Atmen, du unsichtbares Gedicht

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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stilz
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von stilz »

Liebe sedna,

:D selbst wenn ich es wollte (und das will ich nicht!): Dich zu "disqualifizieren" stünde mir nicht zu.

Aber was soll ich machen: ich stehe halt hier, und auch ich kann im Augenblick nicht anders, als eben bei meiner Ansicht zu bleiben, statt Deiner zu folgen...

Dieses "Rennen" dauert wohl noch etwas länger. Es wird sich schon zur rechten Zeit herausstellen, wer schließlich Letzter geworden sein wird... :D

Herzlichen Gruß,

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
vivic
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von vivic »

Vielen Dank, ihr tapfere Rilkeaner, fuer eine Diskussion die mich bis jetzt sehr interessiert hat. Besonders tapfer fand ich Stilz, wenn sie kategorisch behauptet dass Rilkes Gedichte eine eindeutige Bedeutung haben. Vielleicht war das ein Wenig uebertrieben in der Hitze des Gefechts?

Darauf nur zwei Gedanken: erstens, dass der Rodin-Schueler Rilke im Jahre 1903 ein sehr besonderer Rilke war, dessen Ideen ueber die Dichtung sich doch spaeter aenderten; das Gedicht WENDUNG ist hier ein wichtiger Entscheidungspunkt.

Zweitens, dass der meistens sehr ernste Rilke doch eine spielerische und manchmal sogar humoristische Seite hatte. Man muss nicht jede Zeile allzu ernst nehmen. Wenn er zB in diesem Gedicht schreibt

Erkennst du mich, Luft, du voll noch einst meiniger Orte

lese ich dass zum Teil als einen liebenswuerdigen, luftigen (!) Humor. Er hasste zwar das Lachen (und Biertrinken!) aber Laecheln war ihm sehr lieb. Und so wuerde ich euch auch empfehlen, ein Wenig zu laecheln und euch nicht zu zanken. Ich lerne sehr viel von euch, Stilz, Sedna, Liloufan...

Vivic
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stilz
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von stilz »

Lieber vivic,

:D herzlichen Dank für diese „Tapferkeitsmedaille“:
„Besonders tapfer fand ich Stilz, wenn sie kategorisch behauptet dass Rilkes Gedichte eine eindeutige Bedeutung haben.“

Das klingt ein wenig, als wirke ich auf Dich wie Don Quijote, unbeirrbar gegen Windmühlen kämpfend... :wink:

Ich möchte präzisieren: mit „eindeutigem Sinn“ meine ich nicht etwa, daß dieser Sinn sich allen Lesern sofort und ganz unmißverständlich erschließen müßte. Und schon gar nicht möchte ich für meine Lesart irgendeine „Verbindlichkeit“ in Anspruch nehmen, nur weil ich meine Meinung für „richtiger“ halte als andere Meinungen.

Aber ich lasse mich nicht davon abbringen, davon auszugehen, daß Rilke etwas Bestimmtes im Sinn hatte, wenn er ein Gedicht schrieb, und nicht etwas „Unbestimmtes“ und in diesem „unbestimmten“ Sinne „Mehrdeutiges“.

Deshalb habe ich zitiert, was er an Lou Andreas-Salomé geschrieben hat, und was ich hier wiederholen möchte: »Das Ding ist bestimmt, das Kunst-Ding muß noch bestimmter sein; von allem Zufall fortgenommen, jeder Unklarheit entrückt, der Zeit enthoben und dem Raum gegeben, ist es dauernd geworden, fähig zur Ewigkeit.«

Wie sehr Rilke um solche „Bestimmtheit“ bemüht war, zeigt sich auch in dieser Briefstelle (an einen Arbeiter, der ihm ein Manuskript übersandt hatte): »Ich weiß nicht, welches métier Sie erlernt haben -, aber als Arbeiter muß Ihnen immerhin die Erfahrung eines gewissen Könnens innewohnen, und die Freude am Gut-Machen einer Sache kann Ihnen nicht so ganz fremd geblieben sein. Wenn Sie einen Augenblick von diesem guten, verläßlichen Boden aus auf das Gewoge Ihrer schriftlichen Leistungen hinausblicken, so wird Ihnen nicht entgehen, wie sehr dort der Zufall mit Ihnen spielt und wie wenig Sie sich erzogen haben, die Feder als das zu gebrauchen, was sie vor allem ist: als ein redliches, genau beherrschtes und verantwortetes Werkzeug.«


Wenn ich am Strand eine Muschel finde, dann kann ich mich an ihrer Schönheit erfreuen, sie mit nach Hause nehmen, sie als Tischdekoration verwenden, auf eine Kette fädeln oder auch, wenn sie groß genug ist, sie als Schale für Knabbergebäck oder Konfekt benutzen. Ich kann sie sogar auch ans Ohr halten und lauschen und mir einreden, daß ich darin etwas anderes rauschen höre als mein eigenes Blut ... wunderschön!
Das alles mag seine Berechtigung haben - und in jedem dieser Kontexte gewinnt die Muschel eine andere Bedeutung.

