»Im Abenddämmer kommen sie und suchen nach dem Leben«

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Harald
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»Im Abenddämmer kommen sie und suchen nach dem Leben«

Beitrag von Harald »

Alles Schnüffeln war bislang vergeblich. Kennt jemand zufällig die Quelle dieses Zitats, das Sebald der letzten Erzählung der Ausgewanderten vorangestellt hat?
... und Anfang glänzt / an allen Bruchstelln unseres Mißlingens
helle
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Re: »Im Abenddämmer kommen sie und suchen nach dem Leben«

Beitrag von helle »

Hallo Harald,

ich weiß es leider auch nicht, weswegen ich zwar noch nicht schreiben würde. Aber die Zitate, die Sebald seinen Geschichten von den »Ausgewanderten« voranstellt, sind verfremdet und jedenfalls bearbeitet.

Dergestalt, daß das erste "Zerstöret das Letzte / die Erinnerung nicht", auf Hölderlins »Elegie« zurückgeht, ohne sie genau zu zitieren, da es dort heißt:

»Darum irr' ich umher, und wohl, wie die Schatten, so muß ich
Leben und sinnlos dünkt lange das Übrige mir.
Danken möcht' ich, aber wofür? verzehret das Lezte
Selbst die Erinnerung nicht?«

Ähnlich »My field of corn is / but a crop of tears« (S. 95).
Ich zitiere der Einfachheit aus halber meiner Internet-Quelle:

»When looked up in Bartlett’s Familiar Quotations, this turns out to be an inaccurate quotation from “Tichborne’s Elegy,” a work by the little-known British poet Chidiock Tichborne (1558-1586). The original quote reads:

My prime of youth is but a frost of cares,
My feast of joy is but a dish of pain,
My crop of corn is but a field of tares,
And all my good is but vain hope of gain:
The day is past, and yet I saw no sun,
And now I live, and now my life is done. (611, emphasis added)«

»Manche Nebelflecken / löset kein Auge auf« stammt aus J. Pauls »Vorschule« (§ 14), ist aber kein Vers und heißt im Satzzusammenhang: »[...] und manche Nebelflecken löset kein Auge auf, [...]«.

Man kann also vermuten, daß Sebald auch das von Dir gesuchte Zitat nicht wortgetreu, sondern, aus welchem Grund auch immer, in einer umgeschriebenen Version, verwendet. Es klingt ja etwas nach Vampir. Ich würde ihm sogar zutrauen, ohne es wirklich zu glauben, daß er es selbst geschrieben und nur als Zitat fingiert hat.

Gruß, h.
Harald
Beiträge: 230
Registriert: 28. Dez 2005, 23:47

Re: »Im Abenddämmer kommen sie und suchen nach dem Leben«

Beitrag von Harald »

Die drei Zitate, bei denen man mit etwas Probieren fündig wird, waren der Anlass für meine Frage. Außerdem hatte ich das Gefühl, dieses Zitat aus der Menschheitsdämmerung zu kennen, aber da Google gar so beharrlich schweigt, war das wohl Einbildung.
So sei hier wenigstens angemerkt, dass Die Ausgewanderten zum Beindruckendsten gehören, was die deutsche Gegenwartsliteratur zu bieten hat. Kunstinteressierte werden vielleicht auf ein alter ego von Max Aurach, den Maler Frank Auerbach (wunderbares Porträt von Lucien Freud!) neugierig. Google Bilder gibt eine erste Vorstellung.
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sedna
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Re: »Im Abenddämmer kommen sie und suchen nach dem Leben«

Beitrag von sedna »

Kurios! Seit ich mich um Die Ringe des Saturn herum lese, habe ich in der Tat - zufällig - einen Verdacht. Vielleicht hat sich die Frage längst erledigt - aber unbeantwortet wie sie hier steht, muß sie sich meine Mutmaßungen eben gefallen lassen.
Wie schon angedeutet, Sebald mochte ja Theodor Fontanes lyrische Wanderungen und Reisebeschreibungen, und so sei hier eine (etwas zugespitzte) Passage aus Fontanes Reise-Erinnerung "Jenseit des Tweed - Ein Gang nach St. Anthony's Chapel" zitiert, die meinem Empfinden nach nicht nur mit dem Motto eigentümlich korrespondiert - auch mit der Grundstimmung im Buch, mit Manchester, dem Nebel und sogar dem Ende der vorangehenden Erzählung:

"[...] links, aus dem Talkessel hervor, schimmerten die Türme von Holyrood, nur kaum erkennbar noch, im Abenddämmer [...] Die Abendnebel kamen jetzt leise vom Meere herauf und begruben rasch den letzten Rest von Leben"

Das Unabwendbare: Bei Fontane zauberhaft, bei Sebald schauderhaft - Während Sebalds offenes Motto auf nichts Tröstliches hoffen lässt, fällt die nebelumrankte Welt in Fontanes Bild in einen Dornröschenschlaf.
Warum es mir dadurch noch naheliegender erscheint, liegt in der Verfremdung des Zitats. Liest sich manch anderes von ihm nicht gar wie eine verschlüsselte Gebrauchsanweisung?

Versiegelt die Absicht
bewahrter Zeichen.
Durch Regen gereist
verwischt die Adresse.
Vermute das "Wiederkehr"
am Ende des Briefes!
Zuweilen gegen das Licht
erscheint: "der Seele".
W. G. SEBALD

Nicht einfach nur wiedererkennbar sein, sondern (um in Sebalds Begriffen zu sprechen) an das erinnern können, was schon geschrieben war - und das setzt eben eine gewisse Entfernung voraus ... ohne mich jetzt weiter an eine Reise ins Phantastische verlieren zu wollen: Es soll ja nur deutlich werden, wie leicht es passieren kann, in einem Rilke-Forum Sebald zu rühmen, obgleich man nur zufällig hier vorüber kam und eigentlich nicht viel zu sagen hatte.

Etwas Eigentliches zum Thema Überlieferung gibt's eh schon in Rilkes Worten:
"Ruhm im antikischen Sinn, was nicht Bekanntgemachtwerden hieß, sondern Nicht-mehr-verborgen-werden-Können".

Da mag sich nun ein jeder seinen oder keinen Reim drauf machen ...

sedna
die ein ausbrechendes Lied in die Unsichtbarkeit wirft!
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