Siebente Elegie, letzte Zeile, letztes Wort

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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vivic
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Siebente Elegie, letzte Zeile, letztes Wort

Beitrag von vivic »

Freunde, hier eine ganz spezifische Frage ueber ein einzelnes Wort, "weitauf." Meine Fragen stammen oft von meinen Uebersetzungsversuchen; man kann aber nur uebersetzen was man gruendlich versteht.

Ich lese das Ende dieser Elegie als vielleicht Rilke's erste und ueberraschende Auflehnung gegen seine Engel-figur; die Hand am Ende seines gestreckten Arms ist offen "wie Abwehr und Warnung." Und die Hand bleibt vor dem Engel offen - "weitauf." Soll das heissen nur eben wieder offen, aber weit offen? Oder heisst "weitauf" hier so etwas wie "vollkommen" oder "ganz bestimmt"? Was macht das Wort hier und was waere verloren wenn es nicht da waere? Kann mir jemand eine Englische Uebertragung des letzten Satzes versuchen?

Und wie versteht ihr diese dramatische Gebaerde am Ende gerade dieser Elegie?

Freundliche Gruesse von einem ungewoehnlich heissen California Sommer.

vivic
Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert Stellen ist es noch Ursprung.
stilz
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Re: Siebente Elegie, letzte Zeile, letztes Wort

Beitrag von stilz »

Lieber vivic,

zu »weitauf« möchte ich (noch? :wink: ) nichts sagen, denn es fällt mir schwer, in Worte zu fassen, was ich bei diesem Wort (als letztem dieser Elegie) empfinde.
Auch zu übersetzen wüßte ich es im Augenblick leider nicht.


Aber zur Gebärde:
  • _______________________ Glaub nicht, daß ich werbe.
    Engel, und würb ich dich auch! Du kommst nicht. Denn mein
    Anruf ist immer voll Hinweg; wider so starke
    Strömung kannst du nicht schreiten. Wie ein gestreckter
    Arm ist mein Rufen. Und seine zum Greifen
    oben offene Hand bleibt vor dir
    offen, wie Abwehr und Warnung,
    Unfaßlicher, weitauf.
Ich sehe hier nicht eine tatsächlich ausgeführte körperliche Gebärde. Sondern es ist die Gebärde, der das „Rufen“ des „Ich“ ähnelt - Rilke schildert hier das, was der „Ruf an den Engel“ wäre, wenn er eine Gebärde wäre:
»Wie ein gestreckter Arm ist mein Rufen.«
Ein verlangend ausgestreckter Arm, mit nach oben, zum Engel hin, bittend geöffneter Handfläche...
Aber von der anderen Seite aus gesehen, vom Standpunkt des Engels aus, macht dieselbe Gebärde (und also auch das „Rufen“) den gegenteiligen Eindruck: der Engel sieht den Arm mit der geöffneten Handfläche nicht verlangend nach sich ausgestreckt, sondern wie abwehrend.

Ich sehe es nicht als „Auflehnung“. Sondern das „Ich“ fühlt sich zwar immer noch gedrängt dazu, den Engel „anzurufen“ und auf diese Weise um ihn zu „werben“ - aber es hat längst erkannt, daß das vergeblich wäre (Beginn der ersten Elegie: »Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel/Ordnungen?«).
Die Begründung für diese Vergeblichkeit: »Denn mein/Anruf ist immer voll Hinweg; wider so starke/Strömung kannst du nicht schreiten.«

Und hier lese ich (man höre und staune ;-) ) tatsächlich so etwas wie eine (allerdings ganz „bestimmte“!) „Doppeldeutigkeit“:
„Hínweg“, so wie es in dieser Gedichtzeile steht, verlangt die Betonung auf der ersten Silbe und bezeichnet damit den Weg zum Engel hin.
Wenn man dasselbe Wort auf der letzten Silbe betont, erhält man gewissermaßen das, was der Engel wahrnimmt: „Hinwég!“ - und eben dieselbe „Strömung“, die das „Ich“ verlangend zum Engel hin in sich entstehen läßt, wird damit zu dem, was den Engel daran hindert, diesem „Ruf“ zu folgen... das ist ganz dasselbe, was sich auch in der beschriebenen Gebärde ausdrückt.

