Flamingos
Verfasst: 4. Mär 2009, 23:20
Hallo,
ich bin hier ganz neu und habe mich angemeldet, weil ich bei der Interpretaton des Flamingo-Gedichts (die ich für eine Schulstunde angefertigt habe) dann doch den Eindruck hatte, dass ich mich im Eifer zu weit vorgewagt habe. Trotzdem scheint es mir ganz schlüssig - und hätte gerne eine Rückmeldung, ob das völlig abstrus ist, was ich mir zusammengereimt habe, oder ob man meine Lesart des Gedichts ggf. doch teilen kann. Möglicherweise ist es eh nicht so originell, sondern Stand der Diskussion, aber ich hatte nicht die Zeit, in die Sekundärliteratur einzusteigen. Was an mir zugänglichen Interpretationen im Netz greifbar war, fand ich jedenfalls wenig überzeugend.
Hier also meine Lesart (heikel wird es weiter unten) - mit der Bitte um kritische Anmerkung:
Rilkes gemeinhin zu den sogenannten „Dinggedichten“ gezähltes Sonett beschreibt vordergründig Flamingos (wahrscheinlich die in Zoos relativ gut haltbaren Rosaflamingos) im Tiergehege-Bereich des Pariser Botanischen Gartens. Durch die auffällige Rosafärbung des Gefieders in Vers 2 charakterisiert, wird das ebenso starke äußere Merkmal der dünnen Beine (die wohl nur bei den Rosaflamingos rosa sind; die ebenso in Zoos üblichen Chinaflamingos sind nur an den Kniegelenken rosa, ansonsten eher grau) in Vers 6 erneut beschrieben („rosa Stiele“). Als Vogel mit stark ausgeprägtem Sozial- und Gruppenverhalten stehen sie nicht nur im Gehege des Jardin des Plantes „beisammen“ (V. 7) und ergeben mit dem grün der Natur das typische und von den Besuchern so gern gesehene, farbenprächtige Bild vom Grün der Natur und dem Weiß-Rosa des Gefieders.
Bei dem typischen Flamingo-Verhalten des Hals-Reckens als anscheinendem Putzverhalten, von Zoologen als „Twist-preen“ (vgl. Flamingo-Eintrag im Wikipedia) bezeichnet, wird durch die Streckung des Flügels auch das tief-schwarze und rote Flügelende sichtbar, das bei angelegten Flügeln versteckt unter dem rosa Gefieder liegt. „ (...) bergen in der eignen Weiche,/ in welcher Schwarz und Fruchtrot sich versteckt“, Vers 10/11.
Ausgelöst durch einen (Vogel-?) Schrei, verändern sich die Positionen der Vögel in der Voliere; sie gehen mit dem arttypischen, den Hals gestreckten Gang (dem sogenannten „ Marching“) (vgl. Vers 13) an einen anderen Ort, scheinbar ziellos und abrupt die Richtung ändernd „ins Imaginäre“ (V. 14).
Rilke hat typische Flamingo-Verhaltensweisen, die erst lange nach seiner Zeit von Phil Kahl systematisch beschrieben und kategorisiert wurden, gut beobachtet in dieses vierzehnzeilige Gedicht, das auch im Reim- und metrischem Schema der Sonettform folgt, einfließen lassen.
Da die Farb- und Verhaltenscharakterisierung und der Ort der Beobachtung explizit genannt werden (letzteres im Untertitel) gehen viele der Interpretationen über weniger offensichtlich aufzulösende Textangaben hinweg. Genau diese Nennungen bereiten bei einer tieferen Analyse jedoch Probleme und werfen Fragen auf, ob es sich bei den „Flamingos“ wirklich nur um die lyrische Beschreibung des bunten Geschehens in einem Vogelkäfig handelt.
