Nachbarschaftshilfe bei Hofmannsthal

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

Moderatoren: Thilo, stilz

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muninn
Beiträge: 1
Registriert: 9. Jun 2009, 15:33

Nachbarschaftshilfe bei Hofmannsthal

Beitrag von muninn »

Ich hoffe dieses Thema wird nicht gleich gelöscht :shock: , denn es geht um einen Hofmannsthal Gedicht, welches ich mit Rilke Texten vergleichen möchte, (also Rilke nur im weiteren Sinne).

Konkret geht es um das Versmaß des folgenden Gedichts:

Gute Stunde

Hier lieg ich, mich dünkt es der Gipfel der Welt,
Hier hab ich kein Haus, und hier hab ich kein Zelt!

Die Wege der Menschen sind um mich her,
Hinauf zu den Bergen und nieder zum Meer:

Sie tragen die Ware, die ihnen gefällt,
Unwissend, daß jede mein Leben enthält.

Sie bringen in Schwingen aus Binsen und Gras
Die Früchte, von denen ich lange nicht aß:

Die Feige erkenn ich, nun spür ich den Ort,
Doch lebte der lange vergessene fort!

Und war mir das Leben, das schöne, entwandt,
Es hielt sich im Meer, und es hielt sich im Land!

Ich meine herausgefunden zu haben, dass jeder Vers mit einem Jambus beginnt und dann drei Anapäste folgen. Die einzige Ausnahme bildet der Vers "Die Wege der Menschen sind um mich her" da komme ich auf: Jambus, Anapäst, Jambus, Anapäst.

Das wäre natürlich sehr auffällig wenn in einem Gedicht alles dermaßen regelmäßig ist und es nur eine einzige Ausnahme gibt. Die "Menschen" würden damit komplett aus dem starren Schema fallen (welches auch noch durch das vollkommen regelmäßige Reimschema unterstützt wird). Dumm wäre nur, wenn ich meine Interpretation darauf aufbaue und später feststelle, dass ich einfach nur beim Versmaß einfach einen Fehler gemacht habe...

Also wer kann helfen? Kommt ihr auf die gleiche "Lösung" oder kann jemand meinen Denkfehler finden.

Ich bin für jede Hilfe dankbar...
gliwi
Beiträge: 941
Registriert: 11. Nov 2002, 23:33
Wohnort: Ba-Wü

Re: Nachbarschaftshilfe bei Hofmannsthal

Beitrag von gliwi »

Hallo muninn,
Anapäste sind in der deutschen Lyrik äußerst selten. Ich sehe hier:
Daktylen mit Auftakt
Zwei Unterbrechungen: die eine von dir festgestellte, außerdem noch das "Unwissend", das mit einer betonten Silbe anfängt, und dann folgen drei Senkungen.
Meine Lesart!
Gruß
gliwi
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Re: Nachbarschaftshilfe bei Hofmannsthal

Beitrag von stilz »

Hallo Muninn,

vielleicht ist es ja schon zu spät für eine Antwort, aber ich hab Deine Frage erst jetzt entdeckt.
Und ich bin auch gar nicht sicher, ob das, was ich jetzt schreibe, Dir eine "Hilfe" sein wird...

Aber
gliwi hat geschrieben: Anapäste sind in der deutschen Lyrik äußerst selten. Ich sehe hier:
Daktylen mit Auftakt
das möchte ich jetzt doch nicht so stehen lassen.
Ich finde, daß Anapäste "selten" sind, sollte hier kein Argument gegen sie sein.

Für mich liest sich dieses Gedicht viel natürlicher mit jambischem Beginn und darauffolgenden Anapästen. Wenn es Daktylen wären, gäbe es nicht nur in jeder Zeile einen "Auftakt", sondern auch noch am Schluß eine betonte Silbe, die für sich allein steht... ist natürlich prinzipiell möglich, es so zu konstruieren, hat aber für mich eben etwas "Konstruiertes".
In der Zeile "Die Wege der Menschen sind um mich her" läßt sich übrigens, wenn man das Vermaß unbedingt einhalten will, statt "sind" auch "um" betonen, dann gäbe es keine Unterbrechung. Einzig bei "Unwissend" kann man nicht mit einem Jambus beginnen, hier würde ich persönlich einen "Spondeus" sehen, man hat ja bei "unwissend" nicht zwei gleichberechtigte Senkungen, da die Nachsilbe doch noch etwas "unbedeutender" ist als der Wortstamm. Diese "Betonungsunentschiedenheit" scheint mir das "Unwissen" zu verdeutlichen - bei Rilke habe ich auch immer wieder Ähnliches gesehen, z.B. in diesem posting.

Es ist wohl eine Frage der eigenen Entscheidung, ob man die Versfüße lieber als Anapäste und Jamben ansieht oder als Daktylen und Trochäen mit Auftakt ... bei Trochäen und Jamben kann man, wie ich inzwischen gelernt habe, mithilfe des Begriffes "alternierendes Versmaß" dieser Entscheidung ausweichen; vielleicht gibt es so etwas auch für Anapäste und Daktylen?

Allgemein empfinde ich den Anapäst "aktiver" (das Wort kommt auch vom griechischen "ana" hinauf, "paiein" stoßen, schlagen) als den Daktylus. Vielleicht kommt es darauf an, ob man im vorliegenden Gedicht die Hauptsache im (passiven) "Liegen" sieht oder in den (viel aktiveren) Gedanken dessen, der da liegt...

Viel Erfolg!

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
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