Atmen, du unsichtbares Gedicht

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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vivic
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Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von vivic »

Liebe Rilkeaner,

Sonette an Orpheus, Zweiter Teil, #1

Ein ganz besonders Sonett, soll das letzte Orpheus Sonett sein das R geschrieben, und auch das freieste in der Form. Der Inhalt gibt mir noch immer Muehe, ersten das “sparsamste Meer,” zweitens der Baum welcher ploetzlich in den letzten zwei Zeilen auftaucht.

Es handelt sich, jedenfalls oberflaechlich, von Atmen, vielleicht metaphorisch auch von Dichten. R beschreibt Atmen als ein Austausch zwischen den Menschen und etwas Auesseres, also zwischen den Lungeninhalt des Poeten und die Luft oder Erdatmosphaere. Das stimmt ja, physikalisch, und daraus schoepft R den Gedanken, dass das Luftmeer schon vieles von seinem inneren Inhalt enthaelt oder “kennt” ; wir koennten sagen dass das grosse Luftgefaess und das kleine sich irgendwie spiegeln oder repraesentieren. Ein netter Gedanke, wunderbar ausgedrueckt:

Wieviele von diesen Stellen der Raueme waren schon innen in mir?
Manche Winde sind wie mein Sohn.
Erkennst du mich, Luft, du voll einst meiniger Orte?

Aus diesen Gedankengang versuche ich mir das “sparsamste Meer” zu erklaeren. Der “Raumgewinn” ist klar, wenn ich annehmen kann, dass der Dichter hier von seinem eigenen Lungen spricht; dann sind diese irgendwie eine Stichprobe (Eng: representative sample) der Atmosphaere, eine kleine Welt welche ungefaehr die gleiche Mischung der Materialen enthaelt wie die grosse. Leider wiedersprechen die Pronomina der zweiten Strophe meine Interpretation:

Einzige Welle, deren
allmaehliches Meer ICH bin;
sparsamstes DU von allen moeglichen Meeren, -
Raumgewinn.

Hier spricht doch der Dichter (also Rilke oder Orpheus), und wenn DU sich auf ein Meer bezieht, muss es ja das Luftmeer der auesseren Welt sein. Oder? Man koennte wahrscheinlich einen Aufsatz schreiben ueber die Verwendung von ICH und DU in diesem Gedicht. Ueberall in Rilke finde ich Pronomina oft in einem unlogischen Fluidum schweben. Man weiss oft nicht worauf sie sich beziehen.

Was meint ihr dazu?

Dann der Baum. Hier benutze ich Beziehungen zu anderen Gedichten. Die erste Reihe der Orpheus Sonette beginnen bekanntlich auch mit einem Baum,

Da stieg ein Baum.

und dieser ein Symbol des Orphischen Gesanges. Sind Baueme bei R denn oft Symbole des kuenstlerischen Ausdrucks? Auch in Orpheus II, #XVIII (Taenzerin…) ist Vera’s Tanz als ein “Baum der Bewegung” beschrieben. Koennten wir sagen dass dieses Gedicht wirklich ueber das Dichten ist? Dann ist das Einatmen die Welterfahrung des Dichters, und seine Werke das Ausatmen. Gehe ich hier in der richtigen Richtung?

Zum Schluss muss ich noch betonen dass man ja nie mit einem wirklich gueltigen Gedicht logisch fertig wird. Es muss immer noch Geheimnisse geben, und obwohl ich dieses Gedicht vielleicht nie ganz verstehen werde, kenne ich es schon lange auswendig, und wenn ich es sage, hat es einen wunderbaren Atem!

-vivic (Vito Victor)
Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert Stellen ist es noch Ursprung.
vivic
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von vivic »

Nur schnell noch das Gedicht:

I
Atmen, du unsichtbares Gedicht!
Immerfort um das eigne
Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht,
in dem ich mich rhythmisch ereigne.

Einzige Welle, deren
allmähliches Meer ich bin;
sparsamstes du von allen möglichen Meeren, -
Raumgewinn.

Wieviele von diesen Stellen der Raume waren schon
innen in mir. Manche Winde
sind wie mein Sohn.

Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte?
Du, einmal glatte Rinde,
Rundung und Blatt meiner Worte.


Aus: Die Sonette an Orpheus, Zweiter Teil
Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert Stellen ist es noch Ursprung.
stilz
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von stilz »

Lieber Vito,

wie schön, wieder von Dir zu hören bzw zu lesen!


