Liebe tora,
was den Brief angeht, den hab ich hier zu Hause nicht zur Hand und finde ihn auch nicht im Netz, aber da gibt’s das so einfache wie probate Mittel, in einer Bibliothek den entsprechenden Briefband auszuleihen (»Briefe aus den Jahren 1906-1907«, oder auch von 1907-14), jede anständige Stadtbücherei sollte Rilkes Briefbände besitzen, Du könntest dann auch noch ein paar andere Briefe vom Capri-Aufenthalt lesen, schaden kann das nicht, Rilke konnte ja schreiben.
Die Idee, das »Lied vom Meer« vor dem Hintergrund der Erzählung von den Sirenen zu interpretieren, ist ungewöhnlich, aber deshalb sicher auch von großem Reiz. Ich bin zwar wie gliwi der Meinung, daß eine solche Auslegung nicht zwingend ist, aber möglich wäre sie schon, das Gedicht könnte sie sozusagen vertragen und zulassen, das hängt natürlich auch an der Überzeugungskraft Deiner Darstellung. Biographisch würde ich sie nicht anstellen, das habe ich ja neulich schon geschrieben, die drei Frauen etwa, mit denen Rilke auf Capri war, mit den Sirenen gleichzusetzen, diese Gleichung geht einfach nicht auf, der Text gibt es sprachlich nicht her, die Lebenssituation auch nicht. Außerdem hat Rilke ja ein Gedicht geschrieben hat, das sich ausdrücklich auf die Sirenen bezieht, »Die Insel der Sirenen«, in der »Neuen Gedichte anderer Teil«, das müßtest Du schon berücksichtigen. Zu beiden Punkten kannst Du im Netz Überlegungen von Masahiko Kawanaka finden (
http://www.kclc.or.jp/humboldt/kawanakg.htm), die sind zwar eher wissenschaftlich, aber deswegen noch nicht unverständlich und ich würde sie mir an Deiner Stelle ansehen.
In jedem Fall – diesen im »Lied vom Meer« geschilderten Wind: »wenn einer wacht, / so muß er sehn, wie er / dich übersteht: / [...]« überhaupt als eine Gefährdung, Verlockung und Versuchung unserer Bewußtseins zu interpretieren, also als eine Art Sirenengesang, von wem immer er ausgehen mag, vielleicht nur von einem Unbekannten, unserer alltäglichen Weltanschauung irgendwie Abgewandten, Unzugänglichen, das könnte ich mir schon vorstellen, eher denn als Nihilismus-Anhauch, von dem war Rilke ziemlich unbeeindruckt, auch wenn er allerlei von Nietzsche übernommen hat, nicht zuletzt die Lou. Es ist sehr originell, gutes Gelingen dabei
wünscht helle