Adventsgedicht

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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Walter
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Adventsgedicht

Beitrag von Walter »

Hallo liebe Rilke liebhaber,

Ich analysiere gerade aus Freude und aus Übungszwecken das Gedicht " Es treibt der Wind im Winterwalde" aus "Advent" und hatte, wie ich fand, eine sehr schöne Idee wie man so eine Analyse auch gestalten kann. Ich habe in meiner Analyse die Position eines "vom Gedicht betroffenen" eingenommen. Damit ihr seht über was ich rede stell ich sie mal hier rein.

In dem Gedicht aus „Advent“ von Rainer Maria Rilke nehmen wir als Leser die Position einer Person an, die einen Wald betrachtet. Man könnte es auch so verstehen, dass man selbst ein Spaziergänger, an einem verschneiten Adventstag ist und den Wald beobachtet in den gerade der Wind hineinfährt. Wir betrachten also zu erst den Wind und passieren mit ihm zu erst eine Alliteration(Winter-Winterwalde), dann einen Neologismus (Flockenherde) und können am Ende der ersten beiden Verse den Wind mit einem Hirten vergleichen (V1-2). Nun wird die Perspektive geändert. Wir betrachten nicht länger den Wind, sondern den Tannenbaum an welchem er so eben vorbeigefegt ist. Wir betrachten die Tanne und stellen fest, dass sie eine Menschliche Eigenschaft aufweist, sie „ahnt“ (V 5) und ist somit personifiziert. Nun schauen wir die Tanne etwas genauer an und sehen, dass sie ihre Zweige entgegen der nächsten Alliteration streckt (V 5). Voll Spannung beobachten wir, wie die Tanne nun der Nächsten Alliteration entgegenwächst (V 7) und noch darüber hinaus zu dem Sinnbild (Metapher, Symbol..?) der „Nacht der Herrlichkeit“ wächst. Das Gedicht steht in einer Strophe kann aber auch in 2 Vierzeiler Unterteilt werden. Das Reimschema passt zu dem regelmäßigen Schritt des Spaziergängers, es liegt ein Kreuzreim in der Form a-b;a-b; c-d; c-d vor. Gleiches gilt für die Metrik denn wir haben einen regelmäßigen 4-Füßigen Jambus. Das Gedicht ist geprägt von starken Assonanzen wie es sehr häufig bei Rilke vorkommt(„ und manche Tanne ahnt“ oder „ und wehrt dem Wind und wächst…“).

Denkt ihr das man so analysieren kann? Indem man selbst ja eine Figur in das geschehen hinzufügt? Oder würdet ihr sagen eine analyse sollte immer sachlich, ohne große Kreativität sein?
Es wäre natürlich auch nett, wenn ihr vielleicht schreiben könntet was ich für Stilmittel übersehen hab, oder was ihr anders schreiben würdet.

In der interpretation würde ich jetzt darauf eingehen, dass jener Tannenbaum wächst und gedeiht nur um den Sinn zu erfüllen dem Menschen ihn gaben-> geschmückt in einem Weihnachtszimmer zu stehen. Dann würde ich noch drauf eingehen, dass es doch eigentlich absurd ist, dass ein Stück Natur, nur wächst um später gefällt und von menschen behangen wird.
Zum schluss würde ich noch darauf eingehen, dass das ganze Gedicht eine Antithese in sich bürgt. Es beschreibt die wunderschöne Natur, den Wind, die Schneeflocken, die Tanne um am ende das Fazit zu ziehen, dass diese Schönheit nur da ist um zu vergehen. Natürlich wird versucht diese Schönheit in die Räume der Menschen zu tragen, man darf aber nicht vergessen, dass der Schönheit dort vieles fehlt ( Der Winterwald, die Flockenherde, die verschneiten Wege).

sagt an ob ihr dieses Gedicht anders versteht oder ob ihr euch mir anschließen könnt.
Ich bin gespannt.

Liebe Grüße, eine Schöne 2 Advents-Woche
Henry Lou

Re: Adventsgedicht

Beitrag von Henry Lou »

Guten Abend Walter,

Du nimmst als Leser des Rilke-Gedichts die Position eines Spaziergängers ein, es ist Deine Idee. Und wenn Du das beim Lesen so empfunden hast, gibt es an dieser Position nichts auszusetzen. Es ist auch viel Bewegung in dem Gedicht ausgedrückt, der Titel (Advent) weist auf ein Ziel.

Die ganze Natur erscheint personifiziert, auch der Herden treibende Wind ist schon Personifikation. Die „Flockenherde“ betrachte ich darin als Metapher. Die Menschen haben zu dieser Zeit ja nicht plötzlich von „Flockenherden“ gesprochen, wenn sie Schneetreiben meinten.

Ein Tipp: Bei Rilke kreisten (besonders in dieser Zeit) viele Fragen um das Göttliche und seine Position gegenüber diesem „Unbegreiflichen“.