Gleich im ersten Vers taucht der französische Maler Fragonard (vermutlich Jean-Honoré Fragonard; 1732-1806; der über eine Generation später lebende Maler und Bildhauer Alexandre-Évariste Fragonard (1780-1850) dürfte nur ausgewiesenen Kunstkennern bekannt gewesen sein) auf, dessen erotisch-anzügliche Bilder bis in Rilkes Zeit als Beispiel frivoler Lebenslust betrachtet wurden.
Kritische Leser müssen sich fragen, aus welchem Grund denn dieses Zitat kulturellen Wissens in ein Vogelgedicht einfließt! Drei Verse danach taucht eine weitere Frage auf, die mit der Vogelthematik nicht recht zusammen passen will. Wieso korreliert das Gedicht die rot-weiße Farbe der Flamingos mit einem intimen Schlafzimmergeschehen, „wenn er von seiner Freundin sagt: sie war / noch sanft von Schlaf (...)“ (V. 4/5)?
Dass dies eine wichtiger Textabschnitt ist, legt die Strophenzäsur und das diese relativierende Enjambement nahe. Welche Eigenschaft der Flamingos wird mit der Mann-Frau-Beziehung vor oder nach dem Schlaf in Verbindung gebracht? Wie muss das zeitliche „noch“ (V. 5) gelesen werden?
Das Ende der zweiten Strophe, erneut markant durch ein weiteres Enjambement zu dem ersten der zwei Terzette hervorgehoben, bringt die griechische Hetäre Phryne in den Gedichtkontext ein und konstatiert, dass die Flamingos sich selbst stärker verführen als dies Phryne hätte gelingen können (V.
. Wie kann die griechische Prostituierte, die vor dem Areopag durch ihren schönen Körper ihr Tun den Richtern als gottgefällig vermitteln konnte, mit den Flamingo-Gehege in Verbindung gebracht werden?
Drei eindeutig im erotischen Kontext stehende Textbelege müssen Zweifel aufkommen lassen, ob das Flamingo-Gedicht Rilkes wirklich eine „Dingbeschreibung“ ohne Verweischarakter ist. Vielmehr kann man die Dissonanz von Flamingo und erotischer Anspielung nur dann produktiv auflösen, wenn die Flamingos als Metapher betrachtet werden, die auf einen ganz anderen Kontext verweisen.
Diese Arbeitshypothese wird verstärkt durch den der Sonettform inhärenten antithetischen Aufbau, den man auch als das Spiel zweier Ebenen verstehen kann, die das literarhistorisch primäre realistische Geschehen (Flamingos) mit dem spätestens seit Goethe vorhandenen Transfergeschehen (Erotik) verknüpfen.
Rilke, ein Virtuose der Sonettform, amalgamiert die Erotik von Fragonard, der Phryne und der Mann-Frau-Beziehung mit dem Körpergestus und der Farbgestaltung der Flamingos. Die Flamingos müssen nicht nur als Vögel im Käfig gelesen werden, sondern auch als erotische Gestalten, die in ihrem Aussehen und in ihren Bewegungen Parallelen zur menschlichen Sexualität zeigen.
Vers eins postuliert genau diese Unterstellung: Das Geschehen im Käfig gleicht spiegelbildlich dem Geschehen auf den Bildern von Fragonard. Hier (im Käfig) wie dort (auf den Bildern) werden Szenen gezeichnet, die noch nicht erotisch, sondern im chronologischen Verlauf, in der Antizipation einer weitergedachten Geschichte, erst erotisch werden (vgl. etwa Fragonards „Der Riegel“ oder „Der gestohlene Kuss"). Sie deuten eine eindeutige Geschichte an, die der Leser/Betrachter in seiner Phantasie erotisch weiterschreibt.
Nicht die explizite Darstellung von Erotik ist das Thema, sondern die mit erotischen Versatzstücken arbeitende Andeutung einer Szene, die erst im Kopf des Rezipienten erotisch wird. Erotisch ist das, was versteckt ist, was nicht zu sehen ist, was erst noch gedacht werden muss. Genau darum geht es in der ersten Strophe. Sie spricht von versteckten Farben, die nur ahnen lassen, was unter den Federn für Sinnesfreuden vorhanden sind. Der Freund, der indiskreterweise eine Situation des Liebesgeschehens mitteilt, lässt genauso offen, was zwischen ihm und der Freundin geschieht, wenn sie wach sind. Aber der Leser vermutet doch stark, dass die Geschichte des Paares dann eine erotische sein würde.
