Eingang 1.Buch der Bilder / 1.Teil

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

Moderatoren: Thilo, stilz

Blub
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Eingang 1.Buch der Bilder / 1.Teil

Beitrag von Blub »

Hallo!

Eingang

Wer du auch seist: am Abend tritt hinaus
aus deiner Stube, drin du alles weisst;
als letztes vor der Ferne liegt dein Haus:
wer du auch seist.
Mit deinen Augen, welche müde kaum
von der verbrauchten Schwelle sich befrein,
hebst du ganz langsam einen schwarzen Baum
und stellst ihn vor den Himmel: schlank, allein.
Und hast die Welt gemacht. Und sie ist groß
und wie ein Wort, das noch im Schweigen reift.
Und wie dein Wille ihren Sinn begreift,
lassen sie deine Augen zärtlich los...

Mich würde interessieren was ihr über das Gedicht denkt und wisst.
Das Motiv mit der Stube und der Weite, findet sich im Gedicht "Am Rande der Nacht" wieder - welches mein liebstes Gedicht von Rilke und ebenfalls im Buch der Bilder enthalten.
Die Zeile >hebst du ganz langsam einen Schwarzen Baum und stellst ihn...< macht mir Probleme. Ist es bildlich zu verstehen, das er letztlich den Baum schlicht vor sich sieht und ihn, mit dem Himmel als Hintergrund, hervorhebt? - eine Perspektive? Oder ist's Symbolisch: den schwarzen Baum als tot betreachten und den Himmel als Grund der Schöpfung? Ich habe vieles aber nicht alles von Rilke gelesen; ein schwarzer Baum als Motiv ist mir nicht bekannt - euch?
Es ist das erste Gedicht im Buch der Bilder, was mir plausibel erscheint; mehr oder minder Explizit, verstehe ich das Gedicht, als eine Aufforderung zur Reflexion respektive genauerer Betrachtung der "Dinge"; es scheint mir programmatisch für "Das Buch der Bilder".
Die Augen verstehe ich, gerade in Bezug auf die verbrauchte Schwelle, als eine starre, veraltete, saturierte Sichtweise, die sich, wie in der letzte Zeile verdeutlicht, verflüchtigt bzw. reflektiert wird. Was die Augen los lässt - auch hier stellt sich mir die Frage, auf was es sich bezieht? >Lassen sie deine Augen...< , es handelt sich demnach um mehrere-?
Ich denke ich verstehe das Gedicht ansatzweise intuitiv, eure Meinung würde mich jedoch interessieren. Vielleicht gibt es Bezüge auf andere Gedichte; eventuell übersehe ich etwas oder folge einen falschen Ansatz?

P.S.: Da ich das Forum schon des öfteren durchforstet habe: Nein, mein Anliegen, euch hier um Rat und Meinung zu bitten, unterliegt keiner schulischen Intension!

Ich freue mich auf Antwort,
Steffen.
sedna
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Re: Eingang 1.Buch der Bilder / 1.Teil

Beitrag von sedna »

Meine Empfehlung wäre, immer etwas um ein einzelnes Gedicht herum zu lesen; wann und wo ist es entstanden, welche anderen Gedichte, welche Briefe hat er zur besagten Zeit geschrieben. Selbstverständlich gibt es Bezüge zu anderen Gedichten, und es ist spannend, diese mit Deinem eigenen Verständnis allmählich selbst zu entdecken (was bringt’s Dir an Erkenntnisgewinn, wenn Du immer schon alles vorher gesagt bekommst - auch ich werde immer etwas übersehen, morgen anders sehen und Dir nur etwas, nie alles sagen können)
Rilke hat sich sehr intensiv mit Kunst beschäftigt, vor allem Malerei und Bildhauerei.
Zur Entstehungszeit, am 24. Februar 1900, lebte er in Berlin-Schmargendorf. In sein Tagebuch notierte er zu diesem Gedicht:

"Bei einem Abendgang in stiller, weicher, dunkelnder Luft, Dahlemer Straße, am 24. Februar."

