hallo,
ich mache ein projekt zum gedicht "erinnerung" und brauch dazu hilfe von euch rilke-kennern . gibt es irgendwelche biographischen bezüge zu dem gedicht? ich habe zwar die biographie gelesen, aber wurde nicht so richtig fündig. wisst ihr, worauf sich besonders die letzten 4 verse beziehen?
erinnerung
Re: erinnerung
Hallo, Murmel,
da wartet jemand darauf, daß ihm etwas Großes geschieht - und plötzlich wird ihm klar, daß er es längst erlebt hat. So ist denn die "Erinnerung" bedeutender als das Warten zuvor.
Diese Einsicht ist vielleicht gar nicht so selten- daß man nämlch spät erst erinnert, was das eigentlich Wichtige gewesen ist.
Hilft das? Renée
da wartet jemand darauf, daß ihm etwas Großes geschieht - und plötzlich wird ihm klar, daß er es längst erlebt hat. So ist denn die "Erinnerung" bedeutender als das Warten zuvor.
Diese Einsicht ist vielleicht gar nicht so selten- daß man nämlch spät erst erinnert, was das eigentlich Wichtige gewesen ist.
Hilft das? Renée
Re: erinnerung
- Erinnerung
Und du wartest, erwartest das Eine,
das dein Leben unendlich vermehrt;
das Mächtige, Ungemeine,
das Erwachen der Steine,
Tiefen, dir zugekehrt.
Es dämmern im Bücherständer
die Bände in Gold und Braun;
und du denkst an durchfahrene Länder,
an Bilder, an die Gewänder
wiederverlorener Fraun.
Und da weißt du auf einmal: das war es.
Du erhebst dich, und vor dir steht
eines vergangenen Jahres
Angst und Gestalt und Gebet.
Aus: Das Buch der Bilder
ich habe versucht, mithilfe der „Rilke-Chronik“ den biographischen Zusammenhang zu recherchieren, bin aber in Bezug auf dieses Gedicht nicht fündig geworden.
Das Gedicht gehört zum "Buch der Bilder", dessen beide Fassungen 1902 bzw 1906 veröffentlicht wurden.
Zunächst einige Gedanken zum "Du" in diesem Gedicht.
Ich kenne es aus anderen Gedichten Rilkes, ich denke zum Beispiel an "In einem fremden Park" oder auch an das Orpheus-Sonett "Wolle die Wandlung..." - mich berührt es sehr, wie der Dichter sich mit dieser persönliche Anrede dem eigenen "Ich" gegenüberstellt, das "Du" scheint mir hier viel mehr zu sein als das "Ich" des Dichters oder auch das "Ich" des Lesers, so als ob Rilke mit dieser Anrede an all das rühren würde, was damals mitgeklungen haben mag, als der Begriff "Du" entstand...
Und ich denke bei diesem Gedicht auch an die Stelle aus dem "Buch der Pilgerschaft", wo es heißt:
- Und doch, obwohl ein jeder von sich strebt
wie aus dem Kerker, der ihn haßt und hält, -
es ist ein großes Wunder in der Welt:
ich fühle: alles Leben wird gelebt.
Wer lebt es denn? Sind das die Dinge, die
wie eine ungespielte Melodie
im Abend wie in einer Harfe stehn?
Sind das die Winde, die von Wassern wehn,
sind das die Zweige, die sich Zeichen geben,
sind das die Blumen, die die Düfte weben,
sind das die langen alternden Alleen?
Sind das die warmen Tiere, welche gehn,
sind das die Vögel, die sich fremd erheben?
Wer lebt es denn? Lebst du es, Gott, - das Leben?
In der er-innernden Rückschau kannst "Du" erkennen, wie sich aus diesen Augenblicken eines vergangenen Jahres / Angst und Gestalt und Gebet formt. Wie Renée schon gesagt hat: So ist denn die "Erinnerung" bedeutender als das Warten zuvor. Oder auch: so gewinnt das Leben in der Er-innerung an Bedeutung.
Denn was könnte bedeutender sein als dieses Wunder in der Welt: daß das eigne Leben gelebt wird?
Lieben Gruß
stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Re: erinnerung
danke, ich bin mit eurer hilfe schon ein ganzes stückchen voran gekommen!
könnte es sein, dass die "wiederverlorenen frauen" auf die beziehung rilkes zu frauen hindeuten? dass er sich immer welchen genähert hat, aber trotzdem eine gewisse distanz brauchte? um 1900 hat sich auch lou-andreas salome von ihm getrennt. und mit den "durchfahrenen Ländern" könnten evtl. seine russlandreisen gemeint sein.
wie würdet ihr die stimmung in den letzten versen beschreiben? einerseits könnte "das war es" so gemeint sein, dass er zur erkenntnis gekommen ist das "mächtige, ungemeine" schon erlebt zu haben, was ja eher positiv wäre. andererseits könnte es aber auch bedeuten, dass es vorbei ist. im letzten vers ist ja auch von der angst der vergangenheit die rede.
habt ihr vielleicht noch erkenntnisse zum aufbau? warum die 2. strophe nur 4 verse hat während die erste ja 10 hat?
