Boris,
Deine Fragen sind für mich eine Herausforderung, die noch andauert. Meine ersten Gedanken dazu bitte erst mal als Fragment einer Anregung betrachten, nicht etwa als ausgeformte Erklärung.
borisg hat geschrieben:1) Es ist nichts andres. Nur ein Meer,
aus dem die Länder manchmal steigen.
Es ist nichts andres denn ein Schweigen...
Worauf bezieht sich das "es"? Was ist nichts anders?
Dieses
ist steht meines Erachtens für Dasein, Existenz, daher würde ich Dir vorschlagen (im Falle einer Auswahl von mehreren Begriffen im Hebräischen), das Verb zu nehmen, welches am tiefsten diese pure Seinsaussage enthält: reines, sich selbst aussagendes Dasein. Heißt nicht, es
gibt sonst nichts andres – es stellt vielmehr das Individuelle heraus: was (da)
ist, steht, und zwar für sich und nichts andres ausstrahlt, als sich selbst (mal gewagt behauptet: und wird dadurch glaub-würdig)
Daher meine ich, daß sich das scheinbar unpersönliche
es wegen der Doppelung in der Strophe enger gefaßt auf das Existieren des Ich und Du im Gedicht beziehen könnte: Das ureigentliche Mönchsein ist im Schweigen, das Gottsein im Meer ausgedrückt und bedarf nichts andres. (Dazu fällt mir ein: Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand

)
Andererseits transportiert
es ist nichts andres weitaus mehr, aber dieser weitere Sinn an dieser Stelle entzieht sich mir immer wieder. Vielleicht hilft Dir ja das bislang Gesagte schon weiter.
Es gibt hingegen paßt hier nicht, es klänge im übrigen zu allgemein, ja, unpersönlich, während in Rilkes
ist Eigenes und Seele mitschwingt.
Und das führt jetzt nicht nur zum Gottesbegriff in Rilkes Kunstauffassung, sondern auch zu Deiner nächsten Frage.
borisg hat geschrieben:Bin ich denn nicht das Allgemeine,
bin ich nicht Alles, wenn ich weine,
und du der Eine, der es hört?
Was bedeutet denn "das Allgemeine"? Ist das ein philosophischer Begriff?
Ja, durchaus. Das würde ich aber nicht überbewerten, weil Rilke meines Erachtens solche Theorien – wie auch einen christlichen Gottesbegriff in der Bibel – nach seiner Auffassung für seine Kunst umgeformt und als Eigenes hat hervortreten lassen (nur so aus dem Werk selbst heraus eröffnet sich mir beispielsweise der Zugang zu einem für mich unmittelbarn Verstehen von Rilkes Kunst. Daher kann man Rilkes Stundenbuch-Gebete nicht als "blasphemisch" bezeichnen, wie es einem schonmal begegnet, denn das wäre so eine elende gebändigte Sichtweise des eigentlich schön entfesselten Gottesbegriffs bei Rilke)
Es wird also kein gleichförmiger universaler Gott der Allgemeinheit, sondern der persönliche gesucht. (Beispiel aus Rilkes MALTE: "Ist es möglich, daß es Leute giebt, welche 'Gott' sagen und meinen, das wäre etwas Gemeinsames?") Und dieselbe Haltung begegnet mir im Stunden-Buch und verstehe ich aus einer Haltung gegenüber künstlerischem Schaffen heraus, die eine Antwort auf Deine Frage nach dem
Allgemeinen in diesem Gedicht geben könnte. Sie wäre also eng verbandelt mit folgender 'Offenbarung' aus
Worpswede (Hervorhebungen von mir):
"Der Künstler von heute empfängt von der Landschaft die Sprache für seine Geständnisse und nicht der Maler allein. Es ließe sich genau nachweisen, daß alle Künste jetzt aus dem Landschaftlichen leben. Sehr leicht ist zum Beispiel an altmodischen Gedichten zu sehen, wie man zaghaft glaubte, mit den Mitteln der Landschaft nur
das Allgemeine sagen zu können;
man meinte das Höchste erreicht zu haben, wenn man die Jugend dem Frühling, den Zorn dem Gewitter und die Geliebte der Rose verglich; man wagte gar nicht persönlicher zu sein, aus Furcht, von der Natur im Stiche gelassen zu werden.