Nein, Bäume sind nie tot bei Rilke, es sei denn, er sagt das ausdrücklich. Es ist Winter, die Bäume ruhen, ihre Lebenssäfte fallen im Herbst und steigen erst wieder im Frühjahr. Die Laubbäume sind kahl. Wenn Du Bäume im Zwielicht gegen den Himmel betrachtest, sind diese schwarz. Und je nach Baumart, Licht und Luftbeschaffenheit sind dunkle Einzelbäume mit ihrem filigranen Astwerk gegen den Abendhimmel ein absoluter Hingucker ! Irgendwann lassen deine Augen dann die Welt, den Baum, wieder los, wenden sich anderen Dingen zu - ja, du hast zwei Augen, oder nicht?
Den Baum betrachte ich als Allegorie für Rilkes "Stirb und Werde" als Dichter, den inneren Prozeß, der nie zweimal denselben Winter, den selben Frühling erleben und immer Neues hervor bringen wird. Hier zum Beispiel war’s ein "Buch der Bilder".

"Ein Gedicht hat gestern wie heute keineswegs die gleiche Bedeutung, weder für den Leser noch für den Dichter selbst. Das einmal Geschriebene beziehungsweise Gelesene verwandelt sich unmerklich, verändert seine Farbe mit seiner veränderten Stellung in Zeit und Bewusstsein." Gunnar Ekelöf
die ein ausbrechendes Lied in die Unsichtbarkeit wirft!
stilz
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Re: Eingang 1.Buch der Bilder / 1.Teil

Beitrag von stilz »

Lieber Steffen,

wie sedna schon angedeutet hat:
"Lassen sie deine Augen zärtlich los" - die Wortstellung täuscht: in diesem Satz sind die Augen das Subjekt, und das Objekt "sie" bezieht sich auf die "Welt", die von diesen Augen losgelassen wird.

Und diese "Welt", das, was losgelassen wird, meinst Du wohl auch, wenn Du schreibst:
Steffen hat geschrieben: Die Augen verstehe ich, gerade in Bezug auf die verbrauchte Schwelle, als eine starre, veraltete, saturierte Sichtweise, die sich, wie in der letzte Zeile verdeutlicht, verflüchtigt bzw. reflektiert wird.
Ich sehe es etwas anders. Für mich ist es nicht unbedingt eine "starre, veraltete, saturierte" Sichtweise (obwohl das natürlich auch sein kann), sondern ganz einfach die "Stube, drin du alles weißt": das gewöhnliche, alltägliche Leben, alles, das man für gegeben nimmt, an das man sich gewöhnt hat...
Das Gedicht beginnt mit der Aufforderung, aus dieser alltäglichen, gewohnten Welt hinauszutreten. Und es geht - "Und hast die Welt gemacht" - offenbar darum, eine neue Welt zu machen. Eine Welt, deren Sinn mit dem Willen zu begreifen ist. Eine Welt, in der wir auf die physischen Augen nicht mehr angewiesen sind...

Natürlich denke ich da an die Offenbarung des Johannes "Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. ... Und der auf dem Stuhl saß, sprach: Siehe, ich mache alles neu." (Kapitel 21).
Und ich möchte ausdrücklich auf den Titel dieses Gedichtes aufmerksam machen: "Eingang".

Herzlichen Gruß, und danke für diese Frage!

Ingrid (stilz)
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Blub
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Re: Eingang 1.Buch der Bilder / 1.Teil

Beitrag von Blub »

sedna hat geschrieben:Meine Empfehlung wäre, immer etwas um ein einzelnes Gedicht herum zu lesen; wann und wo ist es entstanden, welche anderen Gedichte, welche Briefe hat er zur besagten Zeit geschrieben. Selbstverständlich gibt es Bezüge zu anderen Gedichten, und es ist spannend, diese mit Deinem eigenen Verständnis allmählich selbst zu entdecken (was bringt’s Dir an Erkenntnisgewinn, wenn Du immer schon alles vorher gesagt bekommst - auch ich werde immer etwas übersehen, morgen anders sehen und Dir nur etwas, nie alles sagen können)
Rilke hat sich sehr intensiv mit Kunst beschäftigt, vor allem Malerei und Bildhauerei.
Zur Entstehungszeit, am 24. Februar 1900, lebte er in Berlin-Schmargendorf. In sein Tagebuch notierte er zu diesem Gedicht:

"Bei einem Abendgang in stiller, weicher, dunkelnder Luft, Dahlemer Straße, am 24. Februar."
Da hast Du durchaus recht, das ist auch das erste mal, dass ich eine solche Frage im Internet stelle (meine Fragen wurden schnell kompetent beantwortet, danke). Da ich mich jedoch ausschließlich alleine mit Rilke beschäftige, fehlt mir der Kontakt, um einigen Zweifel vorzubeugen; auch jeder Autodidakt muss aus seiner Stube hinaus treten können. Eure Erläuterungen entsprechen genau der Auslegung, die ich intuitiv schon hatte. Bei dem letzten Satz hatte ich nur Zweifel, da ich nicht wusste wie zu lesen - meine Augen und die verbrauchte Schwelle, kommen mir da in den Sinn-, verstand es aber richtig und ich danke euch beiden für die Antworten, die meiner Selbst Bestätigung geben. Ich würd‘ mich freuen, wenn ich hier meine Freude mit Rilke in Zukunft teilen kann!!

Ich besitze nur den kleinen Inselband aus Leinen, in dem keine Daten zur Entstehung enthalten sind - lassen diese sich rein aus Tagebucheinträgen entnehmen? Ich find das sehr interessant; das von mir angesprochene Gedicht "Am Rande der Nacht" wurde - wie ich im Internet erfahren habe- am 12. Jan. 1900 ebenfalls in Schmargendorf geschrieben. Ich bin darauf hin, da ich vor ein paar Monaten von Rosenheim nach Berlin gezogen bin, dort hin gepilgert.
sedna hat geschrieben: "Ein Gedicht hat gestern wie heute keineswegs die gleiche Bedeutung, weder für den Leser noch für den Dichter selbst. Das einmal Geschriebene beziehungsweise Gelesene verwandelt sich unmerklich, verändert seine Farbe mit seiner veränderten Stellung in Zeit und Bewusstsein." Gunnar Ekelöf
Da stimme ich dir zu. Da es sich ja um Metaphern und Gleichnisse handelt, muss man Bezug auf das eigene Leben nehmen, um einer Kontext willen, der wiederum bewegt ist; so wird das Gleichnis ubiquitär, womit für jeden und zu jeder Zeit zugänglich: wundervoll, gerade in der hinsicht, da es einem praktisch zur Selbstbetrachtung verführt, gerade zu zwingt oder besser, einem zu sich Selbst führt.
stilz hat geschrieben: die Wortstellung täuscht: in diesem Satz sind die Augen das Subjekt, und das Objekt "sie" bezieht sich auf die "Welt", die von diesen Augen losgelassen wird.
So hab ichs mir auch gedacht, war jedoch von der Satzstellung -wie du schon sagst- getäuscht. Vielen Dank für die klare Antwort. Ich habs zu Beginn genau so verstanden, mich jedoch von mir selbst verunsichern lassen...

Vielen Dank an euch beide!
Zuletzt geändert von Blub am 2. Okt 2011, 02:38, insgesamt 1-mal geändert.
stilz
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Re: Eingang 1.Buch der Bilder / 1.Teil

Beitrag von stilz »

Steffen hat geschrieben: Ich würd‘ mich freuen, wenn ich hier meine Freude mit Rilke in Zukunft teilen kann!
Lieber Steffen,

ja, darüber würd' ich mich auch freuen. Auch dazu ist doch schließlich so ein Forum da!
Herzlich Willkommen.

Ingrid (stilz)
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Blub
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Re: Eingang 1.Buch der Bilder / 1.Teil

Beitrag von Blub »

@stilz: Super!!

----------

Ich habe zu dem Gedicht noch eine weitere Frage. Es handelt sich um die Fassung des Gedichtes, wie sie auf http://www.textlog.de/17663.html zu finden ist. In meinem Gedichtband heisst es nachdendem Land, wobei hier(siehe unten bzw. link) nachbetend steht. Ich meine irgendwann mal gelesen zu haben, dass Rilke seine Texte später noch einmal bearbeitet hat. Handelt es sich über eien Schreibfehler oder über eine ältere Fassung?
Ich hab eine e-mail an den Betreiber der Seite, mit eben dieser Frage geschickt, wollte jedoch auch hier nachfragen, da, wie ich denke, auch für euch interessant und vielleicht hier mit einer schnelleren Antwort zu rechnen.