Aber das alles hat nichts mit der Frage zu tun, wovon die Muschel Zeugnis ablegt. Ich meine die Frage nach dem, was einstmals in ihr gelebt hat.

Und das genau ist halt die Frage, die mich auch im Zusammenhang mit Rilkes Gedichten interessiert...

Ich sage das mit einem Lächeln auf den Lippen.
Denn ich finde, auch ein Lächeln, selbst wenn es manchmal schwer zu deuten sein sollte :wink:, ist etwas Bestimmtes...

:D

Herzlichen Gruß!
stilz
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von vivic »

Liebe Stilz, deine Muschel gefaellt mir sehr! So nett, so anschaulich ausgedrueckt! Da muss ich mir ueberlegen, wie ich eigentlich ein Gedicht lese, und wie es dann in meinem Leben weiter lebt. Bleiben wir bei dem Sonnett, Atmen... ich finde nicht, dass so ein Gedicht sich bei mir zerlegt in ein Auesseres (Muschel) und ein Inneres (Schnecke, Bedeutung, Sinn). In meiner Erfahrung ist es eine Einheit. Ich habe es schon lange auswendig and sage es manchmal laut, besonders wenn ich wandere. Es atmet selber; es hat eine eigene Bewegung; ja, es ist etwas ganz Bestimmtes, ein Kunstding, wenn du es so nennen moechtest. Natuerlich hat es auch eine logische Seite, und diese ist vieldeutig: ein Gewebe von Themen die in Rilke's Werk auftauchen; atmen war ihm ja sehr wichtig, und der Leser kann sich dann an Verschiedenes in den Elegien erinnern, zB:

hier ist alles Abstand, und dort wars Atem (in der "ersten Heimat")

oder

wie ueberholtest du den Geliebten oft, atmend,
atmend nach seligen Lauf, auf nichts zu, ins Freie (und darauf: HIERSEIN IST HERRLICH.)

und dann (besonders beim uebersetzen!) kann ich mir auch den Kopf zerbrechen, wenn ich versuche diese verflixten Pronomina zu verstehen! (Und das war ja meine Frage hier.) Aber fuer mich sind diese logischen, philosophischen Fragen nicht das Entscheidende. Das "Bestimmte" (deine Schnecke) fuehlt man irgendwie, das atmet, das geht ins Blut. Ein Gedicht ist nicht ein kleiner Aufsatz den man in Prosa ausdruecken kann. Das "Bestimmte" ist nicht irgend eine "Wahrheit" die man auch philosophisch schreiben koennte; die Schnecke die es zusammenhaelt ist etwas wie Musik. Orpheus ruehmt, preist, SINGT eben; er erklaert nicht, beweist nichts.

Does this make any sense? In the end, a poem is as much a sensual object as it is an intellectual one. Both, woven inextricably together. In MY experience. (Es geht so viel leichter in meiner eigenen Sprache! Entschuldige!) Aber es gibt viele Gedichtsarten und viele Leser. Hier gibt es kein Zwang.

Genug! Vielen Dank fuer diese Anregung, Stilz.

Vivic
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von stilz »

Lieber vivic,
vivic hat geschrieben:In the end, a poem is as much a sensual object as it is an intellectual one. Both, woven inextricably together.
(No need to apologize - I love the English language! :D )


Yes!!!! Thank you very much for putting it all in a nutshell (or should I rather say: sea shell :wink: ?). I'm totally with you.
And the question I am interested in is:
In Rilke's poems, the sensual as well as the intellectual, as inseparable as the two sides of a coin, are the expression of --- WHAT?

---

Und auf Deutsch:
Ja!!!! Vielen herzlichen Dank für's "auf-den-Punkt-Bringen". Ich stimme Dir vollkommen zu.

Und die Frage, die mich interessiert, ist:
Sowohl das "Sinnliche" als auch das "Intellektuelle" in Rilkes Gedichten, voneinander so wenig zu trennen wie die beiden Seiten einer Münze, ist Ausdruck --- WOVON?


Herzlichen Gruß,

stilz
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von vivic »

Liebe Stilz,

Du schliesst mit einer dramatischen Frage! Darf ich vorschlagen, dass du die Frage selbst untersuchst? Ist denn ein Gedicht ein Ausdruck von etwas anderem, das irgendwie dahinter oder darunter versteckt ist, und dass man entraetzeln muss? Eine Frage ist ja ein Zeichen dass dir etwas fehlt: eine Antwort, eben. Aber wie saehe denn so eine Antwort aus? Hast du schon eine probiert? Und warum verheimlichst du sie?

