Lieber Reinhard,

also, für
mich war es nicht zu "harsch", und keine Sorge, ich wäre auch fähig "zurückzuschießen", wenn ich das für nötig hielte.
Zuerst zum "Inhaltlichen":
Du sagst, in meiner "Variante 3" findest Du
"eine Unterstellung zuviel"... nun, da möchte ich doch anmerken, daß diese Variante mit dem auskommt, was tatsächlich im Text steht, während
Deine Varianten sozusagen "dazuerfinden", daß das "Du" dem lyrischen Ich, aus welchen Gründen auch immer, einen Korb gegeben hat...
Ich behaupte ja auch nicht, daß diese "Variante 3" (der ich persönlich, das gestehe ich, den Vorzug gebe) die allein "richtige" Lesart ist. Ich möchte nur dafür plädieren, diese
Möglichkeit des Verständnisses offen zu halten. Selbst wenn sie manchem nicht "naheliegend" erscheint. Denn wie Du ja auch sagst:
das Naheliegende ist nicht immer das, was zählt...
Und ich finde ja auch Belege, die für diese Lesart sprechen, in vielem, was Rilke an anderen Stellen über die Liebe sagt.
So, wenn er an Kappus schreibt (Hervorhebungen von mir):
Rilke hat geschrieben:Dieser Fortschritt wird das Liebe-Erleben, das jetzt voll Irrung ist [...], verwandeln, von Grund aus verändern, zu einer Beziehung umbilden, die von Mensch zu Mensch gemeint ist, nicht mehr von Mann zu Weib. Und diese menschlichere Liebe (die unendlich rücksichtsvoll und leise, und
gut und klar in Binden und Lösen sich vollziehen wird) wird jener ähneln, die wir ringend und mühsam vorbereiten, der Liebe, die darin besteht, daß
zwei Einsamkeiten einander schützen, grenzen und grüßen.
Und das noch: Glauben Sie nicht, daß jene große Liebe, welche Ihnen, dem Knaben, einst auferlegt worden ist, verloren war; können Sie sagen, ob damals nicht große und gute Wünsche in Ihnen gereift sind und Vorsätze, von denen Sie heute noch leben? Ich glaube, daß jene Liebe so stark und mächtig in Ihrer Erinnerung bleibt,
weil sie Ihr erstes tiefes Alleinsein war und die erste innere Arbeit, die Sie an Ihrem Leben getan haben.
Das:
joni hat geschrieben:Dann würde das lyrische Ich, das m.E. sein unfreies In-das-Instrumt-gespannt-Sein durchaus als positiv empfindet, seine Ambiguität von Freiheitsdrang und dem entgegengesetzter Liebesvereinigung nur (leicht böse gesprochen) maskieren.
begreife ich noch nicht ganz. Wie kommst Du auf "maskieren"?
Wenn wir zum Beispiel den Begriff "unwiderstehlich" nehmen: sind darin nicht beide Tendenzen enthalten, sowohl das Bestreben, zu widerstehen, als auch das glückselige "Hingezogensein"? Anders gefragt: könnte ich ohne den Versuch zu widerstehen überhaupt wissen, wie stark die "Anziehungskraft" ist?
Ich halte es für einen Kurzschluß, in Rilkes Gedichten immer gleich nach einer
Bewertung zu suchen. Das scheint mir nicht zum Typus "Ding-Gedicht" zu passen.
Und meiner Ansicht nach
ist das "Liebes-Lied" so etwas wie ein "Ding-Gedicht", über das "Ding"
Liebe.
Ich denke dabei auch an Erich Fried und sein
"Es ist was es ist, sagt die Liebe" - hier ist die Liebe nicht das
Objekt des Gedichtes, sondern das
Subjekt:
Wenn die Liebe etwas sagt, dann, so Fried, kommt dabei "Sachliches Sagen" heraus... also genau das, was Rilke in seinen "Ding-Gedichten" tut...
Für mich ist das "Liebes-Lied" ein Gedicht über die Liebe, gesehen von jemandem, der in Liebe auf die Liebe blickt.
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Und zum "Didaktischen":
joni hat geschrieben:Aber ich habe den Eindruck, dass diese Collagen-Geschichte nicht funktioniert, weil das Eigentliche des Gedichts eben ein sprachlisches Phänomen ist und die Story des Gedichts eben nur die Hardware.

Die "Story" als "Hardware", ja, da stimme ich Dir zu.
Aber das "Eigentliche" des Gedichtes... ich glaube nicht, daß das ein bloß "sprachliches" Phänomen ist.
Goethe spricht von der "Gestalt", die im bildenden Künstler ist,
bevor sie "zum Stein gelangt". Und dann sagt er:
Goethe hat geschrieben:...denn nicht die Gestalt, die in der Kunst ruhet, gelangt in den Stein, sondern dorten bleibet sie, und es gehet indessen eine andere, geringere, hervor, die nicht rein in sich selbst verharret, noch auch wie sie der Künstler wünschte, sondern insofern der Stoff der Kunst gehorchte.
(Wilhelm Meister, "Aus Makariens Archiv")
Die "Gestalt" also ist noch "rein", solange sie nicht in Auseinandersetzung mit dem "Stoff" tritt. Und ist nicht die
Sprache der "Stoff" der Dichtkunst?
joni hat geschrieben:Zusätzlich dazu glaube ich, dass die Schüler sich nicht trauen, das, was sie nach gehöriger Auseinandersetzung aus dem Gedicht herauslesen, in einem bildnerischen Ausdruck umzusetzen würden und könnten. So, wie sich Schüler meist nicht trauen, etwa eine Eröterung zum Thema "Handys - ja oder nein" wirklich ehrlich zu bearbeiten, sondern das schreiben, was sie meinen schreiben zu müssen um eine gute Note zu bekommen,
Ja. Hier gebe ich Dir recht. Und das finde ich sehr traurig. Ich finde, es wäre sehr sehr wichtig, das zu ändern.
Denn es ist mir nicht nur in Bezug auf
Rilke sehr sehr unbehaglich, daß Schüler sich nur deshalb mit etwas beschäftigen, um eine gute Note zu bekommen. Dadurch wachsen Menschen heran (
sind längst herangewachsen, das ist ja nicht erst seit gestern so!), die sich im Laufe ihrer Schulzeit daran gewöhnt haben, sich nicht
um einer Sache selbst willen mit ihr zu beschäftigen, sondern aus äußerlichen Gründen, beispielsweise der Karriere und des Geldes wegen... ich möchte hier gar nicht weiter ausführen, wohin das führt...
Ich sehe ein, daß es in Fächern, in denen es um "Nützliches" geht, sehr schwierig sein wird, von dem Ziel abzugehen, daß die Schüler etwas lernen, um dann etwas zu
wissen, was man überprüfen und benoten kann.
Aber in Fächern, in denen es um so "Unnützes" geht wie Kunst... könnte man da nicht damit beginnen, den Schülern zu vermitteln, daß es auch noch andere Werte gibt als gute Noten? Werte, die sie nicht auswendig*) lernen müssen, weil sie sie, wenn sie sich trauen, ehrlich zu sein, jederzeit in sich selbst wiederfinden können?
Herzlichen Gruß!
Ingrid (stilz)
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*) Und wieder einmal fällt mir auf, wieviel schöner die Ausdrücke "by heart" oder "par coeur" sind... aber in diesem Zusammenhang hier meine ich tatsächlich:
aus-wendig.