Das "Du" in diesem Sonett ist für mich in beiden Quartetten, wie es schon in der ersten Zeile deutlich wird, das Atmen.

Indem ich atme, erlebe ich die "Welle", die dieses Atmen ist - in jedem Augenblick eine einzige Welle und insofern das "sparsamste" aller möglichen Meere.
Und indem ich weiteratme, reihe ich Welle an Welle und bilde so selbst das "allmähliche", also in der Zeit erst entstehende, Meer.

Den "Raumgewinn" begreife ich im Zusammenhang mit den Zeilen: "Wieviele von diesen Stellen der Raume waren schon/innen in mir." und "Erkennst du mich, Luft, du, voll noch einst meiniger Orte?":
Ebenso wie die Luft außerhalb von mir "Orte" enthält, die einst (bevor ich sie ausgeatmet habe) mein (weil in mir) waren, ebenso "gewinne" ich, wenn ich einatme, "Räume", die vorher außerhalb waren...

Im letzten Terzett ändert sich etwas, hier bezeichnet das "Du" die Luft, also sozusagen die "Substanz" des Atmens.

Es ist sehr schön, daß Du hier an das erste Sonett erinnerst.
Ich stimme Dir zu: diese Luft "da draußen" - sie könnte "mich" vielleicht erkennen, denn sie war einst in "mir", und aus ihr bildeten "meine" Worte den "hohen Baum im Ohr", von dem im ersten der Sonette an Orpheus die Rede ist...

Herzlichen Gruß!

Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
vivic
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von vivic »

Liebe Ingrid, vielen Dank fuer deinen Versuch. Du hast aber mein Raetsel noch nicht geloest, denn
sparsamstes du von allen möglichen Meeren, -
das sagt doch, dass "du" ein Meer ist, und zwar ein sehr sparsames; ich nehme an dass es eben ein relatif kleines Meer ist. "Atmen" ist kein Meer, sondern ein Prozess, ein rhythmischer Austausch zwischen Innen und Aussen.
Nur die Pronomina stimmen nicht. Er haette einfach schreiben sollen:
sparsamstes von allen moeglichen Meeren

How presumptuous is that?! Correcting the master!

Den Baum habe ich auch im wunderschoenen Gedicht EINGANG gefunden. Auch handelt es sich hier wiederum um einem ersten, einleitenden Gedicht in einem Buch, hier Das Buch der Bilder (Des Ersten Buches Erster Teil). "Wer du auch seist," wenn du endlich aus deinen engen Haus gehst, kannst du eine Welt schaffen, kannst du ein Dichter sein, und was du machst ist ... ein Baum. Das muss ja ein wichtiger Begriff sein in R's Werk!!

Vito
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lilaloufan
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von lilaloufan »

Vito, hier findest Du einen kleinen, leider für Deine Frage nicht ergiebigen Beitrag. Herr Heiner habe – so hörte ich von einem Teilnehmenden – im Frühjahr 2004 in Mannheim unterrichtet und dabei ausführlicher über dieses Gedicht gesprochen ––– wie kompetent weiß ich allerdings nicht. Aber vielleicht magst Du ja (über die verlinkte Site) mit ihm Kontakt aufnehmen.

Grüße
l.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
stilz
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von stilz »

Lieber Vito,

ich versuche es nochmal, vielleicht wird es dann klarer, wie ich RIlke hier verstehe:

Ein Gebäude beispielsweise ist dann "sparsam", wenn es mit wenig Baumaterial und wenig Grundfläche (und natürlich auch mit wenig zugeführter Energie) auskommt und - denn sonst wäre es vielleicht einfach "klein" - wenn dennoch möglichst viele Menschen darin wohnen können.
Insofern kann ein Hochhaus als "sparsamer" angesehen werden als ein Einfamilienhaus: es erweitert auf derselben Grundfläche den Raum in die Höhe, in die dritte Dimension.

Im Atemvorgang wird nun sozusagen der gegebene Raum in eine vierte Dimension erweitert, in die der Zeit.
Auf diese Weise reichen sowohl der gegebene endliche Raum als auch das gegebene endliche "Baumaterial" (die Luft) für unendlich viele Menschen, nicht nur für die gegenwärtig lebenden, sondern auch sowohl für alle längst verstorbenen als auch für alle, die künftig geboren werden... und das Atmen wird, obwohl es sich endlicher "Mittel" bedient, zum unendlich großen Meer, gerade dadurch, daß es ein rhythmischer Prozeß ist, mit "Wellen", die sich in der Zeit ereignen, und mit "Raum", der den sich immer erneuernden "Innenraum" einbezieht...


