Inhalt Liebes-Lied

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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stilz
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Re: Inhalt Liebes-Lied

Beitrag von stilz »

Lieber Reinhard,

Du hast natürlich recht, ein Gedicht sollte für sich allein stehen können und nicht auf "gedicht-externe" Deutungen angewiesen sein.
Mir selber fällt es inzwischen schwer, Rilkes Gedichte nicht in einem Gesamtkontext zu lesen.
Also habe ich das "Liebes-Lied" vorhin meinem Mann vorgelesen. Er kennt nur sehr wenige von Rilkes Gedichten und hat sich auch sonst nicht näher mit ihm beschäftigt; sein Eindruck rührt also wirklich nur von diesem Gedicht allein her.
Als ich ihn bat, in seinen eigenen Worten zu schildern, was da gesagt ist, meinte er (er ist gewohnt, sich sehr sachlich auszudrücken :) ):
"Er denkt sich: ruhiger wäre das Leben, wenn wir getrennte Wege gingen. Aber da das Schicksal uns nun einmal zusammengespannt hat und wir einander auch nicht ganz egal sind, wird wohl aus der Ruhe nichts werden…"

:D Siehst Du - jetzt bin ich also noch viel sicherer, daß die Lesart, die ohne eine "Absage" des "Du" auskommt, ganz allgemein vorstellbar ist. (Mein Mann sagte sogar noch: "Wenn es hier eine Absage geben sollte, dann doch eher eine von ihm, falls es ein Er ist, der das geschrieben hat...")

Ich glaube, daß Du davon ausgehst, jeder Mensch wolle in allererster Linie "erfolgreich geliebt werden", vielleicht im Sinne von "und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute..."
Dadurch mußt Du natürlich erst eine Absage hinzukonstruieren (denn davon steht nun wirklich nichts in diesem Gedicht; von den "anderen Dingen" wohl), um einen Grund dafür zu haben, daß dieses spezielle "Lyrische Ich" sagt, es wolle etwas anderes.
Deine Grundannahme mag für viele Menschen zutreffen, vor allem, wenn sie verliebt sind - aber eben nicht für alle.

Wir sind es gewohnt, mit "Liebe" nicht "Verlust" zu verbinden, sondern eher "Gewinn": Man gewinnt die Liebe eines anderen Menschen.
Helle aber spricht von der "Angst, sich im anderen zu verlieren", mein Mann davon, "die Ruhe zu verlieren".
Verlust - das ist sozusagen die andere Seite von Gewinn.
Ebenso wie man Angst wohl als die andere Seite der Liebe bezeichnen könnte (siehe meine Signatur).

Ich freue mich, daß Du meine "Bemerkungen unter Heranziehung wunderbarer Zitate" magst :wink: - ich werde mir also keinen Zwang antun und noch eines heranziehen:

In der vierten der "Duineser Elegien" schreibt Rilke (Hervorhebung von mir):
  • Uns aber, wo wir Eines meinen, ganz,
    ist schon des andern Aufwand fühlbar. Feindschaft
    ist uns das Nächste. Treten Liebende
    nicht immerfort an Ränder, eins im andern,
    die sich versprachen Weite, Jagd und Heimat.
    Da wird für eines Augenblickes Zeichnung
    ein Grund von Gegenteil bereitet, mühsam,
    daß wir sie sähen; denn man ist sehr deutlich
    mit uns. Wir kennen den Kontur
    des Fühlens nicht: nur, was ihn formt von außen.
Herzlichen Gruß!

Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
joni
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Re: Inhalt Liebes-Lied

Beitrag von joni »

Liebe Ingrid,
na, wenn Dein Mann das sagt, dann muss ich ja wohl passen! Was soll ich da denn jetzt sagen?!
Ist doch toll, das unsere Diskussion dazu geführt, dass du deinem Mann Liebes-Lieder vorliest! (Gibt es irgendwie eine Möglichkeit deinen Mann beim nächsten Mal über Umwege zu briefen? Grüße unbekannterweise.)
Vielleicht sollte ich das Vorlesen auch mal wieder tun (also nicht deinem Mann, auch nicht meinem Mann) und dann schauen.
Ich gebe zu (auch wenn es mir nicht ganz leicht fällt, es zu sagen), dass ich jetzt die ersten zwei Zeilen gleichzeitig so und so lese. Ich stelle mir gerade Rainer Maria vor, wie er Don-Juan-mäßig überlegt, wie er das mit dieser Frau hinbringt, dass seine Seele nicht an ihre rührt und er für all die anderen übrig bleibt und für sich selbst noch Ruhe hat (man merkt mir den Verlierer an, gell?). Immerhin! Danke!
Besten Gruß
Der Joni Reinhard
gliwi
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Re: Inhalt Liebes-Lied

