Hallo Anna,
ja da hast Du Dir wirklich Spannendes vorgenommen: über hundert Jahre nach Rilke auf seinen Wegen durch Chartres zu gehen, auf das zum Bau-Werk gewordene Allzeitlich-Überräumliche quasi Rilkes Blick zu richten - da wär' ich herzlich gern dabei, aber diesen Herbst kann ich das leider nicht einplanen.
Ich vermute allerdings, den 25. Januar 1906 zu rekonstruieren wird wohl kaum gelingen, und Rilke-Gedenktafeln wird es dort nicht geben.
Jedoch was die Kathedrale anlangt, empfehle ich Dir dringend, am Donnerstagabend anzureisen oder am Freitagmorgen sehr früh aufzustehen, so dass Du am Freitagmorgen um 8 Uhr da bist zur Öffnung der Türen im Westportal (manchmal machen sie auch nur im Süden auf). Denn jeden Donnerstagabend werden die Bet-Stühle auf dem Labyrinth weggeräumt, und
nur Freitagvormittag (
vendredi|Venus-Tag im aufsteigenden Sonnenbogen, wie passend!, fällt mir gerade auf)
ist das Labyrinth frei. Wenn Du Dich nicht angesichts verzückter New-Age-Touristen ablenken lässt, dann kannst Du zu einem sehr eindrucksvollen Erlebnis kommen.
Ob Rilke das Labyrinth beachtet hat, weiß ich nicht zu sagen; vielleicht fliegt mir ja hier eine Antwort zu
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Ansonsten, die Rosette (voici von außen) auf alle Fälle!, auch noch mal am Nachmittag bei einflutendem Westlicht; den gerühmten Engel am südlichen der beiden Westtürme, das ist ja klar; und meines Wissens war Rilke mit Rodin auch auf den Turm hinaufgestiegen, aber dessen bin ich nicht sicher.
Gerade sind die Marien-Fenster frisch restauriert; Freunde, die kürzlich wieder dort waren, rühmen den nun noch lichteren Farbeindruck.
Die heutige Orgel ist nicht die, die Rilke gehört hat; nur Teile der Gehäusetürme und einige Labiale der ursprünglichen 36 (/III) Register wurden 1971 beim Umbau (67/IV, neoklassische Disposition, elektropneumatische Traktur, ein schwalliges Monstrum) übernommen.
Und stelle Dir immer vor, Rilkes Begleiter war plastischer Künstler, nicht Architekt. Aber Rodin verstand durch Studium auch der unübertrefflich illustrierten Schriften von Viollet-le-Duc viel von der sakralen Baukunst gerade der Gotik in Frankreich.
Ach, noch etwas:
Fahre von Paris/Versailles her unbedingt über die alte Route Nationale N° 10 hin, über Rambouillet, nicht über die A 11 (von wo aus man zwischen Lärmschutzwällen wenig sieht) - oder per Bahn mit einem der langsameren Regionalzüge, in denen man die Fenster noch öffnen kann: So dürfte es auch Rilke erlebt haben, der hoch aufragenden Kathedrale allmählich näher zu kommen. Sie war von weither sichtbar über den ausgedehnten Weizenfeldern der Region, die von dem beim Kathedralbau verstreuten kieselreichen Steinmehl der Steinmetze über Jahrhunderte fruchtbar gebliebenen sind. (Heute wächst dort halt viel Mais auf kali-überdüngten Agrarwüsten, seit große Pariser Boulangerien den Baguette-Teig aus Moldawien einfliegen lassen. Aber im Herbst ist der Mais ja geerntet, und im Januar 1906 dürften auch dort die Felder schneebedeckt gewesen sein, was heute kaum noch je vorkommt - Golfstromnähe!)
Anna, Du willst Chartres wirklich nur EINEN einzigen Tag widmen??? Ich war viele Male dort, aber ich werde niemals alles entdecken.
Na gut, dafür genießt Du Paris; das kenne ich nur von der Durchreise, ohne auszusteigen. Ein Frevel, sagt jeder Franzose dazu. (Rilkes "Kathedrale" ist übrigens wohl von Nôtre-Dame-de-Paris inspiriert.)
Glückliche Reise! (
Und lass uns hier im Forum hinterher mal dran Anteil nehmen, bitte ich Dich.)
Christoph
P.S.: Ich hätte auch noch eine wirkliche Buchempfehlung, nein Rilkes Besuch wird nicht erwähnt, aber dennoch: Frank Teichmann,
Der Mensch und sein Tempel - Chartres. - und zum "Schmökern" durchaus den Louis Charpentier, warum nicht auch mal "Geheimnis"-voll?
Nachträglich noch: Der 25. Januar 1906 war ein Donnerstag, sagt
die Salesianer Kalenderberechnung, eine sehr hilfreiche Site. Und lt.
http://www.wetterzentrale.de/klima/tparisl.html lag das Temperaturmonatsmittel in Paris im Januar 1906 bei 4,7° C.