Was fehlt dir wenn du das Sonnett Atmen... liest? Genuegt es dir nicht? Was drueckt denn Beethoven aus in seinen Sonaten? Oder Van Gogh in seinem gelben Stuhl? Wovon ist der Gesang des Vogels der Ausdruck? Wovon, ein menschliches Leben?

Bin ich unverschaemt?

Aber sicher: von einem Gedicht zum anderen kann einem manches fehlen zum vollen Verstaendnis oder Genuss: Zusammenhaenge mit anderen Werken, biographisches ueber den Dichter und seine Zeit, auch ganz einfach Wortschatz. Auch wenn man schon ein Gedicht sehr gern hat, kann unser Kenntnis tiefer werden durch Diskussionen wie manche der erleuchtenden in diesen Rilke.de Foren. Und fuer denen Poesie noch fremd ist, hat ein guter Lehrer oft sehr effektive Wege, seine Schueler freundlich in ein Rilke Gedicht einzuleiten, so dass fuer ein or zwei das fremde Material endlich wie eine Heimat wird.

Und EINE unter diesen Methoden ist dass er den "Inhalt" oder die "Bedeutung" uebersetzt in einfache Prosa - a "prose paraphrase," we call it in English. Fuer Anfaenger ist das manchmal sehr nuetzlich. Aber es ist im besten Fall nur eine Nachhilfe, ein Wegweiser, und fuer vielen Gedichten (zB. bei Trakl) ist es beinahe unmoeglich. Und das antwortet jedenfalls deine Grosse Frage garnicht. Ganz sicher drueckt das Gedicht nicht eine "Wahrheit" aus, die genau so gut in Prosa geschrieben werden kann!

Meine Antwort: es drueckt sich selber aus. Reiner Ausdruck. Gesang. Wortgesang, Gedankengesang, Gefuehlsgesang.

Stimmst? Oder hab ich recht?

Du regst mich immer an, meine Gedanken tiefer zu untersuchen. Vielen Dank!

Vivic
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von vivic »

Liebe Stilz, da du dir vorgenommen hast, doch meiner letzten antwortenden Antwort zu antworten (ach dieses Forum! Koennen wir uns ueberhaupt noch an der anfangenden Frage erinnern?), habe ich jetzt meine letzte Zumutung nach Monaten noch einmal gelesen und muss zugeben, dass ich mich da ziemlich losgelassen habe.

Es ist ja alles nicht so einfach. Natuerlich gibt es viele gute Gedichte, die sich doch ganz nett in Muschel und Schnecke zerlegen, Form und Inhalt, oder Wort und Bedeutung, oder Mittel und Zweck, oder wie du es sagen willst. Gerade darum ist ja ein "prose paraphrase," eine "Deutung" oder "Lesung" des Gedichtes moeglich und manchmal fuer einen Studenten nuetzlich. Es gibt zum Beispiel Gedichte welche uns aufmuntern, hier auf Erden nur tuechtig zu leiden, damit wir nach dem Tod in den Himmel gelangen, und auch welche die behaupten dass unser Tod eben das Ende unseres Lebens ist, und dass es darauf ankommt, hier auf Erden viel zu geniessen.

Und solche Gedichte, wenn sie auch zum Teil Propaganda sind, koennen doch hervorragende Werke sein. Es gibt andere, deren Botschaft weniger klar und einfach ist, manche die fragen statt predigen, manche, wo man gar kein klares Thema finden kann. Das Haus der Poesie hat viele Zimmer, und es ist alles nicht so einfach, wie ein gewisser junger Mensch es in der vorigen "Antwort" behauptet hat. Der arme alte Mann muss sich ja immer weiter bilden. Jedes Jahr denkt Vivic: Gott, was war ich vor einigen Monaten noch ein Dummkopf!

Wo dieser Gedankengang enden wird weiss ich noch nicht. Vielleicht ist es eine persoenliche Neigung: ich nehme die Schnecken gar nicht so ernst. Im Grunde genommen glaube ich dass es gar nicht sehr viel verschiedenes wahres zu sagen gibt ueber dieses geheimnisvolle Leben. Sehr viele der besten Gedichte sagen immer wieder die ganz einfachsten Wahrheiten: wir sind so klein, die Welt ist so gross, es geht alles vorueber, wir muessen sterben, ach, was fuer eine Schande, wie suess das Leben ist, wie bitter auch, usw. Wie heftig ich das Maedchen liebe aber leider liebt sie mich nicht. Wie ungerecht ist es dass es Arme gibt und Reiche, und dass die Reichen sich so wenig darueber kuemmern. Usw. Oder Kant: der sternige Himmel ueber uns, und in unseren Herzen, der moralischen Sinn. Aber W I E der Dichter diese wenigen, immer wiederkehrenden, unendlichen Themen behandelt, die Form, die Melodie, die Sprachmusik, darauf kommt es an. Die "Bedeutungen" kennen wir schon laengst. Weisheit ist billig; ein Gedicht ist eine Tat, eine Stroemung der Liebe. Die kann man garnicht "zerlegen."