Die erste Strophe, das erste Quartett stellt fest: Die Erotik liegt in der Andeutung. Das Versteckte, leicht Verhüllte ist spannender als das Nackte.
Im zweiten Quartett wird dieses Bild weiter entwickelt: Die Flamingos stehen verhüllt, geheimnisvoll beieinander und wirken in ihrer nur angedeuteten Erotik verführender als Phryne in ihrer Nacktheit vor den Richtern (die im Falle der Volière ja wohl die Zuschauer sein dürften). Aber die Erotik der Flamingos zielt nicht auf den richtenden und beobachtenden Zuschauer, sondern sie ist auf sich selbst bezogen (V.9); die erotische Schönheit der Vögel hat keine Absicht, sondern sie ist einfach da und darum da, weil sie absichtslos ist.
Das erste Terzett zerstört dieses in den ersten acht Versen aufgebaute Bild; die Andeutung, das Verstecken der größten Reize unter den Federn wird aufgehoben: Der Vorhang geht auf und die Vögel plustern und putzen sich, so dass das Versteckte sichtbar wird: Schwarz und Fruchtrot – Farben, die man unschwer auch in einen erotischen Metaphern-Kontext stellen kann.
Dem Moment des Sichtbarwerdens des Intimen (und wie anders sollte man das Halsen in die weichen Teile, die „Weiche“ (V. 10) anders lesen?), folgt der Schrei des Entsetzens. Was der Text als besonderes („auf einmal“) Ereignis in Vers 12 beschreibt, ist die Folge der kurzen Entblößung, der Sturm der Entrüstung, das skandalöse Ereignis – das Sekunden später schon wieder vorbei ist. Denn die Vögel haben sich nur „erstaunt gestreckt“, jedoch mit dem Bearbeiten ihrer Weiche aufgehört, und schreiten an einen anderen Ort. Aber der Text sagt eindeutig, dass dieser Schrei ein Schrei des Neides (V. 12) ist, ein Schrei also, der die eigenen Möglichkeiten mit den Möglichkeiten des Gegenüber vergleicht. Was den Flamingos möglich ist, wird neidvoll auf den Zuschauer (wer sonst könnte Träger des Neids sein?) gedreht, der diese kurze, selbstbezogene und naive („erstaunt“, V. 13) Entblößung nur neidvoll betrachten kann, denn ihm selbst ist sie nicht möglich.
In dieser Lesart des Flamingo-Gedichts lösen sich die mit anderen Interpretationsansätzen nicht befriedigend aufzulösenden Textangaben (Fragonard, Schlaf-Freundin, Phryne) zu einer konsistenten Gedankenfolge schlüssig auf. Wer die Erotik-Lesart teilt, wird sich dann auch fragen, ob die Flamingos nicht einfach nur Träger einer vielleicht etwas weit hergeholten Sinnzuweisung sind (i.e. Flamingos als erotische und freie Wesen schlechthin), sondern selbst auch Metaphern und Repräsentaten für etwas ganz anderes sind.
