Gute Frage, auch wenn das Wort »verorten« ein Modewort geworden ist, mit dem jetzt auf dem ganzen Erdball verortet wird, was nicht niet– und nagelfest ist.
»Im Gegensatz zum Gesamtwerk« würde ich als Formulierung nicht wählen, die topologische Aufgabe bezieht sich doch vermutlich eher auf die Stellung der »Neuen Gedichte« innerhalb des Gesamtwerks, von dem sie einen Teil darstellen. Das »Rilke-Handbuch« nimmt folgende Einteilung vor (
http://lbib.de/Rilke-Handbuch-Leben-Wer ... ngel-16638):
3. Dichtungen und Schriften 175
3.0 Vier Werkphasen 175
3.1 Das Frühwerk 182
3.1.1 Lyrik 182
Die frühen Gedichtsammlungen 182
Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke 210
Das Stunden-Buch 216
Das Buch der Bilder (1. Fassung, 1902) 227
Einzelgedichte bis 1902 233
3.1.2 Erzählungen 239
3.1.3 Dramatische Dichtungen 264
3.2 Das mittlere Werk (1902–1910) 283
Die weiße Fürstin (2. Fassung, 1904) 283
Das Buch der Bilder (2. Fassung, 1906) 290
Neue Gedichte / Der Neuen Gedichte anderer Teil 296
Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge 318
Einzelgedichte 1902–1910 336
3.3 Das späte Werk (1910–1922) 355
Das Marien-Leben 355
Duineser Elegien 365
Einzelgedichte 1910–1922 384
3.4 Späteste Gedichte (1922–1926) 405
Die Sonette an Orpheus 405
Deutschsprachige Einzelgedichte 1922–1926 424
Französische Gedichte 434
3.5 Das übersetzerische Werk 454
3.6 Schriften zu Kunst und Literatur 480
3.7 Das Briefwerk 498
Darüber kann man streiten, aber dies wäre mindestens eine Grundlage zur Diskussion. Ob man die »Elegien« und die »Sonette an Orpheus« unterschiedlich datieren muß, möchte die Frage sein. Eine andere Frage ist, wie man die einzelnen Werke und Werkepochen von Rang und Gewicht her beurteilt. Rilke selbst war erst erlöst, nachdem er die Elegien geschrieben hat, 1922 – darauf lief in seinem Leben alles hinaus, das Elegienwerk rangiert in seiner dichterischen Selbstwahrnehmung zweifellos an höchster Stelle; Form und Diktion der »Neuen Gedichte« hat er selbst als eine abgeschlossene Phase seiner Produktion verstanden (wie den »Malte«) – im Gedicht »Wendung« schwingt etwas davon mit. Lou Andreas-Salomé, falls mich die Erinnerung nicht täuscht, hat das »Stundenbuch« höher geschätzt als die »Neuen Gedichte«, was mir schwer begreiflich ist, aber das will ich jetzt nicht begründen. Für Hofmannsthal zeigt sich der ›wahre‹ Jakob hätte ich beinah gesagt, der wahre Rilke eher in den »Neuen Gedichten«. Einige Gedichte dieser Sammlung sind sicher vollkommen, man kann nichts wegnehmen und nichts hinzufügen – auch wenn man sie auf die Geschichte der deutschen Lyrik im ganzen hin liest, waren sie etwas Neues und Bleibendes. Ich schätze auch einige der versprengten späteren Gedichte zwischen den »Neuen Gedichten« und dem Spätwerk sehr, nicht zuletzt weil sie eben keiner sog. Werkphase exakt zuzuschreiben, mithin auch nicht so leicht zu »verorten« sind. Ein solches Kategorisieren geschieht ja auch zu Lasten des einzelnen Textes.
Freundliche Grüße,
h.