Es berührt mich sehr, was Rilke aus dieser Erkenntnis heraus sagt:
  • Werbung nicht mehr, nicht Werbung, entwachsene Stimme,
    sei deines Schreies Natur
- und stattdessen entschließt er sich zur »Rühmung«, dazu, dem Engel diese Welt, in der »Hiersein herrlich« ist, zu zeigen:

  • [...] Engel,
    dir noch zeig ich es, da! in deinem Anschaun
    steh es gerettet zuletzt, nun endlich aufrecht.
    [...]
    War es nicht Wunder? O staune, Engel, denn wir sinds,
    wir, o du Großer, erzähls, daß wir solches vermochten, mein Atem
    reicht für die Rühmung nicht aus.



Herzlichen Gruß,

stilz
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stilz
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Re: Siebente Elegie, letzte Zeile, letztes Wort

Beitrag von stilz »

vivic hat geschrieben:Kann mir jemand eine Englische Uebertragung des letzten Satzes versuchen?
Lieber vicic,

einer solchen Frage konnte ich noch nie widerstehen. :lol:

Also hier mein erster Versuch - es holpert mir zwar noch ein bisserl zu sehr (und ich bin mir auch nicht ganz sicher mit den alten Konjugationsformen), aber es ist ja auch erst ein Anfang:
  • _______________________ Think not that I court thee.
    Angel, and e’en though I did! Thou comest not. For my
    call is always creating a way; fighting that strong
    a current, thou canst not stride. Like an extended
    arm is my calling. And, reaching upwards,
    its open hand stays before thee
    open as in repelling and warning,
    Unseizable, by far.
Herzlichen Gruß!

stilz

P.S.: Für alle, die's schon früher gelesen haben: ich hab inzwischen noch ein bisserl dran gefeilt und grad (7.6.2011) die erste Version geändert.
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vivic
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Re: Siebente Elegie, letzte Zeile, letztes Wort

Beitrag von vivic »

Liebe Stilz,

Deine Uebersetzung gefaellt mir! Sehr gewagt, und ich glaube, auch gut gelungen, ist das alt-English.

Hier ist, bis jetzt, mein eigener Versuch, natuerlich ein "work in progress."

Don't think I am courting you, angel. And what
if I were pleading? You would not come. For my call
rides on the current; you cannot stride upstream
against it. Like an upstretched arm is my calling,
and my hand, open, up high, to touch you, will remain
open in defense and defiance,
inconceivable one ... wide open.

Incidentally, I think sonnet #3 in the first series is a beautiful restatement of this theme:

Gesang, wie du ihn lehrst, ist nicht Begehr,
nicht Werbung um ein endlich noch Erreichtes,
Gesang ist Dasein...

vivic
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stilz
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Re: Siebente Elegie, letzte Zeile, letztes Wort

Beitrag von stilz »

Lieber vivic,

endlich komme ich dazu, Dir zu antworten (zum anderen Thema wird es wohl noch etwas dauern, denn ich fahre morgen in aller Herrgottsfrüh schon wieder weg - aber das heißt nicht, daß ich mich nun etwa um eine Antwort drücken wollte! Soviel wenigstens sei hier erwähnt.)

Ich freu mich, daß Du meine Übersetzung magst.
Und mir wiederum gefällt Deine Übersetzung sehr gut!
Besonders »defense and defiance«, das ist herrlich, und, wie ich finde, seeeeehr viel besser als mein »repelling and warning«.

Du findest meine altenglischen Versuche „gewagt“; das sind sie sicherlich, überhaupt von mir als „non-native-speaker“... Ich möchte dazu etwas erklären.

