Noch einmal über Rilkes Gedicht...

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

Moderatoren: Thilo, stilz

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Olga
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Noch einmal über Rilkes Gedicht...

Beitrag von Olga »

Guten Tag! Ich nehme an einem Wettbewerb teil und muss das Gedicht "Abend" aus dem Deutschen ins Russischen übersetzen. Ich kann aber die Frase "die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält" nicht verstehen. Können sie mir bitte damit helfen und mit anderen Worten die Bedeutung ausdrücken.

Ich hoffe auf Ihre Hilfe.

Für den Notfall:
Der Abend wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfahrendes und eins, das fällt;
und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt –
und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)
dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so daß es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.
stilz
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Re: Noch einmal über Rilkes Gedicht...

Beitrag von stilz »

Liebe Olga,

"Gewänder": Kleider. Der Abend "wechselt die Gewänder", er legt andere Kleider an. Ich assoziiere dazu den Abendhimmel, der die Farben wechselt, vom Blau des Tages über die Schattierungen der Abendröte und schließlich zur Dunkelheit der Nacht, in der man Mond und Sterne leuchten sieht…

"ein Rand von alten Bäumen" - die Silhouetten der Bäume scheinen für unserem Blick diesen Himmel zu begrenzen, bilden also seinen Rand. Dieser „Rand“ scheint gewissermaßen die „Gewänder“ des Abends zu „halten“…

Ich hoffe, diese Umschreibung hilft Dir beim Verständnis.

Es ist eine schwierige Aufgabe, ein Gedicht in eine andere Sprache zu übertragen. Denn Metaphern sind ja noch viel „sprachspezifischer“ als Texte, in denen es bloß um „Information“ geht.
Rilke selbst war sich darüber im Klaren, am 22. April 1924 schreibt er an Lou Andreas-Salomé, in Bezug auf seine französischen Gedichte:
Rainer Maria Rilke hat geschrieben:„... ein ganzer Band französischer Gedichte (für mich merkwürdig; einige Mal nahm ich sogar das gleiche Thema französisch und deutsch vor, das sich dann, von jeder Sprache aus, zu meiner Überraschung, anders entwickelte: was sehr gegen die Natürlichkeit des Übersetzens spräche) ist (irgendwie unabweisbar) entstanden…“
Trotz dieser von ihm gefühlten „Unnatürlichkeit“ hat gerade Rilke immer wieder aus anderen Sprachen übersetzt.

Und die Dichterin Marina Zwetajewa findet eine wundervolle Erklärung dafür, daß das Übersetzen, obwohl jede Sprache „etwas nur ihr Gehörendes“ hat, dennoch auch etwas ganz Natürliches ist, insbesondere für einen Dichter. Am 6.7.1926 schreibt sie (in deutscher Sprache) an Rilke:
Marina Zwetajewa hat geschrieben:„Goethe sagt irgendwo, daß man nichts Bedeutendes in einer fremden Sprache leisten kann – und das klang mir immer falsch. …
Dichten ist schon übertragen, aus der Muttersprache – in eine andere, ob französisch oder deutsch, wird wohl gleich sein. Keine Sprache ist Muttersprache. Dichten ist Nachdichten. Darum versteh ich nicht, wenn man von französischen oder russischen etc. Dichtern redet. Ein Dichter kann französisch schreiben, er kann nicht ein französischer Dichter sein. Das ist lächerlich.
Ich bin kein russischer Dichter und staune immer, wenn man mich für einen solchen hält und als solchen betrachtet.
Darum wird man Dichter (wenn man es überhaupt werden könnte, wenn man es schon nicht allem voraus seie!) um nicht Franzose, Russe etc. zu sein, um alles zu sein. Oder: Man ist Dichter, weil man kein Franzose ist. Nationalität – Ab- und Eingeschlossenheit. Orpheus sprengt die Nationalität, oder dehnt sie so weit und breit, dass alle (gewesene und seiende) eingeschlossen sind. …“
In diesem Sinne wünsche ich Dir viel Erfolg beim Übersetzen – und würde mich freuen, wenn Du Deine Version des Rilke’schen „Abends“ anschließend hier hereinstellen könntest. Gerade dieses Gedicht bedeutet mir sehr viel.