Lieber lilaloufan, danke für den link! Ich freue mich besonders über den Bezug zu den "Elegien". An die "erweiterte Luft", die die Vögel vielleicht fühlen "mit innigerm Flug", hatte ich gestern auch gedacht...


Herzlichen Gruß,

Ingrid
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von sedna »

Ojeh, Moment ...
(Sorry, ich wollte mich hier nicht reindrängen, aber eine Irreführung bzw. Einschränkung aus dem link zur Heiner-Meditation kann ich offen gestanden nicht unkommentiert lassen)
Johannes Heiner hat geschrieben:"Atmen, das unsichtbare Gedicht!"
:shock:
Ich finde es ganz und gar inakzeptabel, daß Heiner die erste Zeile einfach um-zitiert, weil sie so besser in sein Interpretations-Schema paßt, - anderen Lesarten dadurch aber der Boden entzogen wird! Die Zeile heißt original:

"Atmen, du unsichtbares Gedicht!"

Nur so kann sie eine Bedeutungsvielfalt entwickeln.
Denn ich lese "Atmen" beispielsweise als Appell an das Gedicht, zu atmen; erinnern an das Atmen als das, worauf es ankommt, um weiter zu leben und groß zu werden. Also innigster Zuspruch, daß das Gedicht (das "Du") ihm (dem "Ich") nicht vorzeitig wegstirbt.

Und wo ich schon mal hier bin ...
Mit "Du" in der zweiten Strophe scheint mir wieder das Gedicht angesprochen, wie in der ersten Zeile (weglassen geht nicht, es würde da nicht nur beim Lesen etwas fehlen, außerdem wäre es ja noch schöner, wenn poetisches Sprechen sich aus der Notwendigkeit formte, von anderen verstanden werden zu wollen - da gestatte ich viel künstlerische Freiheit ;) )
– "sparsamstes", weil unsichtbares Meer: die verebbte Sprache muß sich erst wieder zur Wörterflut erheben. Also Tidenhub im Ich. Da steckt ja auch die von stilz angesprochene zeitliche Dimension mitdrin.

sedna
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von stilz »

Liebe sedna,

also, mich freut es natürlich auch nicht, daß Johannes Heiner Rilke falsch zitiert. Allerdings Deine Begründung:
sedna hat geschrieben:Denn ich lese "Atmen" beispielsweise als Appell an das Gedicht, zu atmen; erinnern an das Atmen als das, worauf es ankommt, um weiter zu leben und groß zu werden. Also innigster Zuspruch, daß das Gedicht (das "Du") ihm (dem "Ich") nicht vorzeitig wegstirbt.
kann ich nun wirklich nicht teilen.

"Atmen, du unsichtbares Gedicht" - hier sehe ich immer noch das Atmen als ein "Du" angesprochen, statt daß, wie es bei Heiner den Eindruck macht, bloß über das Atmen gesprochen würde.

So, wie Du es zu verstehen scheinst: das Gedicht ist das "Du", das Atmen ist nicht Vokativ, sondern sozusagen Imperativ (jedenfalls wenn ich Dich richtig verstanden habe) --- also, so würde für mich - einmal abgesehen davon, daß ich nicht recht begreife, wieso Rilke dann nicht "Atme, du unsichtbares Gedicht!" geschrieben haben sollte - das Folgende keinen Sinn ergeben:
  • Immerfort um das eigne
    Sein rein eingetauschter Weltraum. Gegengewicht,
    in dem ich mich rhythmisch ereigne.
Meinst Du wirklich, daß auch mit diesen Begriffen das Gedicht gemeint sei, und nicht das Atmen (das natürlich, nach meinem Verständnis, in der ersten Zeile als "unsichtbares Gedicht" bezeichnet wird)?

fragt verwundert

stilz
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von sedna »

Liebe stilz,

ich freue mich zwar, daß Du nachhakst, möchte hier aber keinen Nebenschauplatz eröffnen.
sedna hat geschrieben:- anderen Lesarten dadurch aber der Boden entzogen wird!
Das war meine Begründung (mein Beispiel war schmückendes Beiwerk). Und diese geht in ihrer Tragweite noch über die einfache Feststellung eines falschen Zitats hinaus. Da ergab sich potenzierte Empörung. Ich kann es nur noch mal sagen:
sedna hat geschrieben:Die Zeile heißt original:

"Atmen, du unsichtbares Gedicht!"