Meine Stube und diese Weite,

wach über nachbetendem Land, -

ist Eines.
sedna
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Re: Eingang 1.Buch der Bilder / 1.Teil

Beitrag von sedna »

Blub hat geschrieben:Da stimme ich dir zu.
Das so zu sagen ist natürlich zum Niederknien, Steffen, aber ich bin nicht Gunnar Ekelöf (und bedauere es unendlich, das so sagen zu müssen :D )

Ja, bei manchen Gedichten hat er Wörter ausgetauscht, wie beispielsweise im Liebes-Lied "Geiger" und "Spieler" (dazu hier im Forum eine Diskussion). Liebes-Lied entstand 1907, aber wie Du siehst, beschäftigen ihn die besaiteten Instrumente schon lange ... :wink:

Die Tagebuch-Notiz zum Gedicht lautet: "Ein Vers am Rande der Nacht:"
Leider folgt in meiner Ausgabe nicht wie im Original das Gedicht; da stehen nur zwei Hinweise, wo es veröffentlicht wurde: Buch der Bilder; Gesammelte Werke II, 1930, S.55, und darin "mit kleinen Variationen" - Siehst Du, ganz zu recht vermutet!

Aber, steht bei Dir tatsächlich "nachdendem Land" – Was könnte man sich darunter vorstellen, wenn es eine andere Fassung wäre? Ich tippe: Schreibfehler, es müßte "nachtendem" heißen und so eine der Varianten sein. Da müßte man an der genannten Quelle nachschauen.
Und wenn ich hinterm Mond leben würde, wäre es für mich ein Katzensprung in die nächste Bibliothek. Leider wohnt sedna am Rande des Sonnensystems und tappt bei Deiner Frage letztendlich doch im Dustern ...

Es gibt wenig veröffentlichte Tagebuchnotizen von Rilke, sie bieten natürlich schöne Zusatzinformationen, aber mach Dir damit mal für's Erste keinen Streß. Dazu ist ein Forum ja da.

Aber das schreibt Rilke kurz darauf - "12. Januar 1900. Nachts"

"Ein einziges Gedicht, das mir gelingt,
und meine Grenzen fallen wie im Winde;
es gibt kein Ding, darin ich mich nicht finde:
nicht meine Stimme singt allein: es klingt.
Die Dinge werden heller und metallen,
und wie sie atmend sich im Raum berühren,
sind sie wie Glocken, die mit seidnen Schnüren
spielenden Kindern in die Finger fallen:
die Kinder ziehn zugleich an allen Strängen,
die sie erstaunt in ihren Händen spüren,
so dass die Töne vor des Himmels Türen,
die viel zu langsam aufgehn, - schon sich drängen."
die ein ausbrechendes Lied in die Unsichtbarkeit wirft!
stilz
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Re: Eingang 1.Buch der Bilder / 1.Teil

Beitrag von stilz »

In meinem Insel-Band "Rainer Maria Rilke. Die Gedichte" steht:
"wach über nachtendem Land".
Es wäre interessant zu erfahren, woher die Version mit "nachbetendem" kommt, die so ja auch hier auf rilke.de zu finden ist.
Ich finde, es macht doch einen ziemlichen Unterschied, ob das Land "nachtet" (wunderbares Verbum!) oder "nachbetet".