Neu finde ich Deine Gedanken, Tannenbaumkultur unter wirtschaftlichen Aspekten zu betrachten. Es war garantiert nicht Rilkes Intention, aber gut ist, wenn Du dadurch geneigt bist weiter zu fragen: Irgendwann kommt die Tanne in der „einen Nacht der Herrlichkeit“ an – und dann?

Für weiterführende Interpretationen an dieser Stelle ein Zitat aus einem Vortrag Rilkes über Moderne Lyrik 1898, also dem Entstehungsjahr des von Dir analysierten Gedichts:

„Aber selbst dieser Gefühlsstoff, mag es eine Abendstimmung
oder eine Frühlingslandschaft sein, erscheint mir nur der Vorwand
für noch feinere, ganz persönliche Geständnisse, die nichts mit
dem Abend oder dem Blütentag zu tun haben, aber bei dieser
Gelegenheit in der Seele sich lösen und ledig werden.“

Weiterhin viel Freude mit Rilke

Henry Lou
Harald
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Registriert: 28. Dez 2005, 23:47

Re: Adventsgedicht

Beitrag von Harald »

Die Flockenherde, wenn auch auf Wolken bezogen, findet sich schon bei Goethe:
"... eine zwar nicht geballte, aber feste Wolkenmasse, sie hielt sich ganz ruhig, nur von ihrem Gipfel löste sich manche leichte Flockenherde los."
... und Anfang glänzt / an allen Bruchstelln unseres Mißlingens
Henry Lou

Re: Adventsgedicht

Beitrag von Henry Lou »

Danke Harald,

da machst Du nebenbei noch jemandem eine Freude, die für's "Diplom im Wolkengucken" paukt.
Daß Goethe ein Wolkendiarium führte, ist mir neu und wertvoll zu wissen. Vermutlich sah er in seiner "Flockenherde" die "größeren Schäfchenwolken", von denen es auch eine Floccus-Art gibt...
Schön!

Henry Lou
joni
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Wohnort: Nähe München

Re: Adventsgedicht

Beitrag von joni »

Hallo Walter,
Haralds Hinweis auf Goethe hat m.E. noch eine weitere Dimension. Da wo "balde" steht, ist Goethes Wanderers Nachtlied (das "Gleiche") immer irgendwie mit drin, ganz abgesehen davon, dass beide Gedichte acht Zeilen haben, was mir so zufällig auch nicht erscheint.
Die Selbstbefragung über das unvermeidliche Herannahen des Todes wird aber bei Rilke nicht im windleeren Raum gesehen; wo bei Goethe der Mensch vereinsamt neben Bergen, Bäumen und Vögelein sinniert, erlebt sich das lyrische Ich bei Rilke als den Stürmen des Lebens ausgesetzte Tanne, ist Teil der Gesamtnatur, die dem Tod (noch) trotzt, nein, nicht trotz, aber im Sturm erst wächst und sich so, dynamisch und nicht melancholisch dem Tod als Erfüllung entgegenreckt. Ich glaube wirklich, dass Rilkes Gedicht ein Gegenwurf zu Goethes ist: Wind versus Ruhe, Zweige versus Wipfel, Lauschen/hören versus Schweigen, Dynamik versus Statik - das sind eigentlich zu viele Parallelen, als das man diese Intertextualität außen vor lassen könnte.
Und es ist so schön, wie Rilke es schafft, den Weihnachtsabend, die Nacht der Herrlichkeit, mit dem Todesabend zu koppeln, die Erfüllung der Geburt Jesu eben auch die Erfüllung des Menschen im Tod ist.
Die mögliche Lesart, dieses Geschehen auf den Weihnachtsbaum als kommerzielles Produkt zu reduzieren, hat eine gewisse Komik, vielleicht sogar eine kritische Note. Als Schild an einem dieser Weihnachsbaumkauf- und verpackstationen hielte ich das sogar für eine zwar absurde, aber funktionstüchtige Werbeaussage, die den meisten Menschen gar nicht groß als kultureller Missbrauch auffiele (so wie der von Goethe adaptierte dm-claim "Hier bin ich Mensch - hier kauf ich ein" ja auch nicht als misslungen verstanden wird). Ach, ich muss wirklich bei der Vorstellung lachen, dass ein gewiefter Baumschulenbauer das Rilke-Gedicht großflächig an seine hässlichen Bauzäune baazt. Was für ein Glück, dass hier wahrscheinlich keine Baumschulenbauer unterwegs sind ... (Komme mir jetzt bloß keiner, der sagt, dass Baumschulenbetreiber Gärtner sind oder gar Landschaftsarchitekten! Das weiß ich auch, aber so alliteriert sichs besser ...).
Noch zur Kreativität: Jawoll, Walter, mir ist eine herzhaft kreative Interpretation, die aber wirklich schaut, ob das da so steht, wie es kreativ behauptet wird, allemal lieber, als eine dieser langweiligen Musterinterpreationen aus Deutschlehrerkreisen (zu denen ich übrigens hobbymäßig auch gehöre), die dann doch viele Fragen offen lassen. Ich finde es toll, dass du den Mut dazu hast.
Schöne Zeit wünscht
der Joni
Reinhard
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