Nur so kann sie eine Bedeutungsvielfalt entwickeln.
Selbst wenn ich das Wesentliche jetzt fett hervorhebe, lese ich darin immer noch nicht Deutungseinfalt des ganzen Gedichts :)
Deshalb verstehe ich Deine Frage in diesem Zusammenhang nicht:
stilz hat geschrieben:einmal abgesehen davon, daß ich nicht recht begreife, wieso Rilke dann nicht "Atme, du unsichtbares Gedicht!" geschrieben haben sollte
Vermutlich aus demselben Grund, warum er nicht "Atmung, du unsichtbares Gedicht!" geschrieben hat? Verstehst Du, die Ambivalenz, die durch das Wort Atmen am Anfang schimmert? (Hauptsache Atmen ... )
stilz hat geschrieben:Meinst Du wirklich, daß auch mit diesen Begriffen das Gedicht gemeint sei, und nicht das Atmen (das natürlich, nach meinem Verständnis, in der ersten Zeile als "unsichtbares Gedicht" bezeichnet wird)?
Nein. Weil sich mir Deine Sinnfrage nicht stellt, und ich wüßte auch nicht, wer sie mir beantworten könnte. Absurd, nicht wahr?
Wenn es allerdings den Sinn schlechthin geben sollte, der die sprachliche Ambivalenz in der ersten Zeile ad absurdum führen könnte, dann leuchtet er mir hier nicht ein.
Wenn wir uns aber mit logischen Schlüssen aufhalten, reizt mich natürlich die Gegenfrage: Ist es denn sinnvoll, Weltraum aus Erklärungsnot zu irgendwas umzuspritzen, das am Luftaustausch beteiligt sein kann?
Weltraum ist der Raum, in dem Atmung physikalisch gesehen unmöglich ist = lebensfeindlichster Raum überhaupt und stellt hier metaphorisch das Gegengewicht zu Lebensraum; ich lese etwas wie: um das eigene Leben rein eingetauschter Tod, ständige Bedrohung, welcher Druck = Weiteratmen entgegen gesetzt wird.
Oder ist hier etwa Mehrdeutigkeit im Spiel ....
Ich sehe allerhand Ineinandergreifendes wie in einem surrealen Bild, aber keine Notwendigkeit logischer Verknüpfungen. Mal sehe ich das Ich eingeschlossen im Du, mal umgekehrt das Gedicht als Lunge im Ich.
vivic hat geschrieben:Ueberall in Rilke finde ich Pronomina oft in einem unlogischen Fluidum schweben.
Das hast Du schön gesagt, vivic.
vivic hat geschrieben:Koennten wir sagen dass dieses Gedicht wirklich ueber das Dichten ist? Dann ist das Einatmen die Welterfahrung des Dichters, und seine Werke das Ausatmen. Gehe ich hier in der richtigen Richtung?
Ja, würde ich jedenfalls auch sagen wollen. Ein Verdichtungsprozeß von Sprache wie Luft (unter Druck, die eingeatmet und komprimiert werden muß, Ausatmen ist dann ein Leichtes) und interessanterweise ist der Luftdruck auf Meereshöhe am größten.
vivic hat geschrieben:Ein ganz besonders Sonett, soll das letzte Orpheus Sonett sein das R geschrieben, und auch das freieste in der Form. Der Inhalt gibt mir noch immer Muehe
Dem kann ich nur hinzufügen, daß es für mich, wäre es anders, seinen Zauber verlieren würde.
Da das vermutlich hier nicht viel weiter bringt, bin ich auch schon wieder weg.

sedna
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lilaloufan
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von lilaloufan »

sedna hat geschrieben:
Weltraum ist der Raum, in dem Atmung physikalisch gesehen unmöglich ist = lebensfeindlichster Raum überhaupt und stellt hier metaphorisch das Gegengewicht zu Lebensraum …
Kleine Anmerkung – ich bin ziemlich sicher, dass Begriffe wie «Weltraum» und «Welten-Raum» zu Rilkes Zeit noch nicht die Bedeutung eines astronautisch erforschten "space" hatten; auch „κόσμος“ (Kosmos) war ja zu dieser Zeit durchaus nicht ein mit „UNIVERSUM“ gleichgesetzter Begriff. Im Woerterbuchnetz (Grimm) wird Rilke, Erste Elegie, zitiert:
  • O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum
    uns am Angesicht zehrt −, wem bliebe sie nicht, die ersehnte,
    sanft enttäuschende, welche dem einzelnen Herzen
    mühsam bevorsteht. Ist sie den Liebenden leichter?
    Ach, sie verdecken sich nur mit einander ihr Los.
    Weißt du's noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere
    zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel
    die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug.
Räume, die wir atmen!