Lieben Gruß

stilz
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Blub
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Re: Eingang 1.Buch der Bilder / 1.Teil

Beitrag von Blub »

stilz hat geschrieben: Ich finde, es macht doch einen ziemlichen Unterschied, ob das Land "nachtet" (wunderbares Verbum!) oder "nachbetet".
Genau das dachte ich mir auch. Meine Schlussfolgerung, sollte es stimmen, dass er es später geändert hat - was bei zwei Quellen mit selben Fehler kaum vorstellbar wäre- war folgende:
Ein Gebet enthält, wenn ich darüber nachdenke, immer eine Bitte - Hoffnung. ARdN ist jedoch ein Gedicht, das sich mir eher als autotherapeutische Chronik zeigt, und sich mit Wechselwirkungen und Morphologien der Metaphern respektive einem abstrakten Geschehen widmet. Einzelne Stimmungen bilden nur einen Teil. Der programmatische Titel sagt für mich jedoch schon aus, dass es weniger um einen Selbstverlust, man könnte sagen, schlaflose Nächte gehen soll, wenn er eine Weite bzw. das Außen anspricht. Ich empfinde das Gedicht als eher sehr optimistsich, da es eben solch angesprochene Chronik eines Auswegs darstellt. Vielleicht wollte er das so vermeiden. Nachbetend könnte heißen man wäre schon über den Rand drüber, ich bin mir sicher er wollte das differenzieren.
Ich finde das total interessant, auf solche Weise, Einblick in die Entwicklung eines Gedichtes zu gewinnen. Lässt sich mit Sentenzen und Aphorismen, der jeweiligen Schriftsteller, fast nicht aufwiegen.
sedna hat geschrieben:
Aber das schreibt Rilke kurz darauf - "12. Januar 1900. Nachts"

"Ein einziges Gedicht, das mir gelingt,
und meine Grenzen fallen wie im Winde;
es gibt kein Ding, darin ich mich nicht finde:
nicht meine Stimme singt allein: es klingt.
Die Dinge werden heller und metallen,
und wie sie atmend sich im Raum berühren,
sind sie wie Glocken, die mit seidnen Schnüren
spielenden Kindern in die Finger fallen:
die Kinder ziehn zugleich an allen Strängen,
die sie erstaunt in ihren Händen spüren,
so dass die Töne vor des Himmels Türen,
die viel zu langsam aufgehn, - schon sich drängen."
Vielen Dank, auch für dieses Gedicht!!!
sedna
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Re: Eingang 1.Buch der Bilder / 1.Teil

Beitrag von sedna »

Zu Rilkes Gemütsverfassung vielleicht erhellend sein Tagebucheintrag unmittelbar vor dem Gedicht Am Rande der Nacht:

"Durch die Lichtwarkschen Bücher kommen eine Menge neue Interessen in meine Tage, die ohnehin viel zu enge sind für die wachsenden Erfahrungen, die mir unerwartet von allen Dingen zukommen; es scheint, als sollte mir das Buch über Meister Francke den Weg zum Empfinden deutscher Kunst eröffnet haben! Welche unendliche Menge neuer Schönheit steht mir noch bevor! Bisher war ich ein Fremder vor diesen Werken und ein Blindgeborner, aber in lauter sanften Heilungen vollzieht sich das Wachstum meiner Seele, und es ist, als wäre mir eine Mission vorbehalten, welche es notwendig macht, dass ich jede Schönheit umfassen lerne und die Schönheit in jedem. Als sollte dann aus dem Gefühl ihrer Allgegenwart sich meine reife Aufgabe erheben, der ich nicht nachfragen mag, heute noch, der ich aber immer vertrauender, in stillem Vorbereiten entgegengehe. 12. Januar abends"

Du siehst die "Chronik eines Auswegs". Sehe ich nicht so eindeutig in eine Richtung. Für mich klingt hier schon Rilkes Geh in der Verwandlung aus und ein an. Hier im Zusammenhang, dem Sonett XXIX und Ende der Sonette an Orpheus, geschrieben 1922:

"Stiller Freund der vielen Fernen, fühle,
wie dein Atem noch den Raum vermehrt.
Im Gebälk der finstern Glockenstühle
laß dich läuten. Das, was an dir zehrt,

wird ein Starkes über dieser Nahrung.
Geh in der Verwandlung aus und ein.
Was ist deine leidendste Erfahrung?
Ist dir Trinken bitter, werde Wein.

Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.