Es wäre schlüssig, den situativen Kontext des Betrachters der Flamingos etwa an einem Sonntag-Nachmittag zu parallelisieren mit dem gestelzten Defilieren und Präsentieren der Damen im Jardin des Plantes. Die sittsamen, aber in ihren modischen Andeutungen nicht sparsamen, tief ausgeschnittenen und konturierten Kleider der Frauen, die an den Armen ihrer Kavaliere durch den Park gehen, wären in diesem Sinne genauso zu verstehen wie die Federn der Flamingos. Sie verhüllen und deuten an, sie erotisieren und thematisieren – und manchmal auch entblößen sie sich fast ungewollt, um danach weiterzuschreiten, als wäre nichts gewesen.
ich bin hier ganz neu und habe mich angemeldet, weil ich bei der Interpretaton des Flamingo-Gedichts (die ich für eine Schulstunde angefertigt habe) dann doch den Eindruck hatte, dass ich mich im Eifer zu weit vorgewagt habe. Trotzdem scheint es mir ganz schlüssig - und hätte gerne eine Rückmeldung, ob das völlig abstrus ist, was ich mir zusammengereimt habe, oder ob man meine Lesart des Gedichts ggf. doch teilen kann. Möglicherweise ist es eh nicht so originell, sondern Stand der Diskussion, aber ich hatte nicht die Zeit, in die Sekundärliteratur einzusteigen. Was an mir zugänglichen Interpretationen im Netz greifbar war, fand ich jedenfalls wenig überzeugend.
Hier also meine Lesart (heikel wird es weiter unten) - mit der Bitte um kritische Anmerkung:
Rilkes gemeinhin zu den sogenannten „Dinggedichten“ gezähltes Sonett beschreibt vordergründig Flamingos (wahrscheinlich die in Zoos relativ gut haltbaren Rosaflamingos) im Tiergehege-Bereich des Pariser Botanischen Gartens. Durch die auffällige Rosafärbung des Gefieders in Vers 2 charakterisiert, wird das ebenso starke äußere Merkmal der dünnen Beine (die wohl nur bei den Rosaflamingos rosa sind; die ebenso in Zoos üblichen Chinaflamingos sind nur an den Kniegelenken rosa, ansonsten eher grau) in Vers 6 erneut beschrieben („rosa Stiele“). Als Vogel mit stark ausgeprägtem Sozial- und Gruppenverhalten stehen sie nicht nur im Gehege des Jardin des Plantes „beisammen“ (V. 7) und ergeben mit dem grün der Natur das typische und von den Besuchern so gern gesehene, farbenprächtige Bild vom Grün der Natur und dem Weiß-Rosa des Gefieders.
Bei dem typischen Flamingo-Verhalten des Hals-Reckens als anscheinendem Putzverhalten, von Zoologen als „Twist-preen“ (vgl. Flamingo-Eintrag im Wikipedia) bezeichnet, wird durch die Streckung des Flügels auch das tief-schwarze und rote Flügelende sichtbar, das bei angelegten Flügeln versteckt unter dem rosa Gefieder liegt. „ (...) bergen in der eignen Weiche,/ in welcher Schwarz und Fruchtrot sich versteckt“, Vers 10/11.
Ausgelöst durch einen (Vogel-?) Schrei, verändern sich die Positionen der Vögel in der Voliere; sie gehen mit dem arttypischen, den Hals gestreckten Gang (dem sogenannten „ Marching“) (vgl. Vers 13) an einen anderen Ort, scheinbar ziellos und abrupt die Richtung ändernd „ins Imaginäre“ (V. 14).
Rilke hat typische Flamingo-Verhaltensweisen, die erst lange nach seiner Zeit von Phil Kahl systematisch beschrieben und kategorisiert wurden, gut beobachtet in dieses vierzehnzeilige Gedicht, das auch im Reim- und metrischem Schema der Sonettform folgt, einfließen lassen.
Da die Farb- und Verhaltenscharakterisierung und der Ort der Beobachtung explizit genannt werden (letzteres im Untertitel) gehen viele der Interpretationen über weniger offensichtlich aufzulösende Textangaben hinweg. Genau diese Nennungen bereiten bei einer tieferen Analyse jedoch Probleme und werfen Fragen auf, ob es sich bei den „Flamingos“ wirklich nur um die lyrische Beschreibung des bunten Geschehens in einem Vogelkäfig handelt.