Ich denk' auch an Maltes Ich-Bin-Wort:
  • Ich bin die künftige Metamorphose dessen, was dem Kosmos Eindrücke gibt.
Und an:
  • Da rauscht das Herz. Was stärkt, was unterbricht,
    was übertönt das Rauschen seines Ganges?
    Oft war ein Frohes feindlich und ein Banges
    war mehr als Beistand. Ach, wir wissen nicht.

    Doch manchmal sind wir innen so im Recht,
    dass wir Geschehn mit Dasein überwiegen,
    und sind so voll, so von uns schwer, so echt,
    dass sich die stummen Stützen biegen,

    die mit uns wuchsen. Wirklichkeit des Seins.
    Um des Geliebten, um der Leistung willen
    erstehn wir seiend, seiender. Sind eins

    mit der erlebten Erde. Und im Stillen
    entströmt die Weite reinen Augenscheins
    wie klarer Weltraum unseren Pupillen.


„Weltraum“ halte ich hier für einen Bereich der «große(n) Einheit, in der die uns übertreffenden Wesen, die 'Engel', zu Hause sind.» (Das ist aus dem hier oft zitierten Hulewicz-Brief.)

Rilke kennt auch die Pluralität von Welten-Räumen: «… dass ein Kern von Dasein in mir ist, den es nicht mehr mitreißt aus mir hinaus und von Weltraum zu Weltraum».

Und so weiter. – Das soll zunächst nur eine kleine Anmerkung sein. Und an dieser Stelle nicht Hauptthema werden. Danke, dass das Gespräch weiter geht.

l.
Zuletzt geändert von lilaloufan am 27. Jun 2011, 21:58, insgesamt 1-mal geändert.
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sedna
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von sedna »

lilaloufan hat geschrieben: ich bin ziemlich sicher, dass Begriffe wie «Weltraum» und «Welten-Raum» zu Rilkes Zeit noch nicht die Bedeutung eines astronautisch erforschten "space" hatten
Da bin ich mir wiederum sehr unsicher. Man konnte sich erstaunlich viele "Wahrheiten" errechnen.
Die alten Griechen kannten schon Barometer, und wußten, daß der Luftdruck nach oben hin immer weiter abnimmt; seit Kopernikus weiß man, daß es im Kosmos keine Atmosphäre gibt, welche die Sterne bremst; ja und schließlich hatte Rilke Briefkontakt mit einer Freundin (Mensch, wie heißt die doch gleich ...), die mit Einstein Weihnachten gefeiert hat.

Ich dachte an eine andere Ambivalenz bei Weltraum, ohne Chance auf Äußeres, in Rilkes Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen.

Metamorphose ist hier auch ein gutes Stichwort, lilaloufan. Vielleicht doch ein Hauptthema ... Es bleibt spannend.

sedna
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von lilaloufan »

sedna hat geschrieben:(Mensch, wie heißt die doch gleich ...)
Claire Goll woll'n wir hier jedenfalls um keinen Preis zum uferlosen Hauptthema machen :roll:
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von sedna »

Danke.

sedna :mrgreen:
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von stilz »

Liebe sedna,

Du sagst, daß sich Dir die (meine, sagst Du) „Sinnfrage“ nicht stelle.
Du ziehst in Zweifel, daß es „den Sinn schlechthin geben sollte“.
Und Du sprichst immer wieder von „sprachlicher Ambivalenz“... das alles in einer Weise, die mich Dein „außerdem wäre es ja noch schöner, wenn poetisches Sprechen sich aus der Notwendigkeit formte, von anderen verstanden werden zu wollen - da gestatte ich viel künstlerische Freiheit“ nun so verstehen läßt, als würde Rilke Deiner Meinung nach überhaupt gar nichts „Sinnvolles“ im Sinn gehabt haben, als er seine Gedichte schrieb.

Nun - wenn unter „Freiheit“ verstanden werden soll, daß keiner nur denkbaren Lesart „der Boden entzogen wird“, daß also jeder Leser Rilkes Worte nach Belieben und ohne Beachtung der Grammatik und des Gesamtzusammenhanges dorthin biegen können soll, wo er sie am liebsten haben will, --- dann wende ich mich ganz entschieden gegen eine solche „Freiheit“.