Stimmt das irgendwie? Ich suche Aufklaerung von euch tapferen Rilkeaner!

Vivic
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von stilz »

Lieber vivic,

wie schön, daß Du den Faden dort wieder aufnimmst, wo ich ihn - viel zu lang! - liegengelassen habe.
vivic hat geschrieben:Ist denn ein Gedicht ein Ausdruck von etwas anderem, das irgendwie dahinter oder darunter versteckt ist, und dass man entraetseln muss? Eine Frage ist ja ein Zeichen dass dir etwas fehlt: eine Antwort, eben. Aber wie saehe denn so eine Antwort aus? Hast du schon eine probiert? Und warum verheimlichst du sie?

:D Einerseits hast Du natürlich ganz recht: dem „Atmen“-Sonett fehlt natürlich gar nichts.
Andererseits aber fehlt im sogar alles - solange es nämlich nicht auf einen Leser trifft, der es neu erschafft, indem er es laut (Laut) werden läßt.
Schon wenn wir uns darauf beschränken, das Gedicht nur im Geiste zu lesen, im Stillen, ohne die Worte wirklich auszusprechen, fehlt ihm etwas...
vivic hat geschrieben:Meine Antwort: es drueckt sich selber aus. Reiner Ausdruck. Gesang. Wortgesang, Gedankengesang, Gefuehlsgesang.

Stimmts? Oder hab ich recht?

:D Das hat mein Vater auch immer gesagt...

Ja.
Aber andererseits gibt es nunmal einen großen Unterschied zwischen einem Gedicht und dem Gesang eines Vogels oder einer Beethovensonate: das Gedicht bedient sich der Sprache. Und die Worte darin drücken etwas aus, das das „Material“ der Laute übersteigt.
Ebenso übrigens wie das Bild des Stuhls von Van Gogh: es spielt eine Rolle, daß es ein Stuhl ist und nicht eine abstrakte Form ohne eigene Bedeutung.
Das Gedicht ist also mehr als die Laute, die es bilden - ebenso wie das Bild mehr ist als das Material, aus dem es besteht (Leinwand, Farben...).

Insofern drückt ein Gedicht nicht nur „es selbst“ aus - sondern es ist auch Ausdruck von etwas.
Und zwar - dabei bleibe ich - von etwas Bestimmten. Jedenfalls im Fall von Rilke (»... das Kunst-Ding muß noch bestimmter sein; von allem Zufall fortgenommen, jeder Unklarheit entrückt...«).

Sowohl Worte als auch Dinge, die wir auch im Alltag gebrauchen, haben Konnotationen, die im Gedicht bzw im Bild eine Rolle spielen.
Diese Konnotationen verändern sich natürlich im Laufe der Zeit - das können wir am Wort „Weltraum“ erleben, und das hat ja in diesem Gespräch hier bereits eine Rolle gespielt.
Ich stimme, wie schon gesagt, lilaloufan zu, der weiter oben geschrieben hat:
lilaloufan hat geschrieben:Kleine Anmerkung – ich bin ziemlich sicher, dass Begriffe wie «Weltraum» und «Welten-Raum» zu Rilkes Zeit noch nicht die Bedeutung eines astronautisch erforschten "space" hatten; auch „κόσμος“ (Kosmos) war ja zu dieser Zeit durchaus nicht ein mit „UNIVERSUM“ gleichgesetzter Begriff.
Deshalb wage ich die folgende Übersetzung des ersten Quartetts - wohl wissend, daß sich damit ebenfalls Assoziationen hineindrängen, die aus dem heutigen Begriff „outer space“ stammen:

  • Breathing, invisible poem!
    Outer space, continually, purely
    exchanged for my own being. Counterbalance,
    wherein I, rhythmically, take place.



Und zu Deiner letzten Frage:
vivic hat geschrieben: Im Grunde genommen glaube ich dass es gar nicht sehr viel verschiedenes wahres zu sagen gibt ueber dieses geheimnisvolle Leben. Sehr viele der besten Gedichte sagen immer wieder die ganz einfachsten Wahrheiten...
Nun - einerseits ja. Andererseits aber finde ich, daß es gerade im „Atmen“-Sonett eben nicht um eine dieser „billigen“ (nicht etwa: „schlechteren“!) Weisheiten geht, die Du dann aufzählst.