könnte es sein, dass die "wiederverlorenen frauen" auf die beziehung rilkes zu frauen hindeuten? dass er sich immer welchen genähert hat, aber trotzdem eine gewisse distanz brauchte? um 1900 hat sich auch lou-andreas salome von ihm getrennt. und mit den "durchfahrenen Ländern" könnten evtl. seine russlandreisen gemeint sein.
wie würdet ihr die stimmung in den letzten versen beschreiben? einerseits könnte "das war es" so gemeint sein, dass er zur erkenntnis gekommen ist das "mächtige, ungemeine" schon erlebt zu haben, was ja eher positiv wäre. andererseits könnte es aber auch bedeuten, dass es vorbei ist. im letzten vers ist ja auch von der angst der vergangenheit die rede.
habt ihr vielleicht noch erkenntnisse zum aufbau? warum die 2. strophe nur 4 verse hat während die erste ja 10 hat?
Re: erinnerung
Hallo Murmel,
zuerst ein paar Worte zum Aufbau:
In meiner Ausgabe steht dieses Gedicht in der Form, wie ich es oben hereingestellt habe. Also zwei fünfzeilige Strophen, die dritte vierzeilig.
Für mich drückt sich in dieser Form zunächst die "Erwartung" aus, das Suchen nach diesem einen bedeutenden "mächtigen" und "ungemeinen" Ereignis, das das Leben "unendlich vermehrt" --- erst in der Zukunft bzw Phantasie (erste Strophe), dann in der Vergangenheit bzw Erinnerung (zweite Strophe).
In der dritten Strophe gibt es dann diesen einen Moment der Erkenntnis: "Das war es". Das Warten der ersten beiden Strophen kommt dadurch nun doch irgendwie unerwartet ("auf einmal") zum Abschluß --- so etwas jedenfalls spüre ich in der plötzlich nur mehr vierzeiligen Form. Gleichzeitig ist diese Strophe dadurch regelmäßiger, irgendwie "geordneter" als die beiden vorigen...
Ich schlage Dir vor, dieses Gedicht einmal langsam und laut zu lesen und selber nachzuspüren, was Du dabei erlebst.
Und zu Deiner Frage nach der "Stimmung" in den letzten Versen:
Ich sehe nicht, wieso sie entweder "positiv" oder "negativ" sein muß. Das sind Begriffe, die sich meiner Meinung nach weder dafür eignen, ein Menschenleben hier auf Erden, noch auch ein Rilke-Gedicht zu kategorisieren. Das vergangene Jahr hat in der Erinnerung "Angst und Gestalt und Gebet" ... hier denke ich an Mörike:
Und ich persönlich halte es da mit Lessing, der einmal schrieb:
Was geht uns das Privatleben eines Schriftstellers an? Ich halte nichts davon, aus diesem die Erläuterungen seiner Werke herzuholen.
Lieben Gruß und viel Erfolg!
stilz
zuerst ein paar Worte zum Aufbau:
In meiner Ausgabe steht dieses Gedicht in der Form, wie ich es oben hereingestellt habe. Also zwei fünfzeilige Strophen, die dritte vierzeilig.
Für mich drückt sich in dieser Form zunächst die "Erwartung" aus, das Suchen nach diesem einen bedeutenden "mächtigen" und "ungemeinen" Ereignis, das das Leben "unendlich vermehrt" --- erst in der Zukunft bzw Phantasie (erste Strophe), dann in der Vergangenheit bzw Erinnerung (zweite Strophe).
In der dritten Strophe gibt es dann diesen einen Moment der Erkenntnis: "Das war es". Das Warten der ersten beiden Strophen kommt dadurch nun doch irgendwie unerwartet ("auf einmal") zum Abschluß --- so etwas jedenfalls spüre ich in der plötzlich nur mehr vierzeiligen Form. Gleichzeitig ist diese Strophe dadurch regelmäßiger, irgendwie "geordneter" als die beiden vorigen...
Ich schlage Dir vor, dieses Gedicht einmal langsam und laut zu lesen und selber nachzuspüren, was Du dabei erlebst.
Und zu Deiner Frage nach der "Stimmung" in den letzten Versen:
Ich sehe nicht, wieso sie entweder "positiv" oder "negativ" sein muß. Das sind Begriffe, die sich meiner Meinung nach weder dafür eignen, ein Menschenleben hier auf Erden, noch auch ein Rilke-Gedicht zu kategorisieren. Das vergangene Jahr hat in der Erinnerung "Angst und Gestalt und Gebet" ... hier denke ich an Mörike:
- Gebet
Herr, schicke, was Du willt,
ein Liebes oder Leides.
Ich bin vergnügt, daß beides
aus Deinen Händen quillt.
Wollest mit Freuden
und wollest mit Leiden
mich nicht überschütten!
Doch in der Mitten
liegt holdes Bescheiden.
Und ich persönlich halte es da mit Lessing, der einmal schrieb:
Was geht uns das Privatleben eines Schriftstellers an? Ich halte nichts davon, aus diesem die Erläuterungen seiner Werke herzuholen.
Lieben Gruß und viel Erfolg!
stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)