Liebe Arosa,
ich will versuchen, zu vermitteln, wie ich den "Malte" verstehe:
Zuerst möchte ich auf den Anfang der Passage eingehen, die Christoph zitiert hat:
- Ist es möglich, daß es Leute giebt, welche ›Gott‹ sagen und meinen, das wäre etwas Gemeinsames?
Dazu fällt mir dieses Gedicht aus dem "Stunden-Buch" ein:
- Mit einem Ast, der jenem niemals glich,
wird Gott, der Baum, auch einmal sommerlich
verkündend werden und aus Reife rauschen;
in einem Lande, wo die Menschen lauschen,
wo jeder ähnlich einsam ist wie ich.
Denn nur dem Einsamen wird offenbart,
und vielen Einsamen der gleichen Art
wird mehr gegeben als dem schmalen Einen.
Denn jedem wird ein andrer Gott erscheinen,
bis sie erkennen, nah am Weinen,
daß durch ihr meilenweites Meinen,
durch ihr Vernehmen und Verneinen,
verschieden nur in hundert Seinen
ein Gott wie eine Welle geht.
Das ist das endlichste Gebet,
das dann die Sehenden sich sagen:
Die Wurzel Gott hat Frucht getragen,
geht hin, die Glocken zu zerschlagen;
wir kommen zu den stillern Tagen,
in denen reif die Stunde steht.
Die Wurzel Gott hat Frucht getragen.
Seid ernst und seht.
[Hervorhebungen stilz]
Gott als "etwas Gemeinsames" - das gibt es also nicht als etwas Gegebenes, das wir irgendwo in einer Ecke liegen lassen können, ohne es zu "gebrauchen". Sondern das ist etwas, das entwickelt werden muß. Ich sage nicht "das
sich entwickelt" - denn das würde bedeuten, daß wir unsere Hände in den Schoß legen und diese Entwicklung einfach abwarten könnten.
So ist es aber nicht. Wir selber haben
mitzuwirken an der Entwicklung Gottes. Indem jeder einzelne "Einsame" den Gott, der ihm erschienen ist, "gebraucht". Sonst verrostet die Klinge des Messers und wird unbrauchbar...
Ich denke dabei auch an Rilkes Schrift "Zur Melodie der Dinge", die ich leider nicht im Gesamten kenne, aber
RilkeFreundin hat
hier vor längerer Zeit ein paar Stellen daraus zitiert, unter anderem diese hier:
- Es ist eine sorglose Sicherheit in der einfachen Überzeugung, Teil einer Melodie zu sein, also einen bestimmten Raum zu Recht zu besitzen und eine bestimmte Pflicht an einem breiten Werke zu haben, in dem der Geringste ebenso viel wertet wie der Größte. Nicht überzählig zu sein ist die erste Bedingung der bewußten und ruhigen Entfaltung.
Also diesen "Teil einer Melodie" zu besitzen, ist nicht nur ein
Recht, sondern auch eine
Pflicht. Und wenn nicht jeder einzelne Musiker das Seine dazu tut, kann die gesamte Melodie, Gott, "verschieden nur in hundert Seinen", nicht erklingen...
- ... Ach so: Ist es möglich, zu glauben, man könne einen Gott haben, ohne ihn zu gebrauchen?
Ja, es ist möglich.
Wenn aber dieses alles möglich ist, auch nur einen Schein von Möglichkeit hat, - dann muß ja, um alles in der Welt, etwas geschehen. ...
Arosa hat geschrieben:
Warum sollte sich Gott (für Malte) gerade dadurch entwickeln, dass geschrieben wird , bis zum Ende ? Gäbe es da nicht Sinn-Volleres zu tun ?
Um in dem Gottesbild zu bleiben, daß sich in diesen Zeilen ausdrückt:
- ... verschieden nur in hundert Seinen
ein Gott wie eine Welle geht.
Die "Welle" Gott ist angewiesen darauf, daß jeder einzelne "Wassertropfen" gerade das tut, was
für ihn (und nicht etwa für den Nachbartropfen) "sinn-voll" ist. Für Malte ist es das Schreiben.
Hier liegt sein Auftrag. Denn er hat etwas erkannt, etwas Ungeheuerliches, sodaß er nun seinen "Möglichkeitssinn wetzen"
(danke, Christoph ) muß, nach beiden Seiten sozusagen, einerseits: ist es möglich, daß alles, wovon bisher gesagt und geschrieben worden ist, auch eine andere Seite hat und "umgestülpt" werden kann, sodaß diese "andere Seite" das erste ist, was man sieht? Und auch: wenn es diese "andere Seite" gibt: ist es möglich, daß sie bisher nicht erkannt und aufgeschrieben wurde?
Nochmal aus der 14. Aufzeichnung:
- Ist es möglich, denkt es, daß man noch nichts Wirkliches und Wichtiges gesehen, erkannt und gesagt hat? Ist es möglich, daß man Jahrtausende Zeit gehabt hat, zu schauen, nachzudenken und aufzuzeichnen, und daß man die Jahrtausende hat vergehen lassen wie eine Schulpause, in der man sein Butterbrot ißt und einen Apfel?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fortschritten, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist? Ist es möglich, daß man sogar diese Oberfläche, die doch immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen Stoff überzogen hat, so daß sie aussieht, wie die Salonmöbel in den Sommerferien?
Ja, es ist möglich.
Ist es möglich, daß die ganze Weltgeschichte mißverstanden worden ist? Ist es möglich, daß die Vergangenheit falsch ist, weil man immer von ihren Massen gesprochen hat, gerade, als ob man von einem Zusammenlauf vieler Menschen erzählte, statt von dem Einen zu sagen, um den sie herumstanden, weil er fremd war und starb?
Ja, es ist möglich.
Deshalb wird dieser
"junge, belanglose Ausländer, Brigge, ... sich fünf Treppen hoch hinsetzen müssen und schreiben...das wird das Ende sein."
Dieses Ende - ist es nicht gleichzeitig auch ein Anfang?
Lieben Gruß
Ingrid
P.S.: Ich freu mich sehr über Deinen Vortrag, und ganz besonders darüber, daß die Teilnehmer nun selber zum Übersetzen aufgerufen sind!