Insofern mag das:
vivic hat geschrieben:Aber W I E der Dichter diese wenigen, immer wiederkehrenden, unendlichen Themen behandelt, die Form, die Melodie, die Sprachmusik, darauf kommt es an. Die "Bedeutungen" kennen wir schon laengst.
zwar häufig Geltung haben - aber wenn wir ausschließlich auf das W I E blicken wollten, würden wir meiner Ansicht nach gerade Rilke nicht gerecht.

:D Hier gebe ich Dir wieder recht:
vivic hat geschrieben:ein Gedicht ist eine Tat, eine Stroemung der Liebe. Die kann man garnicht „zerlegen.“
Es geht mir auch wirklich nicht um ein „Zerlegen“. Wie schon Goethe so treffend sagte:
Mephisto hat geschrieben:Wer will was Lebendigs erkennen und beschreiben,
Sucht erst den Geist heraus zu treiben,
Dann hat er die Teile in seiner Hand,
Fehlt, leider! nur das geistige Band.
Worum es mir geht, das hat gliwi einst sehr schön auf den Punkt gebracht - klarer kann man’s wohl nicht sagen (und ich freue mich, bei dieser Gelegenheit noch einmal an sie zu erinnern):
gliwi hat geschrieben: dazu zwei Zitate, eines von Emil Staiger, dem großen Interpreten: "Begreifen, was uns ergreift." Und eines von Goethe. "Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen."
Herzlichen Gruß,

Ingrid
Zuletzt geändert von stilz am 17. Nov 2011, 01:11, insgesamt 1-mal geändert.
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von vivic »

Liebe Stilz, ich bin voellig einverstanden. Ganz bestimmt, wenn man Sprache gebraucht als Kunst Material, dann kommen auch Bedeutungen ins Spiel. Ein Gedicht ist nicht nur Klang-Musik, sondern noch wichtiger ist es eine Musik der Bedeutungen, der Bezuege. Und, wie gesagt, manchmal kann man das auch in Prosa "bestimmen." We may have to argue sometime about the extent to which R's poems are always "entirely definite," as he once claimed and you seem to think.

Aber deine Frage ... in her Hitze des vorigen Juli ...war doch eine allgemeine, und nicht nur ueber ein bestimmtes Gedicht::
Sowohl das "Sinnliche" als auch das "Intellektuelle" in Rilkes Gedichten, voneinander so wenig zu trennen wie die beiden Seiten einer Münze, ist Ausdruck --- WOVON?

Deine Antwort habe ich noch nicht gefunden... aber die braucht wahrscheinlich etwas Zeit. :)

Vivic
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lilaloufan
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von lilaloufan »

stilz hat geschrieben::D Einerseits hast Du natürlich ganz recht: dem „Atmen“-Sonett fehlt natürlich gar nichts.
Andererseits aber fehlt ihm sogar alles - solange es nämlich nicht auf einen Leser trifft, der es neu erschafft, indem er es laut (Laut) werden läßt.
Schon wenn wir uns darauf beschränken, das Gedicht nur im Geiste zu lesen, im Stillen, ohne die Worte wirklich auszusprechen, fehlt ihm etwas...
Darüber habe ich mich, als ich es heute früh las, sehr gefreut, denn das wollte ich schon lange in dieses Gespräch hineingeben. [In dem Thread: „Gedicht interpretieren” haben wir hier schon einmal darüber gesprochen. Heute wollte ich nur diesen Querverweis einbringen.]
stilz, am 8. Juli 2011 hat geschrieben:And the question I am interested in is:
In Rilke's poems, the sensual as well as the intellectual, as inseparable as the two sides of a coin, are the expression of --- WHAT?
Dazu hab' ich eine Frage an Euch beide, vivic und stilz.

Treffen denn diese beiden Begriffe: „sinnlich“ ⇔ „intellektuell“ wirk-lich das, was Ihr als ein Beiderlei in Gedichten (bzw. im Besonderen in Rilkes Gedichten) voraussetzt? Was Du @vivic sogar dem Gedicht gleichsetzt:
vivic hat geschrieben:In the end, a poem is as much a sensual object as it is an intellectual one. Both, woven inextricably together.
Mir selbst will es durchaus nicht leicht gelingen, unmittelbar einen stimmigen Vorschlag zu formulieren; doch will ich mal – zunächst „ins Unreine“ ["in rough"] :wink: – versuchen, die Richtung anzudeuten, in der ich diese „beiden Seiten einer Medaille” suche:

Da ist zunächst die des „Dings”, die der „Werk-Welt-Erscheinung“ sozusagen: das, was der Dichter betrachtet, wofür er Sprachelemente vorfindet.