Herzlichen Gruß

Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Harald
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Re: Noch einmal über Rilkes Gedicht...

Beitrag von Harald »

In diesem Kontext des Wechselns bin ich mir nicht sicher, ob dieses Halten nicht (auch) ein Halten im Sinne von "Reichen" ist. Abhängig auch ein wenig davon, ob das ein seitlicher oder ein unterer Rand ist, den die alten Bäume bilden. Die englischen Übersetzung verwenden "held", was die Ambiguität des Originals elegant bewahrt.
... und Anfang glänzt / an allen Bruchstelln unseres Mißlingens
stilz
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Re: Noch einmal über Rilkes Gedicht...

Beitrag von stilz »

Lieber Harald,

ja, auch ich lese es so, daß das "Reichen" mit drinsteckt. Vielleicht so, wie eine Kammerzofe ihrer Herrin beim Ankleiden behilflich ist: sie hält die Kleider einerseits fest, sodaß sie nicht zu Boden fallen können, andererseits hält sie sie der Herrin hin, sodaß diese möglichst bequem "einsteigen" kann...
:D Die alten Bäume als Kammerdiener des Abendhimmels :D - Anthropomorphisieren nennt man das wohl...

Herzlichen Gruß!

Ingrid
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Olga
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Re: Noch einmal über Rilkes Gedicht...

Beitrag von Olga »

Ingrid und Harald!
Danke euch sehr, dass ihr meine Frage beantwortet! Ihr haben mir wirchlich geholfen und jetzt habe ich einige Ideen im Kopf, wie kann ich besser ausdrücken, um die Bedeutung zu übergeben.

Für Ingrig: Ich freue mich sehr darüber, dass Du, Ingrid, Marina Zwetajewa zitiert. Das ist mir sehr nah. Und wenn ich "Abend" völlig übersetzen kann, dann hereinstelle ich es natürlich hier.

Für Harald: ja, es gibt in der englischen Sprache das Word "held", das ähnliche Bedeutung hat. Ich habe gleichartiges Wort in der russischen Sprache zu finden versucht, konnte ich aber nichts finden. Doch werde ich mich bemühen.
stilz
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Re: Noch einmal über Rilkes Gedicht...

Beitrag von stilz »

Das englische Wort "held" - also, ich kenne das nur als Präteritum bzw Partizipium Perfectum von "hold", was eben "halten" bedeutet. Meint Ihr ein anderes Wort?

Und liebe Olga: leider kann ich nicht wirklich ordentlich Russisch; aber spricht eigentlich irgendetwas gegen "держать"? In meinem Wörterbuch finde ich dafür eine ähnliche Bedeutungsvielfalt wie bei unserem "halten"... und es scheint ein ganz gewöhnliches, einfaches Wort zu sein, ein "armes Wort", wie Rilke es liebte (aus "Mir zur Feier"):

  • Die armen Worte, die im Alltag darben,
    die unscheinbaren Worte, lieb ich so.
    Aus meinen Festen schenk ich ihnen Farben,
    da lächeln sie und werden langsam froh.

    Ihr Wesen, das sie bang in sich bezwangen,
    erneut sich deutlich, daß es jeder sieht;
    sie sind noch niemals im Gesang gegangen
    und schauernd schreiten sie in meinem Lied.

Herzlichen Gruß!
Ingrid
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Olga
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Re: Noch einmal über Rilkes Gedicht...

Beitrag von Olga »

Guten Tag (oder, wahrscheinlich, nicht Tag, sondern Abend)! :)

Ja, Ingrid, ich meinte das englische Wort "hold".

Was das russische Wort "держать" angeht, hat es meiner Meinung nach nicht so десемантизированное Bedeutung, wie deutsches "halten".
(das Wort "десемантизированное" ist dem Wort "bedeutungsvielflätig" nah, glaube ich. Das bedeutet eigentlich "ohne genau Bedeutung", "Wort, das in verschieden Kontexten verschiedene Bedeutungen haben kann).