Beitrag von gliwi »

Also die Deutung, wie sie helle zusammengefasst hat (und ebenso "Herr Stilz"), ist die in der Sekundärliteratur verbreitete. Es passt ja auch zu Rilkes Erfahrung: er versucht, die Liebe in der Ehe zu leben, aber er schafft es nicht - Trennung im Guten. (Goethe und Schiller haben sich übrigens auch ihre Auszeiten zum konzentrierten Arbeiten genommen. Aber ansonsten waren sie halt auch Familienmenschen, besonders Schiller, der sich viel mit seinen Kindern beschäftigt hat. )
Gruß
gliwi
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
stilz
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Re: Inhalt Liebes-Lied

Beitrag von stilz »

joni hat geschrieben:Ich stelle mir gerade Rainer Maria vor, wie er Don-Juan-mäßig überlegt, wie er das mit dieser Frau hinbringt, dass seine Seele nicht an ihre rührt und er für all die anderen übrig bleibt und für sich selbst noch Ruhe hat ...
Lieber Reinhard,

also, ich bin ja nicht sicher, ob Du Dich damit sehr beliebt machen wirst, die "anderen Dinge", von denen Rilke spricht, als "andere Frauen" zu interpretieren... na, mußt Du natürlich auch gar nicht. :D
Ich jedenfalls denke dabei (zuallermindest auch) an die "große Arbeit".

"Herr Stilz" läßt übrigens herzlich grüßen... es ist hoffentlich klar, daß ich ihn hier nicht als "Autorität" herangezogen habe, sondern sozusagen als "tumben Toren" (seine Worte :wink: ) in Bezug auf Rilke, bei dem ganz sicher nicht die Gefahr besteht, daß er dieses Gedicht aufgrund von Rilkes Biographie oder aufgrund anderer ihm bekannter Texte beurteilt...

Herzlichen Gruß!

Ingrid
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helle
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Re: Inhalt Liebes-Lied

Beitrag von helle »

joni hat geschrieben:Wieso soll denn überhaupt das lyrische Ich seine Seele anders halten?
c’est la question – weiß man in der Tat nicht so genau. Zunächst wird es nur als ein Bedürfnis des Sprechers artikuliert, ein Grund wird nicht genannt. Hier konkurrieren nun unsere Auslegungen. Entweder: der Sprecher will sich in einem Verhältnis zur Welt befinden, will »In-der-Welt-sein«, ohne daß dies in irgendeiner Form mit (s)einer Liebesbeziehung zu tun hat. Oder: er möchte diese Liebesbeziehung überhaupt nicht führen, er möchte generell nicht, daß seine Seele an die andere rührt, und zwar, so Joni, weil es eine unglückliche Liebe ist, weil eine »Absage« vorliegt, die aber ihrerseits negiert wird (»Sorry, honey …«).

Ich, würde Jonis Frage gern zurückgeben. Wo steht das im Gedicht? Wo wird eine Absage formuliert und eine Relativierung dieser Absage? Mir scheint das mindestens im gleichen Maß von einer ›externen‹ Voraussetzung, hoffentlich keiner biographischen, abzuhängen wie die andere, »meine« Lesart (ob dies die Literatur über Rilke bestätigt, wäre mir schnurz, wenn stilz und gliwi sie teilten, wär’s mehr als genug). Am ehesten sprächen vielleicht die Zeilen 4 und 5 für Jonis Deutung: das Ich möchte seine Seele »bei irgendwas / Verlorenem im Dunkel unterbringen«. Das »Verlorene« am ehesten läßt eine unglückliche Liebe assoziieren und das »Dunkel« an einen Rückzugsort denken.

Das hieße, daß das Ich sich – genauer seine Seele(!) - andern Dingen zuwenden möchte, um sich von der unglücklichen Liebe abzuwenden, um sie hinter sich zu lassen. Mir wird nicht klar, warum bei so offenkundig unterschiedlichen Frequenzen dann doch von einer gemeinsamen als »eine Stimme« erscheinenden Schwingung die Rede ist, einem emphatischen »dich und mich«, und warum das Lied ›süß‹ ist und nicht bitter.

Deutet man es anders, dann soll die eine Seele nicht an die andere rühren, damit das Ich (und auch das Du) sich »andern Dingen« zuwenden kann (ohne daß dies die Liebe beeinträchtigen muß). Richtig ist, daß nicht gesagt wird, zu welchen Dingen, das wäre aber gewissermaßen auch noch schöner, ein Gedicht ist ja kein Küchenzettel.

Im übrigen finde auch ich es nicht schlimm, daß diese Lesarten konkurrieren, es ist eher ein Beweis für den Reiz solcher Texte.

Grüßle, h.
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