Da ist zudem die des ideellen Kosmos – für mich am nächsten ausgedrückt in dem alten Wort πνεῦμα. Hierfür schafft der Dichter sprachliche Gestaltungen neu.

Worin beides zusammenfällt (im Sinne von COÏNCIDENTIA), das ist des Dichters Interesse am Logos. Der Logos ist gewissermaßen die Golddeckung für dieses Beiderlei aus Adler und Zahl, das uns nur Gegenwert sein kann der wirklichen poetischen Erfahrung, die dem, der bloß liest wie man Zeitung liest, verborgen bleibt.

Dem, der das Gedicht als ein Literaturkonsument liest, wird, muss das, wovon es Ausdruck ist, verschlossen bleiben; ja der wird nicht einmal ein Rätsel bemerken. Wer hingegen daran sein Gemüt entzündet, der mag wohl erahnen, in welche Helle der Dichter sein Ich gehoben hat.

Wir haben hier <Link> mal über Lebens- und Todesbejahung gesprochen, und da finden sich einige Passagen aus dem vielzitierten Hulewicz-Brief vom 13. November 1924, die Rilkes Auffassung von der 'größesten' Bewusstseinsleistung des Dichters belegen gegenüber einem „Dasein (…), das in beiden unabgegrenzten Bereichen zu Hause ist, aus beiden unerschöpflich genährt … Die wahre Lebensgestalt reicht durch beide Gebiete, das Blut des größesten Kreislaufs treibt durch beide: es gibt weder ein Diesseits noch Jenseits, sondern die große Einheit, in der die uns übertreffenden Wesen, die „Engel“, zu Hause sind. Und nun die Lage des Liebes-Problems in dieser so, um ihre größere Hälfte erweiterten, in dieser nun erst ganzen, nun erst heilen Welt.“ Dort spricht Rilke von einem „Bezug [hier: der „Sonette an Orpheus“ l.] nach der Mitte jenes Reiches hin, dessen Tiefe und Einfluss wir, überall unabgegrenzt, mit den Toten und den Künftigen teilen. Wir, diese Hiesigen und Heutigen, sind nicht einen Augenblick in der Zeitwelt befriedigt, noch in sie gebunden; wir gehen immerfort über und über zu den Früheren, zu unserer Herkunft und zu denen, die scheinbar nach uns kommen. In jener größesten „offenen“ Welt sind alle, man kann nicht sagen „gleichzeitig“, denn eben der Fortfall der Zeit bedingt, dass sie alle sind. Die Vergänglichkeit stürzt überall in ein tiefes Sein. Und so sind alle Gestaltungen des Hiesigen nicht nur zeitbegrenzt zu gebrauchen, sondern, soweit wirs vermögen, in jene überlegenen Bedeutungen einzustellen, an denen wir Teil haben.“

Ob da vielleicht die beiden Seiten der Münze angedeutet sind, nach denen Ihr sucht?

{Um einem Missverständnis vorzubeugen: Ich meine selbstverständlich nicht, dass in einem jeden Gedicht dieses Beiderlei ein stereotyper Ausdruck desselben sei, derselben künstlerischen Intention womöglich gar. Dann wäre der Dichter nicht Künstler, sondern Ideologe, Missionar, Autist. Und doch geht ein Rilke-Spezifisches durch alle (aber selbst in diesem Spezifischen – das mehr ist als ein bloßer „Stil“ – haben kluge Menschen ja Phasen und Verwandlungen, ja „Wendungen“, identifizieren können…).}

Doch nun will ich nicht weiter von der Hauptfrage ablenken:
vivic hat geschrieben:
Aber deine Frage ... in her Hitze des vorigen Juli ...war doch eine allgemeine, und nicht nur ueber ein bestimmtes Gedicht::
Sowohl das "Sinnliche" als auch das "Intellektuelle" in Rilkes Gedichten, voneinander so wenig zu trennen wie die beiden Seiten einer Münze, ist Ausdruck --- WOVON?
Gruß in die Runde,
l.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von stilz »

vivic hat geschrieben:Deine Antwort habe ich noch nicht gefunden... aber die braucht wahrscheinlich etwas Zeit. :)
Lieber vivic,

:D da hast Du ganz recht: meine Antwort auf diese Frage braucht sicherlich noch seeeeehr viel Zeit.

Ich kann Dir aber eine Antwort Rilkes geben - sie genügt mir einstweilen:

»... und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in Ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst liebzuhaben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.«


Die Fragen leben --- ist es nicht gerade das, was wir hier in diesem Forum zu tun versuchen?


Lieber lilaloufan, danke auch für Deine Gedanken dazu.