Gleich im ersten Vers taucht der französische Maler Fragonard (vermutlich Jean-Honoré Fragonard; 1732-1806; der über eine Generation später lebende Maler und Bildhauer Alexandre-Évariste Fragonard (1780-1850) dürfte nur ausgewiesenen Kunstkennern bekannt gewesen sein) auf, dessen erotisch-anzügliche Bilder bis in Rilkes Zeit als Beispiel frivoler Lebenslust betrachtet wurden.
Kritische Leser müssen sich fragen, aus welchem Grund denn dieses Zitat kulturellen Wissens in ein Vogelgedicht einfließt! Drei Verse danach taucht eine weitere Frage auf, die mit der Vogelthematik nicht recht zusammen passen will. Wieso korreliert das Gedicht die rot-weiße Farbe der Flamingos mit einem intimen Schlafzimmergeschehen, „wenn er von seiner Freundin sagt: sie war / noch sanft von Schlaf (...)“ (V. 4/5)?
Dass dies eine wichtiger Textabschnitt ist, legt die Strophenzäsur und das diese relativierende Enjambement nahe. Welche Eigenschaft der Flamingos wird mit der Mann-Frau-Beziehung vor oder nach dem Schlaf in Verbindung gebracht? Wie muss das zeitliche „noch“ (V. 5) gelesen werden?
Das Ende der zweiten Strophe, erneut markant durch ein weiteres Enjambement zu dem ersten der zwei Terzette hervorgehoben, bringt die griechische Hetäre Phryne in den Gedichtkontext ein und konstatiert, dass die Flamingos sich selbst stärker verführen als dies Phryne hätte gelingen können (V.
![Cool 8)](./images/smilies/icon_cool.gif)
Drei eindeutig im erotischen Kontext stehende Textbelege müssen Zweifel aufkommen lassen, ob das Flamingo-Gedicht Rilkes wirklich eine „Dingbeschreibung“ ohne Verweischarakter ist. Vielmehr kann man die Dissonanz von Flamingo und erotischer Anspielung nur dann produktiv auflösen, wenn die Flamingos als Metapher betrachtet werden, die auf einen ganz anderen Kontext verweisen.
Diese Arbeitshypothese wird verstärkt durch den der Sonettform inhärenten antithetischen Aufbau, den man auch als das Spiel zweier Ebenen verstehen kann, die das literarhistorisch primäre realistische Geschehen (Flamingos) mit dem spätestens seit Goethe vorhandenen Transfergeschehen (Erotik) verknüpfen.
Rilke, ein Virtuose der Sonettform, amalgamiert die Erotik von Fragonard, der Phryne und der Mann-Frau-Beziehung mit dem Körpergestus und der Farbgestaltung der Flamingos. Die Flamingos müssen nicht nur als Vögel im Käfig gelesen werden, sondern auch als erotische Gestalten, die in ihrem Aussehen und in ihren Bewegungen Parallelen zur menschlichen Sexualität zeigen.
Vers eins postuliert genau diese Unterstellung: Das Geschehen im Käfig gleicht spiegelbildlich dem Geschehen auf den Bildern von Fragonard. Hier (im Käfig) wie dort (auf den Bildern) werden Szenen gezeichnet, die noch nicht erotisch, sondern im chronologischen Verlauf, in der Antizipation einer weitergedachten Geschichte, erst erotisch werden (vgl. etwa Fragonards „Der Riegel“ oder „Der gestohlene Kuss"). Sie deuten eine eindeutige Geschichte an, die der Leser/Betrachter in seiner Phantasie erotisch weiterschreibt.
Nicht die explizite Darstellung von Erotik ist das Thema, sondern die mit erotischen Versatzstücken arbeitende Andeutung einer Szene, die erst im Kopf des Rezipienten erotisch wird. Erotisch ist das, was versteckt ist, was nicht zu sehen ist, was erst noch gedacht werden muss. Genau darum geht es in der ersten Strophe. Sie spricht von versteckten Farben, die nur ahnen lassen, was unter den Federn für Sinnesfreuden vorhanden sind. Der Freund, der indiskreterweise eine Situation des Liebesgeschehens mitteilt, lässt genauso offen, was zwischen ihm und der Freundin geschieht, wenn sie wach sind. Aber der Leser vermutet doch stark, dass die Geschichte des Paares dann eine erotische sein würde.
