"... sie aber sind und wissen es nicht mehr."

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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borisg
Beiträge: 7
Registriert: 17. Apr 2010, 13:05

"... sie aber sind und wissen es nicht mehr."

Beitrag von borisg »

Guten Tag!

(Vor allem, bitte entschuldigen Sie meine Fehler auf Deutsch - ich lerne nur, und höchstwahrscheinlich mache ich Fehler fast in jedem Satz.)

Ich habe eine Frage zum Gedicht "Denn, Herr, die großen Städte sind / verlorene und aufgelöste;" aus dem Stunden Buch, und zwar zu dieser Stelle:

Da leben Menschen, leben schlecht und schwer,
in tiefen Zimmern, bange von Gebärde,
geängsteter denn eine Erstlingsherde;
und draußen wacht und atmet deine Erde,
sie aber sind und wissen es nicht mehr.

Ich bin nicht sicher, wie der letzte Satz zu verstehen ist, besonders sein Anfang (sie aber sind). Ich sehe vier Möglichkeiten (grammatischerweise):

1) Als selbstständiger Satz - die Menschen aber sind (existieren) und wissen nicht mehr, dass sie existieren.
2-4) In Zusammenhang mit den vorigen Zeilen:
2) Die Menschen aber existieren, und wissen nicht mehr, dass draußen deine Erde wacht und atmet.
3) Die Menschen aber existieren nicht mehr, und wissen nicht mehr, dass....
4) Die Menschen aber sind es nicht mehr (es - vielleicht, deine atmende Erde?) und wissen es auch nicht mehr...

Die Nummern 1, 3 und 4 scheinen mir Unsinn zu sein (Nr. 3 ist einfach falsch). Ist denn die Nr. 2 korrekt? Aber was bedeutet dieser Satz denn? Warum war es für ihn wichtig nochmals zu unterstrichen, dass die Menschen existieren? Man versteht das ja schon aus den ersten Zeilen. Und warum 'aber'? (Vielleicht wollte er das regelmäßige, schwere, nichts-wissende Leben der Menschen dem Wunder der atmenden, wachenden Erde gegenüberstellen?)

Oder habe ich vielleicht andere Möglichkeiten übersehen? (Oder den ganzen Satz falsch verstanden? :-)

Vielen Dank im Voraus für Ihre Hilfe,
Boris.
Henry Lou

Re: "... sie aber sind und wissen es nicht mehr."

Beitrag von Henry Lou »

Lieber Boris,

Dein Deutsch ist sehr gut!

Nun meine Deutung:

Sie aber leben und wissen nicht mehr, was das Leben ist: der Atem der Erde, die Luft, der Blumenduft – Das Leben bleibt draußen, sie spüren es drinnen in den "tiefen Zimmern" (einem verarmten Lebens-Raum, ihren vor Armut verängstigten Seelen?) nicht mehr ... „und wissen nicht, dass draußen Blumen rufen / zu einem Tag voll Weite, Glück und Wind“

Herzlicher Gruß

Henry Lou
gliwi
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Re: "... sie aber sind und wissen es nicht mehr."

Beitrag von gliwi »

Hallo Boris,
Meine Deutung: Sie existieren trotz dieser schlechten Bedingungen aus Vers 2 und 3, und sie wissen nicht, dass draußen die Erde wacht und atmet.
"Warum war es für ihn wichtig..." Eine solche Frage würde ich an ein Gedicht nicht stellen. Ein Gedicht will nicht über Sachverhalte informieren. Es will hier Gedanken festhalten, und da kommt es natürlich auch zu Wiederholungen. Ja, den Satz in der Klammer finde ich passend.
Gruß
gliwi
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
borisg
Beiträge: 7
Registriert: 17. Apr 2010, 13:05

Re: "... sie aber sind und wissen es nicht mehr."

Beitrag von borisg »

Vielen Dank, gliwi und Henry Lou!
stilz
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Re: "... sie aber sind und wissen es nicht mehr."

Beitrag von stilz »

Lieber Boris,

auch ich verstehe diese Zeile so wie Henry Lou und gliwi.

Und ich möchte noch eine Assoziation hinzufügen, die ich beim Lesen habe - und die möglicherweise Deine Frage "Warum war es für ihn wichtig...?" berührt:

In diesem Sie aber sind und wissen es nicht mehr empfinde ich einen fast fragenden Unterton.
Ich denke dabei an Rilkes Roman, an die 14. Aufzeichnung des Malte Laurids Brigge.
Ich meine den zweiten Teil dieses Kapitels, der beginnt mit den Worten:

  • Es ist lächerlich. Ich sitze hier in meiner kleinen Stube, ich, Brigge, der achtundzwanzig Jahre alt geworden ist und von dem niemand weiß. Ich sitze hier und bin nichts. Und dennoch, dieses Nichts fängt an zu denken und denkt, fünf Treppen hoch, an einem grauen Pariser Nachmittag diesen Gedanken:
    Ist es möglich, denkt es, ...

Und dann folgen sieben Doppelfragen, die alle mit "Ist es möglich?" beginnen und mit "Ja, es ist möglich." beantwortet werden.

Das Gedicht über die "großen Städte" aus dem "Buch von der Armut und vom Tode" scheint mir eine weitere solche Frage mit "Ja, es ist möglich." zu beantworten.

Die Frage könnte etwa lauten:
Ist es möglich, zu leben, zu existieren, ohne das, was man in früheren Zeiten ganz selbstverständlich als "lebensnotwendige Nahrung" angesehen hat?

Und man fragt vielleicht weiter:
Was ist es denn dann, woraus man lebt, wenn diese "Nahrung" - also in unserem Fall das Wissen um das Wachen und Atmen der Erde, um die Blumen, die "rufen / zu einem Tag voll Weite, Glück und Wind" - nicht mehr da ist, weil man sie aus dem eigenen Leben ausgeschlossen und dann vergessen hat?


  • Ich bin ja noch kein Wissender im Wehe, -

heißt es zu Beginn des "Buches von der Armut und vom Tode".
Und später dann:

  • Denn meine Stimme wuchs nach zweien Seiten
    und ist ein Duften worden und ein Schrein:
    die eine will den Fernen vorbereiten,
    die andere muß meiner Einsamkeiten
    Gesicht und Seligkeit und Engel sein.

    Und gieb, daß beide Stimmen mich begleiten,
    streust du mich wieder aus in Stadt und Angst.
    Mit ihnen will ich sein im Zorn der Zeiten,
    und dir aus meinem Klang ein Bett bereiten
    an jeder Stelle, wo du es verlangst.




Herzlichen Gruß

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
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