Könnte man sagen: wir machen uns auf die Suche nach Rilkes Inspiration?

Und noch ein besonderes Danke für diesen Satz Rilkes:

»Und so sind alle Gestaltungen des Hiesigen nicht nur zeitbegrenzt zu gebrauchen, sondern, soweit wirs vermögen, in jene überlegenen Bedeutungen einzustellen, an denen wir Teil haben.«

Herzlichen Gruß,
Ingrid
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von stilz »

vivic hat geschrieben:We may have to argue sometime about the extent to which R's poems are always "entirely definite," as he once claimed and you seem to think.
Lieber vivic,
dazu möchte ich sagen:

Wenn wir uns wirklich auf die Suche nach der Inspiration Rilkes machen wollen (und ich will das), dann gibt es unzählige Fragen und sicherlich auch einige "Antworten", die uns weiterführen können auf diesem Weg.
Aber es gibt auch "Antworten", die uns dabei hinderlich sein können, uns - um mit lilaloufan zu sprechen - der "Helle" zu nähern, in die "der Dichter sein Ich gehoben hat".
Für ein solches Hindernis halte ich die Annahme, das, was sich in Rilkes Gedichten ausdrückt, sei nichts Bestimmtes... oder gar: nichts.

Ich freue mich sehr über dieses Gespräch. Danke.
Herzlichen Gruß nochmal,

Ingrid
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von vivic »

Liebe Stilz,

Wenn man behauptet, dass eines (von den vielen) Gedichten Rilkes nicht EINEN bestimmten Inhalt hat, dann sagt man damit nicht dass es gar keinen Inhalt hat. Vielleicht moechte man ZB sagen, dass da verschiedenes ausgedrueckt wird, oder dass der Dichter vielleicht ganz absichtlich den Leser mehrere Moeglichkeiten offenlassen will.

Jedenfalls: >>Für ein solches Hindernis halte ich die Annahme, das, was sich in Rilkes Gedichten ausdrückt, sei nichts Bestimmtes... oder gar: nichts.<< Das letztere wuerde ich nie sagen wollen.

Die Diskussion wird viel komplizierter wenn wir ALLE Gedichte Rilkes zusammen befragen: was wird da ausgedrueckt? Was hat der Dichter ueberhaupt in seinem Lebenswerk ausdruecken wollen? Solch eine Frage ueberhaupt zu unternehmen, nimmt doch an, dass der gute R sich nie wesentlich entwickelt habe. Da wuerde ich einmal das Gedicht WENDUNG ernst nehmen.

Der Rilke der Neuen Gedichte ist der Rodin Schueler, da ist das Kunstding zu Hause, da trachtet er, moeglich konkret zu sein. Zehn Jahre spaeter, in Muzot, hatte er sich wesentlich geaendert. Kurz gefasst, da ist er von Anschaun uebergegangen zum Ruehmen, das ists, Preisen, Gesang. Und da drueben spricht er nicht mehr so viel von Bestimmtheit.

Stilz, Lilaloufan, ich muss mir viel Zeit nehmen eure wichtigen Zeilen zu ueberlegen. Machen wir weiter, und immer wieder, vielen Dank!!

Vivic
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von lilaloufan »

vivic hat geschrieben:"Was hat der Dichter ueberhaupt in seinem Lebenswerk ausdruecken wollen?" Solch eine Frage ueberhaupt zu unternehmen, nimmt doch an, dass der gute R sich nie wesentlich entwickelt habe. Da wuerde ich einmal das Gedicht WENDUNG ernst nehmen.
Lieber Vito Victor,
hier berührst Du gemeinsame Geheimnisse
vivic hat geschrieben:Es muss immer noch Geheimnisse geben, und obwohl ich dieses Gedicht vielleicht nie ganz verstehen werde, kenne ich es schon lange auswendig, und wenn ich es sage, hat es einen wunderbaren Atem!
nicht nur von Biografik und von Biographie, sondern auch von allem Beseelten und sogar von allem Lebendigen überhaupt – und wenn man mal davon ausgeht, dass alles Soziale nur durch Dirigismus seines Organismus-Charakters entfremdet wird und weiterhin, dass die Erde als Ganze ein Organismus ist und überdies, dass der von uns erblickte Sternenhimmel nicht ein Bild, sondern ein Fließgeschehen ist, dann kann man sagen, Du berührst das Urgeheimnis aller Verwandlungsprozesse und damit aller Geheimnisse überhaupt: ein Meta-Geheimnis sozusagen, und es ist das Offenbare. Im Sinne Goethes nämlich; der spricht vom »Durchgängigen in der Erscheinung«.