Bis man fand, daß sie nicht nur für die Oberfläche der Erlebnisse einige Vokabeln enthielt, sondern vielmehr Gelegenheit bot, gerade das Innerste und Eigenste, das Allerindividuellste, bis in seine feinsten Nüancen hinein, sinnlich und sichtbar zu sagen. Mit dieser Entdeckung beginnt die moderne Kunst."
Jetzt werde ich nochmal ganz vorne anfangen, weil ich ein wenig querverweisen möchte.
In Rilkes Künstlermonographie
Worpswede (Erstveröffentlichung1903) findet sich zur ersten Strophe des Gedichts eine Entsprechung in der Beschreibung eines Lebensgefühls in der Künstlerkolonie Worpswede aus der Entstehungszeit des Stunden-Buchs:
"ein atemloses fortwährendes sich Hingeben an alles, was kam und was einen mitnahm und zurückließ wie eine Welle, so daß man immer wieder auf die nächste Welle wartete, die einen noch weitertragen sollte. Das führte immer tiefer ins Meer hinaus; aber auch das war gut: denn man lernte, wenn man an den Strand zurückwollte, die Arme gebrauchen."
Diese Wellen-Metapher
du bist immer noch die Welle / die über alle Dinge geht wechselt dann den Stil, wird als individuelle hin- und herwogende Suchbewegung nach Gott schließlich
das Allgemeine verschweigen (also das Landschaftliche mit-Gott-Vergleichen), weil das die lyrische Form jetzt innehat (ich kann so was nicht gut erklären

), aber es wird hier vielleicht klar, daß
Gott wie eine Welle geht oder
das Innerste und Eigenste, das Allerindividuellste, bis in seine feinsten Nüancen hinein, sinnlich und sichtbar gesagt wird:
"Bist du denn Alles, - ich der Eine,
der sich ergiebt und sich empört?
Bin ich denn nicht das Allgemeine,
bin ich nicht Alles, wenn ich weine,
und du der Eine, der es hört?"
Daß sich an dem Gewoge nichts geändert hat, sagt das gebetsmühlenartige Wiederholen seiner Position: Ich bin hier immer noch derselbe mönchisch Lebende aus dem 1. Buch, wo wir ja bereits lesen konnten:
"Denn jedem wird ein andrer Gott erscheinen,
bis sie erkennen, nah am Weinen,
daß durch ihr meilenweites Meinen,
durch ihr Vernehmen und Verneinen,
verschieden nur in hundert Seinen
ein Gott wie eine Welle geht."
Und kurz davor noch dieses:
"So hat man sie gemalt; vor allem Einer,
der seine Sehnsucht aus der Sonne trug.
Ihm reifte sie aus allen Rätseln reiner,
aber im Leiden immer allgemeiner:
sein ganzes Leben war er wie ein Weiner,
dem sich das Weinen in die Hände schlug."
Ich vertiefe mal kurz am Beispiel des Leids: Übertragen auf die fragliche Stelle könnte
das Allgemeine vielleicht nicht als etwas Abgehobenes, sondern als Sehnsucht nach persönlichem Bezug gedeutet werden:
Bist du denn pures Leid – ich der Leidende, der sich ergiebt und sich empört?
Bin ich denn nicht alles Leid der Welt, bin ich nicht pures Leid, wenn ich weine und du der Mitleidende, der mich hört?
Und der einzige, der mich persönlich verstehen kann.
Öh, irgendwie fehlt da noch einiges. Ich muß nochmal drüber schlafen.
sedna (befürchtet, noch mehr Fragen aufgeworfen zu haben ...)