Und wenn dich das Irdische vergaß,
zu der stillen Erde sag: Ich rinne.
Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin."
die ein ausbrechendes Lied in die Unsichtbarkeit wirft!
stilz
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Re: Eingang 1.Buch der Bilder / 1.Teil

Beitrag von stilz »

  • Am Rande der Nacht

    Meine Stube und diese Weite,
    wach über nachtendem Land, -
    ist Eines. Ich bin eine Saite,
    über rauschende breite
    Resonanzen gespannt.

    Die Dinge sind Geigenleiber,
    von murrendem Dunkel voll;
    drin träumt das Weinen der Weiber,
    drin rührt sich im Schlafe der Groll
    ganzer Geschlechter.....
    Ich soll
    silbern erzittern: dann wird
    Alles unter mir leben,
    und was in den Dingen irrt,
    wird nach dem Lichte streben,
    das von meinem tanzenden Tone,
    um welchen der Himmel wellt,
    durch schmale, schmachtende Spalten
    in die alten
    Abgründe ohne
    Ende fällt...
Steffen spricht von "autotherapeutischer Chronik" - das scheint zu den ""sanften Heilungen" zu passen, von denen in der von sedna zitierten Tagebuchnotiz die Rede ist...

Allerdings würde ich hier "Heilung" nicht so begreifen, wie es heutzutage so oft verstanden wird: als eine Veränderung, die dazu dient, Schmerz zu vermeiden und im Alltag besser zurechtzukommen...
Nein.
Bei den "sanften Heilungen" der Seele, von denen Rilke spricht, scheint es mir um etwas anderes zu gehen.

Ich denke an das Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Lukas 19,11; Matthäus 25,14).
Und ich denke, daß es am Ende unseres Lebens nicht darauf angekommen sein wird, wieviel wir "gekriegt" haben, sondern einzig darauf, wieviel zu geben uns gelungen ist. Haben wir unsere "Mission", unsere "reife Aufgabe", gefunden und erfüllt?
Sind wir, im "großen Bezug" gesehen, "heil und ganz" (Rilke spricht ja auch vom "Wachstum meiner Seele") geworden?

Insofern würde ich bei diesem Schwellenübertritt von der "Stube" in "diese Weite" nicht von Ausweg sprechen (bei dem die Betonung ja auf dem liegt, was man hinter sich läßt, ohne noch das anzuschauen, was vor einem liegt), sondern eher von Eingang.

Und damit nicht genug:
  • Meine Stube und diese Weite,
    wach über nach(be)tendem Land, -
    ist Eines. Ich bin eine Saite,
    über rauschende breite
    Resonanzen gespannt.
Wenn ich mir bewußt bin, eine solche Saite zu sein, und wenn ich es nicht versäume, "silbern zu erzittern", dann können die "Stube" und "diese Weite" Eines sein. Dann gelingt die coincidentia oppositorum --- und das, was im alltäglichen Leben vielleicht als Dissonanz empfunden wird, stellt sich als Resonanz heraus...

Liebe sedna, danke für den Hinweis auf den "stillen Freund der vielen Fernen" in diesem Zusammenhang.

Und natürlich wäre es interessant, sich zu überlegen, was unter einem "nachbetenden Land" zu verstehen sein könnte... allerdings würde ich vorher sehr gern in Erfahrung bringen, ob das tatsächlich von Rilke ist, oder ob es sich vielleicht doch um einen Schreibfehler handelt. Bei der Suche in "google books" finde ich bisher nur "nachtendem"...


Lieben Gruß

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
sedna
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Re: Eingang 1.Buch der Bilder / 1.Teil

Beitrag von sedna »

Genau stilz, coincidentia oppositorum trifft den Nerv von Rilkes überstehen, aber in Bewegung – siehe auch das Ende des Sonetts, und das stärkende Zehren ... (Empfinde ich sogar leibhaftig beim Lesen: Ich liebe dieses Sonett sehr, doch meine leidendste Erfahrung ist der Reim auf Nahrung, aber da werde ich - die Inquisition fürchtend - jetzt nicht näher drauf eingehen)

Wann aber sind wir könnte man so deuten (obwohl ich mich von Rilkes Wir nicht angesprochen fühle, ich höre hier die Gesänge selber rufen, die Elegien und Sonette, die da kommen werden, ihrem Gott ihren Mangel klagend), in diesem Sonett an Orpheus: Erster Teil, III:

Ein Gott vermags. Wie aber, sag mir, soll
ein Mann ihm folgen durch die schmale Leier?
Sein Sinn ist Zwiespalt. An der Kreuzung zweier
Herzwege steht kein Tempel für Apoll.