Es hat ja hier im Forum schon früher mal Diskussionen darüber gegeben, ob man eine Übersetzung in eine Sprache, die nicht die eigene Muttersprache ist, überhaupt wagen „darf“.
Ich finde, ja. Denn es kommt meiner Meinung nach gerade beim Übersetzen von Gedichten viel mehr darauf an, mit der Sprache dieses Gedichtes so vertraut zu sein, daß man es durch und durch begreifen kann, als darauf, in der Zielsprache als Alltagssprache ganz und gar zu Hause zu sein.

Wenn ich Rilke ins Englische übersetze, bemerke ich immer wieder, daß es mich zu altenglischen Wendungen hinzieht.
Das hat mich früher mißtrauisch gegen mich selbst gemacht - denn ich halte nichts davon, durch Verwendung längst nicht mehr in Gebrauch stehender Worte künstlich eine Art „gehobenes Pathos“ zu erzeugen und der eigenen Übersetzung so einen „(pseudo-)dichterischen Anstrich“ zu geben.

Inzwischen ist mir aber klar geworden, woran es liegt, daß mir halt als allererstes altenglische Worte und auch Satzstellungen in den Sinn kommen, wenn ich versuche, ein Rilke-Gedicht zu übersetzen: ich bin ziemlich sicher, das hat seinen Grund darin, daß das Deutsche und das Englische gemeinsame Wurzeln haben.

Wenn Rilke nun das »Wesen« der »im Alltag darbenden Worte« befreit, das sie bisher »bang in sich bezwangen« --- dann geht er meinem Empfinden nach zu einer Wort-Wurzel zurück, die lange vor dem heute (und auch zu seiner Zeit) üblichen alltäglichen Wortschatz liegt. Und das ist häufig eine Wurzel, die es auch im Englischen gibt, und der das altenglische Wort, das sich mir in den Sinn drängt, noch näher ist als das „alltägliche“ deutsche Wort, das Rilke gebraucht.
Und die altenglische Wortstellung ist der deutschen sowieso näher als die heutige.

An einigen Zeilen des Schlusses der siebenten Elegie kann man es besonders gut sehen, wie das Gemeinsame des Deutschen und des Altenglischen „mitgearbeitet“ hat an meiner Übersetzung:
»Denk nicht« --- »Think not«.
»Du kommst nicht.« --- »Thou comest not.«

---

Während ich das schreibe, fällt mir ein, daß Renée einmal erzählt hat, Ernst Zinn habe Rilkes Gedichte ins Lateinische übersetzt, wenn er sich zum Wortlaut nicht ganz sicher war...


Herzlichen Gruß!

Ingrid
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vivic
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Re: Siebente Elegie, letzte Zeile, letztes Wort

Beitrag von vivic »

Liebe Stilz, du schreibst:

"Es hat ja hier im Forum schon früher mal Diskussionen darüber gegeben, ob man eine Übersetzung in eine Sprache, die nicht die eigene Muttersprache ist, überhaupt wagen „darf“.
Ich finde, ja. Denn es kommt meiner Meinung nach gerade beim Übersetzen von Gedichten viel mehr darauf an, mit der Sprache dieses Gedichtes so vertraut zu sein, daß man es durch und durch begreifen kann, als darauf, in der Zielsprache als Alltagssprache ganz und gar zu Hause zu sein."

Beides waere erwuenscht... aber gehoert zu einer idealen Welt. In Wirklichkeit sind Leute die Literatur wirklich lieben und kennen, und die auch ZWEI Sprachen, zB Deutsch und Englisch, vollkommen beherrschen, sehr selten. Trotz der zum Teil schlechten Uebersetzungen, irgend etwas echt Rilkisches kommt doch durch, denn RMR ist bei uns sehr beliebt geworden. Wir MUESSEN weiter uebersetzen, wenn auch niemals ganz gerecht.

Ich, zum Beispiel, sprach Deutsch als meine erste Sprache als kleines Kind, ging aber sofort in eine Amerikanische Schule; das Resultat, nach vielen Jahren, ist dass ich sehr viel Deutsch lese aber nur sehr holprig schreiben kann. Ich versteh zwar das Meiste, aber dieses "weitauf" finde ich in keinem Woerterbuch, und genau wie das fuer ein Einheimischen fuehlt, was da widerhallt und assoziiert, kann ich nicht erraten. Mir fehlen die tieferen Sprachwurzeln.

