Interpretation für "Leichen-Wäsche"?

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darkmoon fairy
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Interpretation für "Leichen-Wäsche"?

Beitrag von darkmoon fairy »

Hallo ihr Lieben,

könnte mir jemand Informationen zur Interpretation des Gedichtes "Leichen-Wäsche" (1908, 'Dinggedicht', Paris) geben, d.h. Interpretationsideen / -ansätze sowie Deutungen der einzelnen Strophen-Inhalte? Im I-net habe ich dazu keine wirklichen Hinweise oder Infos gefunden.. :roll:

Bitte helft mir! Wäre für jeden Hinweis offen und überaus dankbar!!!
stilz
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Re: Interpretation für "Leichen-Wäsche"?

Beitrag von stilz »

Hallo darkmoon fairy :),

schau mal hier, da gab's eine Diskussion über ein verwandtes Gedicht, "Morgue", vielleicht hilft Dir das schon ein bisserl weiter...
Ansonsten schlage ich vor, Du schreibst hier ins Forum, wie Du das Gedicht verstehst, bzw was Dir unklar ist - dann können wir darüber reden!

Lieben Gruß

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
darkmoon fairy
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Re: Interpretation für "Leichen-Wäsche"?

Beitrag von darkmoon fairy »

hallo:)
erstmal Danke für den Hinweis auf 'Morgue'- der Text enhält schonmal gute und brauchbare Indizien!
Nun erstmal zum Gedicht mit meinen nachfolgenden Gedanken:

Leichen-Wäsche
Sie hatten sich an ihn gewöhnt. Doch als
die Küchenlampe kam und unruhig brannte
im dunkeln Luftzug, war der Unbekannte
ganz unbekannt. Sie wuschen seinen Hals,

und da sie nichts von seinem Schicksal wussten,
so logen sie ein anderes zusamm,
fortwährend waschend. Eine musste husten
und ließ solang den schweren Essigschwamm

auf dem Gesicht. Da gab es eine Pause
auch für die zweite. Aus der harten Bürste
klopften die Tropfen; während seine grause
gekrampfte Hand dem ganzen Hause
beweisen wollte, dass ihn nicht mehr dürste.

Und er bewies. Sie nahmen wie betreten
eiliger jetzt mit einem kurzen Huster
die Arbeit auf, so dass an den Tapeten
ihr krummer Schatten in dem stummen Muster

sich wand und wälzte wie in einem Netze,
bis dass die Waschenden zu Ende kamen.
Die Nacht im vorhanglosen Fensterrahmen
war rücksichtslos. Und einer ohne Namen
lag bar und reinlich da und gab Gesetze.


Schon mit dem ersten Satz: ‘Sie hatten sich an ihn gewöhnt’ wird signalisiert, das die Leiche schon eine weile dort liegen muss, und wie alltäglich diese Situation für die Leichenwäscherinnen ist, wie gleichgültig, abgekühlt und distanziert sie ihr gegenüberstehen, ohne persönlichen Bezug zu dem ‚Fremden’ auf dem Tisch, der im Dunkeln genauso unbekannt/unerkannt bleibt wie im hellen Schein der Küchenlampe.

Der Tote stellt im Sinne der Wäscherinnen nur ein zu bearbeitendes, vergegenständlichtes Objekt ihrer Arbeit dar, für die sie bezahlt werden. Sie spinnen sich, ihren Gedanken nachhängend, ein mögliches Schicksal zusammen, wie der Tote früher lebte, welchen Tätigkeiten er nachging und welches Schicksal ihm zuteil wurde/wie er vom Tode ereilt wurde. Doch dient dies nur dem Zeitvertreib und der Ablenkung, denn es spiegelt sich selbst in der fast erschreckend gleichgültigen Handlung, den Essigschwamm bedenkenlos auf dem Gesicht –welches den Ort des Ausdrucks, der Kommunikation und Sinneswahrnehmung darstellt- liegen lässt, und ihm auf Grund seiner Leblosigkeit gar keine Lebensaspekte mehr zugesteht, sondern ihn konsequent in den Bereich eines leblosen, gefühlstoten Gegenstandes katapultiert, nur im der banalen Notwendigkeit eines Husters nachzukommen. Und wie zur Bestätiung macht in diesem Sinne auch die zweite Wäscherin keine Ausnahme.

