Deluxe_S hat geschrieben:… Deswegen weiß ich eben nicht so richtig, was ich schreiben soll, weil Rilke nun mal seine eigene Sprache und seinen eigenen unvergleichlichen Stil hatte.
Gehe ich mal davon aus, dass ein kompetenter Deutschlehrer das auch schon bemerkt oder zumindest im Proseminar vermittelt gekriegt hat, dann wird er es nicht aus Willkür bestreiten, sondern Euch SchülerInnen auf eben genau diese Entdeckung hinführen wollen, für die Du offenbar gerade schon eintrittst: das absolut Vorbildlose und Unverkennbare, nirgends und niemals Modische des Rilke eigenen Stils - wodurch alle Nachahmer beschämt würden. Ja, Euer Lehrer dürfte dann sogar mit Arbeiten ganz
unzufrieden sein, deren VerfasserInnen nicht für möglich halten, dass die "Schublädchen-Frage" (ja gewiss,
gliwi!) eine Fangfrage ist, und die Rilke gehorsamst in eine Schema-Zuordnung zu knechten versuchen.
Aber damit ist durchaus nicht der Fall gegeben, dass Du aus literaturgeschichtlich-systematischer oder stilkritischer Fragestellung nichts zu Rilke schreiben kannst - im Gegenteil: Gerade das extrem
Individuelle des Rilkeschen Stils und der Rilkeschen Motivwahl ist ja eine fachgerecht erkundende Analyse wert, und die kann für Dich beginnen mit dem gewissenhaften Charakterisieren der Sprach-Gesten, die Du bei Rilke als „unvergleichliche“ entdeckst. Findest Du vielleicht sogar einen Begriff für das, was wiederkehrt, sich aus dem Frühwerk herleitet, im Spätwerk steigert?
Ein paar Beispiele: «eine Handvoll Innres», «Ich lerne sehen.» (
Malte 4) und «Was, wenn Verwandlung nicht…». Oder ein ganzes Gedicht:
Die Erblindende. Du gehst dem ganz erlebensoffen nach: Woran eigentlich erkennst Du untrüglich, dass es von Rilke ist? Das arbeitest Du heraus und lieferst den Erweis, dass Du für Rilkes Behandlung der Sprache eine neue Kategorie einrichten musst, weil Begriffe wie „expressionistisch“ dem schöpferisch Neuen nicht vollständig gerecht werden könnten.
Diese neue Kategorie bloß zu behaupten reicht aber nicht; Du musst schon ihre Elemente sehr genau in Augenschein nehmen und das Durchgängige in der Werkentwicklung belegen, wenigstens exemplarisch.
Demgegenüber wäre es ja geradezu langweilig, die gestellte Frage durch eine einfallslose Einordnung zu beantworten.
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„Motivik“ ist ein Begriff, den ich aus der Rezension von musikalischen Werken im Feuilleton gut kenne; gerade bei Programmmusik («Die Moldau») ist er ganz gebräuchlich.
Neulich war ich in einem Konzert mit Aleksey Igudesman und Richard Hyung-Ki Joo, die zappten die Kremerata Baltica per „Fernbedienung“ durch die Violinkonzerte der Musikgeschichte; ich vermute, dass es Aufnahmen davon schon in YouTube gibt. In einem anderen Stück brachten sie eine Mobiltelefon-Klingel-Tonfolge im Stil von Komponisten von Claudio Monteverdi bis Arnold Schönberg. In dem erstgenannten Stück identifiziert man als Zuhörer anhand der Motivik, woran man ist - immer schon im ersten Takt. Im zweiten Stück bleibt ja das zitierte Motiv dasselbe, nur der Stil lässt die Autorschaft erkennen. (Stell’ Dir mal die Westminster Chimes vor als Basso Ostinato einer hochbarocken Passacaglia, dann als horngeblasenes Wagner-Motiv, dann als musikalische Debussy-Travestie.)
Warum ich’s erzähle: Ich habe noch nie eine wirklich taktvolle und stilistisch überzeugende Rilke-Parodie gefunden; alle bleiben an der Form haften, um den Bezug zu etwas Populärem aus Rilkes Werk zu schaffen:
- Herr: es ist Zeit. Im Frühjahr war nichts los.
Schenk Sonne Portugiesiens Wiesen
Und Rudis Riesen auch mal einen Freistoß.
Empfiehl den Fans nicht allzu voll zu sein,
Gib Ballack brasilianischere Tage.
Pass auf die Kirsche auf - und bitte jage
Sie nicht zu oft in Ollis Kasten rein.
Wer jetzt nicht Karten hat, kriegt keine mehr.
Wer jetzt kein Bier kalt stellt, muss warmes saufen.
Wer GEZ nicht zahlt, muss "Kicker" kaufen
Und durch verwaiste Straßen hin und her
Unruhig wandern, wenn wir Holland kaufen.
Das haben wir während der WM im „Spiegel“ lesen müssen.
Ganz klar, gelt: nicht von Rilke. Unsere innere Stil- und Motivik-Spürnase weiß es noch vor unserem argumentierenden Verstand.
Auf beider urteilssich're Begründung aber kommt es an!
Also ich finde Deine Aufgabe spannend, wenn Du mit der gestellten Frage nur souverän genug umzugehen wagst. Man kann daran tüchtig literaturwissenschaftliches Handwerkszeug erproben (das hat man Euch doch hoffentlich in elementaren Grundzügen zur Verfügung gestellt?), und der Schritt von der interessegeleiteten philologischen Betrachtung zur karmischen Erforschung kann sogar recht klein sein - kommst Du in diese Bereiche, wird das Bildungssystem allerdings zu Recht von allen Seiten rufen: Thema verfehlt! Bestenfalls genial verfehlt.
Ja, die Schul-Aufgabe ist - je nach Auffassung - sehr anregend; als Rasterfrage (Kenntnistest) dagegen hielte ich sie für so unlösbar wie sinnlos.
Schönen Gruß auch an Deinen Lehrer! (Vielleicht liest er ja hier mit?)
l.