei Rilke ja folgende geradezu berühmt gewordene Stelle:
Rilke hat geschrieben:
- Ein Miteinander zweier Menschen ist eine Unmöglichkeit und, wo es doch vorhanden scheint, eine Beschränkung, eine gegenseitige Übereinkunft, welchen einen Teil oder beide Teile ihrer vollsten Freiheit und Entwicklung beraubt.
Aber, das Bewusstsein vorausgesetzt, dass auch zwischen den nächsten Menschen unendliche Fernen bestehen bleiben, kann ihnen ein wundervolles Nebeneinanderwohnen erwachsen, wenn es ihnen gelingt, die Weite zwischen sich zu lieben, die ihnen die Möglichkeit gibt, einander immer in ganzer Gestalt und vor einem großen Himmel zu sehen!
Deshalb muss also auch dieses als Maßstab gelten bei Verwerfung oder Wahl: ob man an der Einsamkeit eines Menschen Wache halten mag, und ob man geneigt ist, diesen selben Menschen an die Tore der eigenen Tiefe zu stellen, von der er nur erfährt durch das, was, festlich gekleidet, heraustritt aus dem großen Dunkel.
So ist meine Meinung und mein Gesetz.
So schrieb Rilke am 17. August 1901 an Emanuel v. Bodman; Du kannst den ganzen Brief
hier finden.
Sollte es auch davon keine Auffassung geben, die nicht auch unrichtig sein kann, un-wahr sogar?
Ist es nicht auch bei realen Partnerschaften so, dass ich – sei's als Freund, als Psychotherapeut, als „lachender Dritter“ – durchaus eine Vorstellung vom Geflecht der Schicksalsverbundenen ausbilden kann, die nicht nur vom Erleben der Beteiligten weit entfernt ist, sondern auch von jenem Bild, das sich einem mit objektivstem Urteilen daraufschauenden Wesen ergäbe, wär's nun ein Marsmensch oder der Engel. Also in diesem Sinne
nicht richtig! Wenn es aber eine „richtige“ Vorstellung partout nicht gäbe, dann wären alle in dieser Weise „nicht richtigen“ Vorstellungen gleich wert bzw. unwert ohne Ansehen, die Partner fühlten sich von ihnen aus ihrer Perspektive verstanden oder aber sie protestierten heftigst und der Engel schlüge die Schwingen über seinem Kopf zusammen.
Zudem hab' ich bis jetzt nur nach dem „Zu-Treffen“ geschielt, noch gar nicht etwa so etwas wie „Wahrheit“ in den Blick genommen. Über jene legt einer meiner beiden mich lebenslang begabenden Lehrer dar, dass sie
Steiner hat geschrieben:
- nicht, wie man gewöhnlich annimmt, die ideelle Abgrenzung von irgend einem Realen ist, sondern ein freies Erzeugnis des Menschengeistes, das überhaupt nirgends existierte, wenn wir es nicht selbst hervorbrächten. Die Aufgabe der Erkenntnis ist nicht: etwas schon anderwärts Vorhandenes in begrifflicher Form zu wiederholen, sondern die: ein ganz neues Gebiet zu schaffen, das mit der sinnenfällig gegebenen Welt zusammen erst die volle Wirklichkeit ergibt.
Dieses
Schaffen ist, in rechter Weise betrachtet, also eine eindeutig
freie, aber keineswegs eine beliebige Tat.
Das, so scheint mir, wird oft verwechselt, überall wo dem auf das Kunst-Ding gerichteten Erkenntnisvermögen das Daseinsrecht abgesprochen wird, als sei einer rigiden interpretatorischen Apodiktion das Wort geredet, sobald man aus der Ganzheit (nicht: den Elementen!) eines literarischen Werks erschließt, wie es gemeint ist. Dass sich, was der eine versteht, durch das ergänzt, was einem anderen auffällt, bleibt bestehen, denn wenn ein Verstehen das „Richtige“ trifft und charakterisiert, wird es noch immer nicht eine vollständige und ausschließliche Übereinstimmung mit der dichterischen Intention finden und zeigen.
Dass aber zwischen einer wirklichkeitsgemäßen und einer nicht wirklichkeitsgemäßen Lesart kein Unterschied sein soll, nein Marilke, das wirst Du sicher nicht annehmen.
Denn damit wäre nicht nur für die Literaturbetrachtung, sondern überhaupt für die menschliche Kommunikation das Schlusswort gesprochen. Wer mich morgen verleumdet, ich habe ihn mit einer mir selbst kaum bemerklichen Handbewegung tief beleidigt, hätte das gleiche Recht, seine Vorstellung von unserer unversöhnlichen Beziehung zu behaupten, wie wenn er meine selbe Geste ausdeutete, sie bezeichne eine tiefe und intime Freundschaft zwischen uns (oder lade zumindest dazu ein).
Sollte es da nicht eine Klärung geben können – ganz wie gegenüber einem Sprachkunstwerk auch?
Weil ich mir das bislang unbeirrt mit Ja beantworte, halte ich es für redlich und für sogar notwendig aufzusuchen, welche expliziten Beziehungsaussagen tatsächlich im Text stehen. Und da wirst du, was Abelone und Malte anlangt, einiges finden, und – wie Du selbst ja aus Deiner LeserInnen-Warte bemerkst – es wird vieles dabei sein, was ihrer beider Beziehung als ein
Entwicklungsgeschehen und nicht als einen ehernen Zustand beschreibt.
Aber das heißt keineswegs, es sei das Bild dieser Beziehung nicht ein eindeutig bestimmtes bzw. bestimmbares.
So sehe ich es in diesem Augenblick an, geleitet von erkenntnisbezogenen Gesichtspunkten.
Ich könnte versuchen, eher ästhetischen Gesichtspunkten den Vorzug zu geben; vielleicht käme ich dann zu einem anderen Ergebnis – aber gewiss nicht zu jenem, dass es keinen Irrtum gebe im Begreifen von sozialen oder von emotionalen Konstellationen. Das Problem liegt wohl eher darin, dass die Psychologie ihre eigene Unzulänglichkeit durch ein schein-demokratisches Alles-Gelten-Lassen bemäntelt hat, denn jede Beziehungsdiagnose ist mit Verantwortung verbunden, insofern nämlich jede bloße Betrachtung von Beziehung bereits schon Intervention ist – und so konnte es Mode werden, auch bei der Reflexion über Gestalten, die dichterischer Produktivität {„der eigenen Erfindung“ (
Pongs-Brief vom 21. Oktober 1924)} entstammen
[und auch bei der Exegese der Evangelien], um keinen Preis sich auf eine von Kritik belastbare Aussage festzulegen.
Aber Rilke meint das, was er schreibt. Eindeutig. Es darf uns reizen, dem als LeserInnen gerecht zu werden versuchen zu wollen.
Denn das so eindeutig Gemeinte ist unserem Verstehen grundsätzlich zugänglich. Ob ich es mit meinem Verstehensversuch berühre oder gar umfasse, wird also nicht vom Autor abhängen, sondern von meinem Vermögen – und dieses sollte ich doch immerzu mehren können, solange ich geistig präsent, vorbehaltlos und guten Willens bin.
Meint
lilaloufan
[Nachträgl. Ergänzungen am 16.12.2011 in kleiner Schriftgr.]