Das russische erklärende Wörterbuch von Ozhegow gibt 10 Bedeutungen des Wortes "держать", und Deutsches universal Wörterbuch Duden gibt 20 Bedeutungen des Wortes "halten".

Die Bedeutungsache ist aber oft subjektiv, ich fühle so und der andere fühlt anders.

Ich möchte auch sagen: das Wort "держать" ist bei der Übersetzung des "Abends" nicht gut, denn: "die ...... hält" kann man auf zwei Weise überzetzen: 1)Adverbialbestimmung которые........ держат 2)Adverbialpartizip (деепричастие) "держимые" (diese Variante ist aber nicht passend, weil das Wort "держимые" in der russische Sprache nicht existiert). Die erste Variante ist auch nicht passend, weil "которые...держат" im Vergleich zu "die ... hält" zu lang ist und zwingt, Jambus zu wechseln. Dabei die Bedeutung...ich bin damit nicht sicher, dass die Bedeutungen der "halten" im "Abend" und "держать" übereinstimmen (oder stimmen überein, das weiss ich nicht genau :) ).


Ich interessiere mich, studiert Ihr, Ingrid, die russische Sprache? Ihr zitiert Zwetajewa, deshalb glaube ich, Ihr wirclich studiert.

Auf wiedersehen \ Alles gute (was ist hier besser passend?)
stilz
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Re: Noch einmal über Rilkes Gedicht...

Beitrag von stilz »

Liebe Olga,

zuerst einmal: nein, ich habe nicht Russisch studiert. Meine Kenntnisse dieser Sprache stammen aus der Schulzeit, einige Jahre als Freifach... aber das ist schon eine ziemliche Weile her. Und Zwetajewa lese ich bisher leider nur auf Deutsch (ihren Briefwechsel mit Rilke; diese Briefe hat sie ja auch auf Deutsch geschrieben).

Aber ich bin ziemlich sicher, daß "держать" das deutsche "halten" in diesem Gedicht gut wiedergibt: "halten, festhalten, stützen, tragen" steht als erste Bedeutung in meinem Wörterbuch; das paßt gut für die Vorstellung, die alten Bäume "tragen" den Himmel. Und unter "bereithalten" finde ich "держать наготове", paßt das nicht zu der Assoziation des "Reichens"? Jemandem ein Kleid zum Anziehen bereithalten...

Freilich, mit dem Versmaß wird es Schwierigkeiten geben. Da kann es schon sein, daß man ganz andere Wege gehen muß, um eine ähnliche Stimmung auszudrücken...
Übrigens hat Rilke nicht nur Gedichte aus dem Russischen übersetzt, sondern auch einige Gedichte in russischer Sprache geschrieben. Hast Du davon etwas gelesen? Vielleicht hilft das ja, sich einzufühlen...

Alles Gute (= viel Erfolg bei Deinem Vorhaben)
und
herzliche Grüße

Ingrid

P.S.: "Auf Wiedersehen" - nun, da wir einander ja bisher noch gar nicht wirklich gesehen haben, paßt "Auf Wiedersehen" eigentlich nicht so ganz. Das macht aber nicht viel: wenn wir empfinden, daß wir einander durch diesen Austausch hier doch "gesehen" haben, dann können wir auch "Auf Wiedersehen" schreiben...
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
gliwi
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Re: Noch einmal über Rilkes Gedicht...

Beitrag von gliwi »

von Olga » 21. Dez 2009, 03:23

Wie ich versprach, meine Übersetzung des Gedichts:

Райнер Мария Рильке
Вечер

Одежды вечер медленно сменяет;
в них древа старые уперлися главой;
ты видишь: расстилаются два края;
один уходит в небо, пал другой;
остался ты, ничей из них всецело:
ни темен ты сполна, как дом кручин,
ни тверд, благому присягал несмело,
как та звезда, что светится в ночи;
остался ты (понять того не в силах)
как есть – в величии тосклив и зрел,
постиг поспешно жизнь, познал ее предел,
и впредь ходя то в камнях, то в светилах.Olga
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
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