Ich will – nach einer notwendigen Vorbemerkung, die „das Unternehmen entschuldigt und die Absicht einleitet“ :wink: – versuchen, an den mitteleuropäischen Baum-Gestalten zu illustrieren, was ich meine. Nicht (nur) wegen:
vivic hat geschrieben:Dann der Baum. Hier benutze ich Beziehungen zu anderen Gedichten. Die erste Reihe der Orpheus Sonette beginnen bekanntlich auch mit einem Baum,

Da stieg ein Baum.

und dieser ein Symbol des Orphischen Gesanges. Sind Baueme bei R denn oft Symbole des kuenstlerischen Ausdrucks? Auch in Orpheus II, #XVIII (Taenzerin…) ist Vera’s Tanz als ein “Baum der Bewegung” beschrieben. Koennten wir sagen dass dieses Gedicht wirklich ueber das Dichten ist? Dann ist das Einatmen die Welterfahrung des Dichters, und seine Werke das Ausatmen. Gehe ich hier in der richtigen Richtung?
Das stand ja am Anfang dieses schönen Gesprächs, und Du kommst darauf nun zurück.

Wenn ich Dich richtig verstehe, möchtest Du Rilkes Bemerkung:
Rainer Maria Rilke hat geschrieben:»Das Ding ist bestimmt, das Kunst-Ding muss noch bestimmter sein; von allem Zufall fortgenommen, jeder Unklarheit entrückt, der Zeit enthoben und dem Raum gegeben, ist es dauernd geworden, fähig zur Ewigkeit.«
nur gelten lassen für die Werkepoche der Neuen Gedichte. Später sei er »von Anschaun uebergegangen zum Ruehmen«

Hier hat gliwi einmal – im Zusammenhang mit einer unvermutet lebendigen Diskussion über eine aus meiner Sicht abwegige Interpretation der Inschrift auf Rilkes Grabstein – auf folgendes hingewiesen:
gliwi hat geschrieben:„Warum sollte ausgerechnet sein ‹Vermächtnis› so sehr von seinen sonstigen Gedichten abweichen. Er hat niemals absichtlich etwas verschlüsselt, und wenn uns etwas schwierig erscheint an seinen Gedichten, dann, weil wir noch nicht so weit sind, wie er gekommen ist. Mallarmé und Celan beispielsweise wollen ihre Gedichte vor Zudringlichkeit schützen, die ‹verrätseln› schon. Aber Rilke hätte sicher nichts dagegen gehabt, auch von Menschen ohne Zugang zur Literatur ‹verstanden‹ zu werden.“
Ich finde beim späten Rilke ausnahmslos nur solches Rühmen, das ausgeht von gewissenhaftestem Anschaun.

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Eigentlich wollte ich, oben schon angekündigt, hier einen Gedanken entwickeln über Wendungen in jeder Entwicklung. Aber jetzt werde ich gerufen und muss sozusagen „die Werkstatt vorübergehend schließen“. Ich schicke dieses Vorwort schon mal ab……… :wink:

Liebe Grüße,
Christoph
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
vivic
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Re: Atmen, du unsichtbares Gedicht

Beitrag von vivic »

Freunde, hier moechte ich noch ein Gedicht in die Diskussion bringen, Orpheus I (11):

Steh den Himmel. Heißt kein Sternbild »Reiter«?
Denn dies ist uns seltsam eingeprägt:
dieser Stolz aus Erde. Und ein Zweiter,
der ihn treibt und hält und den er tragt.

Ist nicht so, gejagt und dann gebändigt,
diese sehnige Natur des Seins?
Weg und Wendung. Doch ein Druck verständigt.
Neue Weite. Und die zwei sind eins.

Aber sind sie's? Oder meinen beide
nicht den Weg, den sie zusammen tun?
Namenlos schon trennt sie Tisch und Weide.

Auch die sternische Verbindung trügt.
Doch uns freue eine Weile nun
der Figur zu glauben. Das genügt.

Das erste Wort ist ein Druckfehler bei euch, sollte SIEH heissen.

Dieses ist in der Rilke-Literatur oft erwaehnt als ein Hinweis, dass Rilke nicht IMMER seine Gedanken oder Konstruktionen ganz absolut nimmt. Hier laesst er ganz nett den Leser die Moeglichkeit: vielleicht gefaellt es dir, SO zu spielen, vielleicht klappt das fuer dich, aber vielleicht auch nicht, man muss sich nicht an irgend einer Interpretation festhalten. ("Bang verlangen wir nach einem Halte...") Er war vielleicht raffinierter und mehr "postmodern," als manche seiner philosophischen Leser. Da mache ich gerne mit.

Wie das uns HIER angeht, bin ich nicht sicher. Ich aber finde dieses Gedicht wichtig.

Vito
Aber noch ist uns das Dasein verzaubert; an hundert Stellen ist es noch Ursprung.
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