Die erste Strophe, das erste Quartett stellt fest: Die Erotik liegt in der Andeutung. Das Versteckte, leicht Verhüllte ist spannender als das Nackte.
Im zweiten Quartett wird dieses Bild weiter entwickelt: Die Flamingos stehen verhüllt, geheimnisvoll beieinander und wirken in ihrer nur angedeuteten Erotik verführender als Phryne in ihrer Nacktheit vor den Richtern (die im Falle der Volière ja wohl die Zuschauer sein dürften). Aber die Erotik der Flamingos zielt nicht auf den richtenden und beobachtenden Zuschauer, sondern sie ist auf sich selbst bezogen (V.9); die erotische Schönheit der Vögel hat keine Absicht, sondern sie ist einfach da und darum da, weil sie absichtslos ist.
Das erste Terzett zerstört dieses in den ersten acht Versen aufgebaute Bild; die Andeutung, das Verstecken der größten Reize unter den Federn wird aufgehoben: Der Vorhang geht auf und die Vögel plustern und putzen sich, so dass das Versteckte sichtbar wird: Schwarz und Fruchtrot – Farben, die man unschwer auch in einen erotischen Metaphern-Kontext stellen kann.
Dem Moment des Sichtbarwerdens des Intimen (und wie anders sollte man das Halsen in die weichen Teile, die „Weiche“ (V. 10) anders lesen?), folgt der Schrei des Entsetzens. Was der Text als besonderes („auf einmal“) Ereignis in Vers 12 beschreibt, ist die Folge der kurzen Entblößung, der Sturm der Entrüstung, das skandalöse Ereignis – das Sekunden später schon wieder vorbei ist. Denn die Vögel haben sich nur „erstaunt gestreckt“, jedoch mit dem Bearbeiten ihrer Weiche aufgehört, und schreiten an einen anderen Ort. Aber der Text sagt eindeutig, dass dieser Schrei ein Schrei des Neides (V. 12) ist, ein Schrei also, der die eigenen Möglichkeiten mit den Möglichkeiten des Gegenüber vergleicht. Was den Flamingos möglich ist, wird neidvoll auf den Zuschauer (wer sonst könnte Träger des Neids sein?) gedreht, der diese kurze, selbstbezogene und naive („erstaunt“, V. 13) Entblößung nur neidvoll betrachten kann, denn ihm selbst ist sie nicht möglich.
In dieser Lesart des Flamingo-Gedichts lösen sich die mit anderen Interpretationsansätzen nicht befriedigend aufzulösenden Textangaben (Fragonard, Schlaf-Freundin, Phryne) zu einer konsistenten Gedankenfolge schlüssig auf. Wer die Erotik-Lesart teilt, wird sich dann auch fragen, ob die Flamingos nicht einfach nur Träger einer vielleicht etwas weit hergeholten Sinnzuweisung sind (i.e. Flamingos als erotische und freie Wesen schlechthin), sondern selbst auch Metaphern und Repräsentaten für etwas ganz anderes sind.
Es wäre schlüssig, den situativen Kontext des Betrachters der Flamingos etwa an einem Sonntag-Nachmittag zu parallelisieren mit dem gestelzten Defilieren und Präsentieren der Damen im Jardin des Plantes. Die sittsamen, aber in ihren modischen Andeutungen nicht sparsamen, tief ausgeschnittenen und konturierten Kleider der Frauen, die an den Armen ihrer Kavaliere durch den Park gehen, wären in diesem Sinne genauso zu verstehen wie die Federn der Flamingos. Sie verhüllen und deuten an, sie erotisieren und thematisieren – und manchmal auch entblößen sie sich fast ungewollt, um danach weiterzuschreiten, als wäre nichts gewesen.