Gesang, wie du ihn lehrst, ist nicht Begehr,
nicht Werbung um ein endlich noch Erreichtes;
Gesang ist Dasein. Für den Gott ein Leichtes.
Wann aber sind wir? Und wann wendet er

an unser Sein die Erde und die Sterne?
Dies ists nicht, Jüngling, daß du liebst, wenn auch
die Stimme dann den Mund dir aufstößt, - lerne

vergessen, daß du aufsangst. Das verrinnt.
In Wahrheit singen, ist ein andrer Hauch.
Ein Hauch um nichts. Ein Wehn im Gott. Ein Wind.


Rilke maß ja auch der Komposition seiner Zyklen viel Gewicht bei, folgte in der Anordnung der Gedichte nicht der Chronologie ihrer Entstehungszeit. Im Buch der Bilder - Des ersten Buches zweiter Teil steht Am Rande der Nacht zwischen diesen Gedichten:

Herbst

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

(Paris, 11. September1902)


Gebet

Nacht, stille Nacht, in die verwoben sind
ganz weiße Dinge, rote, bunte Dinge,
verstreute Farben, die erhoben sind
zu Einem Dunkel Einer Stille, - bringe
doch mich auch in Beziehung zu dem Vielen,
das du erwirbst und überredest. Spielen
denn meine Sinne noch zu sehr mit Licht?
Würde sich denn mein Angesicht
noch immer störend von den Gegenständen
abheben? Urteile nach meinen Händen:
Liegen sie nicht wie Werkzeug da und Ding?
Ist nicht der Ring selbst schlicht
an meiner Hand, und liegt das Licht
nicht ganz so, voll Vertrauen, über ihnen, -
als ob sie Wege wären, die, beschienen,
nicht anders sich verzweigen, als im Dunkel?...

(Berlin-Schmargendorf, 13. Dezember 1900)

Das Bogenspannen bei Rilke macht auch Spaß, Steffen, bestimmt hast Du wieder viele Gemeinsamkeiten und Widersprüche gefunden.

sedna
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Blub
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Re: Eingang 1.Buch der Bilder / 1.Teil

Beitrag von Blub »

Hier die Antwort vom Betreiber der Seite textlog.de :

Hallo,

vielen Dank für Ihre Anfrage und für Ihren Korrekturhinweis. In der Tat handelt es sich bei dieser Stelle um einen merkwürdigen Digitalisierungsfehler. In meiner Ausgabe der "Gesammelten Werke" Rilkes aus dem Jahr 1927 (Bd. 2, Insel Verlag) ist wie bei der Ihren von "... nachtendem Land ..." die Rede.

Bei dem nächsten Update, wird die Seite korrigiert.

Vielen Dank für Ihren Hinweis und besten Gruss,

Peter Kietzmann

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Also doch nur ein Schreibfehler.
Zum Rest komm ich dann noch zu sprechen.

Gruß,
Steffen
sedna
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Re: Eingang 1.Buch der Bilder / 1.Teil

Beitrag von sedna »

Gut 8)

Ich hegte nämlich noch einen (wenn auch schwachen) Verdacht, eine dritte Variation
neben nach-be-tendem könnte nachd-enk-endem gewesen sein, wegen der Viersilbigkeit. Das würde ich jetzt ausschließen.

sedna
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stilz
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Re: Eingang 1.Buch der Bilder / 1.Teil

Beitrag von stilz »

:D Danke fürs Nachfragen!

Ich freue mich, daß es "nachtendem" heißt und nicht "nachbetendem".
Nicht nur, weil ich es rhythmisch so schwer zu begreifen gefunden hätte mit "nachbetendem".
Sondern auch, weil mir, wie schon gesagt, das Verbum "nachten" so sehr gefällt.
Es tagt also nicht nur, es nachtet auch... wie schön, ein "Tätigkeitswort" dafür zu haben...

Lieben Gruß

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
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