Für mich ist Rilkes Sprache, sind seine Begriffe nicht „ambivalent“ in dem Sinn, daß sie dies oder aber auch jenes bedeuten können, weil Rilke sich nicht für eine bestimmte Bedeutung entschieden hätte...

"Das Ding ist bestimmt, das Kunst-Ding muß noch bestimmter sein; von allem Zufall fortgenommen, jeder Unklarheit entrückt, der Zeit enthoben und dem Raum gegeben, ist es dauernd geworden, fähig zur Ewigkeit.“
so schreibt Rilke (am 8. August 1903 <Sonnabend>) an Lou Andreas-Salomé.

Ich bin überzeugt davon, daß Rilkes Gedichte einen ganz eindeutigen Sinn haben, der sich entdecken läßt, wenn man sich auf mehr als eine bloß oberflächliche Betrachtung einläßt - und vor allem: wenn man Assoziationen und Konnotationen, die man gewohnheitsmäßig mit gewissen Begriffen verbindet, erstmal wegläßt (denn die sind nicht „ein-deutig“ in dem Sinn, wie ich es meine, sondern höchstens bedeutungsreduziert) und stattdessen versucht, zur ursprünglichen Bedeutung eines Wortes, zu seinem Wesen, vorzudringen.

Ja - nehmen wir ein Wort wie „Weltraum“.
Selbst wenn man alles, was die Astronomie heute „weiß", damals schon hätte „errechnen" können - das bedeutet erstens noch lange nicht, daß das Wort „Weltraum“ damals die Konnotationen hatte, die wir heute damit verbinden.
Und zweitens: selbst wenn es diese Konnotationen damals ganz genau so wie heute gegeben hätte, so bedeutet das nicht, daß Rilke nicht dennoch etwas ganz anderes meint, wenn er vom "Weltraum“ spricht:

  • Die armen Worte, die im Alltag darben,
    die unscheinbaren Worte, lieb ich so.
    Aus meinen Festen schenk ich ihnen Farben,
    da lächeln sie und werden langsam froh.

    Ihr Wesen, das sie bang in sich bezwangen,
    erneut sich deutlich, dass es jeder sieht;
    sie sind noch niemals im Gesang gegangen
    und schauernd schreiten sie in meinem Lied.


Das Wesen eines Wortes ist oft um vieles „weiter“, als uns normalerweise bewußt ist. Und im Laufe der Zeit werden die Worte, jedenfalls in ihrem alltäglichen Gebrauch, immer „ärmer“ --- man braucht nur einmal ein lateinisches oder altgriechisches Wörterbuch aufzuschlagen, um das zu erkennen.
Unter dem Stichwort „Logos“ beispielsweise finde ich „I. das Sprechen“ und „II. das Berechnen“, und unter jedem dieser beiden Oberbegriffe noch unzählige andere Bedeutungen, von „Gerücht" über „Redeerlaubnis" bis zu „Rechnung“, „Verhältnis" und „Vernunft", um nur einige zu nennen... Goethes Faust wußte davon ein Lied zu singen (und seine Übersetzungsvorschläge sind in meinem Wörterbuch nichtmal angeführt).


Und auch Rilkes Pronomina haben für mich keineswegs ein „unlogisches Fluidum“, wie Du, Vito, sagst.
Zugegeben, er setzt sie in einer Weise, wie wir es aus dem Alltag nicht gewohnt sind: Wir sprechen normalerweise das „Atmen“ nicht mit „Du“ an, oder die Luft, oder die Einsamkeit, oder noch vieles andere, das Rilke so anredet...
Aber um uns einem solchen Gedicht zu nähern, müssen wir uns schon einen Schritt wegbewegen von jedem „normalerweise“...


Danke, lilaloufan, für Deine „Anmerkung“!
Ich freue mich sehr über alles, was Du zum „Weltraum“ sagst und aus Rilkes Werk belegst.
Räume, die wir atmen ---


Herzlichen Gruß, von Weltinnenraum zu Weltinnenraum,

stilz
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von sedna »

Liebe stilz,

"Hier steh ich nun, ich kann nicht anders!"
Bin ich nun disqualifiziert, nur weil ich Deiner Ansicht nicht folgen kann?
Vielleicht bin ich doch nur Letzte im Rennen. Aber das wäre auch schon was.

sedna
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