Vivic
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Re: Siebente Elegie, letzte Zeile, letztes Wort

Beitrag von stilz »

Lieber vivic,

nun noch - endlich! - eine Ergänzung zum letzten Wort dieser Elegie, »weitauf«, auf das sich ja Deine ursprüngliche Frage vor allem bezog.

Ich habe in den letzten Wochen immer wieder darüber nachgedacht, wie ich in Worte fassen könnte, was ich beim Lesen dieses Wortes an dieser Stelle empfinde - und wovon ich leider nicht im geringsten weiß, wie ich es übersetzen könnte!

Mir ist natürlich bewußt, daß meine Übersetzung "by far" höchst ungenau und unvollkommen ist, von einem gewissen Standpunkt aus müßte man sogar sagen: sie ist total daneben.

Denn selbstverständlich ist, wenn man es ganz wörtlich nimmt, „weit geöffnet“, oder „weit offen“, die nächstliegende Lesart.

Dennoch wollte ich nicht "wide open" schreiben, ja, damit wäre ich sogar noch viel unzufriedeneer gewesen als mit meinem "by far".
Denn ich lese Rilkes »weitauf« nicht in erster Linie auf die weit geöffnete Hand des „Ich“ bezogen, sondern ich lese es - zumindest auch, wenn nicht vor allem! - im Zusammenhang mit dem „unfaßlichen“ Engel; und so finde ich auch noch etwas anderes darin als "wide open", und dieses andere scheint für mich diesem Wort sogar stärker Farbe zu geben als die Bedeutung „weit geöffnet“.

Ich denke einerseits an ein „auf“ im Sinne von "up" oder "on top of" (und obwohl ich das erst jetzt klar sehe, im Zusammenhang mit der englischen Übersetzung, war es schon vorher so, als ich nur den deutschen Text hatte).
Und so komme ich zu etwas wie „weit oben“... natürlich nicht in einem rein örtlichen Sinn. Eben so, wie der Ort des Engels „oben“ ist - an anderer Stelle ( http://www.rilke.de/gedichte/an_den_engel.htm ) spricht Rilke ja von »über unserm Reiche«...

Andererseits denke ich an ein „offen“ im Sinne der nächsten, der achten Elegie:

  • »Mit allen Augen sieht die Kreatur
    das Offene. Nur unsre Augen sind
    wie umgekehrt und ganz um sie gestellt
    als Fallen, rings um ihren freien Ausgang.
    Was draußen ist, wir wissens aus des Tiers
    Antlitz allein; denn schon das frühe Kind
    wenden wir um und zwingens, daß es rückwärts
    Gestaltung sehe, nicht das Offne, das
    im Tiergesicht so tief ist. Frei von Tod.«


Der Engel ist, von uns hier und jetzt lebenden Menschen aus gesehen, im „Offenen“.
Und hier scheint es mir wieder eine ähnliche „Umstülpung“ zu geben wie im „Hinweg“ oder in der von jeder Seite anders zu lesenden Gebärde: ich frage mich, ob für den Engel nicht umgekehrt wir irdischen, in Raum und Zeit lebenden Menschen im „Offenen“ sind...

All diese Empfindungen lösen in mir ein Gefühl des (mit gewohnten Mitteln) „Unerreichbaren“ aus. Deshalb kam ich zu meinem "Unseizable, by far".

Und nun wäre ich sehr gespannt, ob Du, als mit dem Englischen viel inniger als ich Vertrauter, eine Möglichkeit findest, all diese Empfindungen in ein einziges Wort zu fassen; da es das Wort „weitauf“ im Deutschen ja sonst nicht gibt, könnte es ruhig auch ein neuerfundenes englisches Wort sein, nicht wahr?


So - und jetzt hoffe ich halt, daß mein posting sich unter dem vielen SPAM überhaupt finden lassen wird...

Herzlichen Gruß!

Ingrid
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