Nur die ‚grause, gekrampfte’ von der Leichenstarre gelähmte Hand, scheint das einzigste Indiz auf das vergangene Leben des Toten, auf sein mögliches Schicksal zu sein, welches auf eine nur widerstrebende Unterlegung im Todeskampf hindeutend könnte. In der Registrierung dieser so unheimlich-ergreifenden Geste, welche scheinbar jeden Moment aus ihrer Starre erwachen könnte, fahren die Wäscherinnen, eingenommen von der düster-unerklärlichen Atmosphäre -nun doch etwas nervös- in dem Bewusstsein der Allmacht des Todes, mit ihrer Tätigkeit fort.
Und die Schatten scheinen sich über ihre Häupter zu erheben, übermächtig und unbegreiflich, wie eine höhere Macht der alle ausgeliefert sind, nicht ohne eine gewisse Ehrfurcht vor dem Leben zu erwecken, dessen Anfang und Ende die Lebenden nicht im Stande zu beeinflussen sind.

Die wirbelnden Schatten im Schein der Lampe, die in den Augen der Wäscherinnen den Kampf mit dem Tod darstellen, wie ein sich windender Fisch im Netz, der der Endkonsequenz nicht mehr entgehen kann- so stehen die Menschen dem Tod gegenüber, ausgeliefert, unterlegen, genauso wie momentan noch der Leichnam, eine seelenlose Hülle, den Wäscherinnen unterworfen ist, und in ihrer Obhut einer letzten Aufbereitung für eventuelle Besucher –ihren Augen zur Schonung- unterzogen wird.

Und in der Blöße der unbarmherzigen, gar ‚rücksichtslosen’ Nacht ist der Leblose letztlich nackt und unverstellt der Realität ausgesetzt, der Dunkelheit, die selbst die Lebenden gnadenlos mit ihren Ängsten und Sorgen, und vor allem mit sich selbst, konfrontiert. Denn die Leiche an sich verdeutlicht nur den Fakt, die Tatsache, dass alles Leben endlich und begrenzt ist, und bestätigt resignativ das unleugbare Gesetz des natürlichen Kreislaufes von Leben und Tod.


(Wie könnte der Tote seine Leblosigkeit bewiesen haben (3./4.Strophe) ? Ich deutete es in meiner Interpretation auf die blose erschreckende Existenz der verkrampften Haltung seiner Hand, die so den Wäscherinnen auffiel (?), vllt. das auch die Phantasie mit ihnen durchging, in der furcht, sie könne eine letzte Zuckung aufweisen.
Das ‚Gesetz’ (letzte Strophe) führe ich auf das ‚Naturgesetz’ von Leben und Tod zurück.)

So. Dies zu meinen Deutungen. Ich bin für weitere Ergänzugen/Anregungen/Kritiken aber trotzdem weiterhin offen!


Doch wie steht es mit den Hintergrund-Informationen/Beweggründen/Lebensumständen Rilkes zu der Zeit?

Wie ich deinem Link entnahm, schrieb er es 2 Jahre nach einem wahrscheinlich sehr einprägsamen Besuch in einem Leichenschauhaus (nach dem ‚Morgue’-Thema), sowohl zur mutmaßlichen Verarbeitung dieser Eindrücke, als auch um seine dichterliche Abkehrung von der Außenwelt zu signalisieren. Spielte nicht auch das triste Großstadt-Flair von Paris dabei eine Rolle, welches ihn traumatisierte (u auch für weitere Ding-Gedichte Stoff lieferte) ? Was könnte noch eine Rolle gespielt haben / verarbeitet worden sein, etc.?
gliwi
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Re: Interpretation für "Leichen-Wäsche"?

Beitrag von gliwi »

Hallo d.f.
Es gibt zwei Anspielungen auf Christus, nämlich der Essigschwamm und, damit korrespondierend, dieses "dass ihn nicht mehr dürste". In der Passion wird beschrieben, wie Jesus am Kreuz sagt: "Mich dürstet", und dann wird ein Schwamm mit Essig getränkt und ihm auf einem Stab hochgereicht. Damit wird dieser Unbekannte mit der Passion Christi in Beziehung gesetzt.
Gruß
gliwi
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
darkmoon fairy
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Re: Interpretation für "Leichen-Wäsche"?

Beitrag von darkmoon fairy »

Vielen Dank für den wichtigen Hinweis, hatte ich doch glatt übersehen :)
Blos gut das es Leute gibt, die sich da auskennen!
:wink:
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