Lilly hat geschrieben:Ihr seid alle Rilke Fans, sonst wärt ihr wohl nicht in diesem Forum...
Die meisten von euch schwärmen von Rilke, seinem Leben, seinen Werken in den höchsten Tönen hier...
Liebe Lilly,
also, als "Rilke Fans" würden sich, da bin ich sicher!, nur ganz wenige Teilnehmer dieses Forums bezeichnen.
Und mir zumindest geht es auch überhaupt nicht darum, von Rilkes Leben oder seinen Werken zu "schwärmen"...
Dennoch bin ich immer wieder hier in diesem Forum...
WARUM RILKE??, fragst Du. Eine Frage, die hier schon ein paarmal gestellt wurde, ohne daß ich bisher etwas dazu geschrieben habe. Ich will's jetzt also endlich versuchen.
Eines Tages schickte mir ein geliebter Freund mein erstes Rilke-Gedicht:
- Das ist mein Streit:
Sehnsuchtgeweiht
durch alle Tage schweifen.
Dann, stark und breit,
mit tausend Wurzelstreifen
tief in das Leben greifen -
und durch das Leid
weit aus dem Leben reifen,
weit aus der Zeit!
So begann meine Bekanntschaft mit diesem Dichter.
Zunächst staunend – nur zwei Reime im ganzen Gedicht, und auch die klingen ganz ähnlich… ob er wohl eine Liste aller ihm bekannten „ei-Wörter“ gemacht und dann versucht hat, sie irgendwie zu halbwegs sinnvollen Sätzen zu verarbeiten?
Und dann las ich es noch einmal und versuchte, nicht nur das „ei“ zu sehen…
Dabei ergab sich noch mehr Staunenswertes:
„Streit“ einmal nicht als unversöhnliche und vielleicht lautstarke Meinungsverschiedenheit, sondern als Bezeichnung eines Zieles, als das,
wofür man streiten würde…
„Sehnsucht“ nicht als etwas, das, wenn es auftritt, vor allem gestillt werden möchte, sondern als etwas, dem man sich
„weihen“ kann…
Und was für ein Gedanke, daß man nicht nur, wie viele Kinder es sagen,
groß und stark sein wollen könnte, sondern
„stark und breit“ … diese Breite kommt wohl daher, daß man nicht bloß eine Wurzel, sondern
„tausend Wurzelstreifen“ hat, mit denen man
„tief in das Leben greifen“ kann…
Und
„Leid“ ist also nicht etwas Unangenehmes, das man am liebsten vermeiden will, sondern etwas, das einen
„reifen“ läßt…
Und
„Reife“ bedeutet nicht, daß man irgendwann in diesem Leben begriffen hat, was es zu begreifen gibt, und vielleicht ein Zeugnis kriegt
oder sonst eine Belohnung, zum Beispiel: daß einen so schnell nix mehr umwerfen kann… und dann ist man sozusagen „angekommen“, das Ziel ist erreicht, und man kann sich zufrieden zurücklehnen (ein Apfel würde vom Baum fallen und beginnen zu verfaulen, wenn ihn nicht vorher jemand aufißt)…
Sondern dieses
„Reifen“ hat etwas damit zu tun, daß es auch noch etwas außerhalb dieses Lebens gibt, man kann
„aus dem Leben reifen“, ebenso wie
„aus der Zeit“…
Diese Gedanken waren für mich das Geschenk, das sich hinter der außergewöhnlichen „ei-Verpackung“ verbarg; und dafür bin ich heute noch dankbar.
Ich begann, mich für Rilke zu interessieren. Dabei stieß ich zufällig auf dieses Forum – und da geht es mir wie
gliwi: ich mag dieses Forum sehr! Hier gab es immer wieder interessante Gespräche über Themen, die mir am Herzen liegen – mit Menschen, mit denen es sich gut reden läßt.
Was ich an Rilke so „besonders“ finde: Rilke hat eine eigene Art, über Dinge zu sprechen, von denen ich früher geglaubt habe, daß man über sie eigentlich gar nicht sprechen kann.
Er verwendet dabei ganz einfache Worte, so wie er es ja auch selber beschreibt:
- Die armen Worte, die im Alltag darben,
die unscheinbaren Worte lieb ich so.
Aus meinen Festen schenk ich ihnen Farben,
da lächeln sie und werden langsam froh.
Ihr Wesen, das sie bang in sich bezwangen,
erneut sich deutlich, daß es jeder sieht;
sie sind noch niemals im Gesang gegangen
und schauernd schreiten sie in meinem Lied.
Und Rilke geht mit Sprache wirklich in einer sehr kreativen Weise um.
Immer wieder setzt er Bindestriche und macht so auf die Wurzeln einer Wortzusammensetzung aufmerksam – und er findet manchmal auch neue oder so noch nie gehörte Worte, oder er verwendet ganz alltägliche Worte in ungewöhnlichen Zusammenhängen und gibt mir dadurch Denk-anstöße abseits der gewohnten Alltagssprachzusammenhänge…
Rilke spricht dabei etwas an, das ich tief in mir drin fühlen oder ahnen kann, ohne es zunächst in Worten ausdrücken zu können. Und beim Lesen seiner Gedichte wird mir auch so manches bewußt, von dem ich zuvor nicht einmal etwas ahnte.
Wenn jemand, zum Beispiel hier im Forum, eine Frage stellt und mir damit Anlaß gibt, mich näher mit einem bestimmten Gedicht auseinanderzusetzen, dann versuche ich, das zunächst „Unkennbare“ in Rilkes Worten mit dem zunächst „Unkennbaren“ in meinem eigenen Inneren zu vergleichen und das, was sich davon sagen läßt, in Worte zu fassen…
Und unabhängig davon, ob die Antwort, die ich dann zu geben versuche, dem Fragesteller bedeutsam sein kann (was man ja auch gar nicht immer erfährt):
ich selber gehe jedesmal beschenkt aus einem solchen Gespräch heraus.
Ich würde mich freuen, wenn Du hier im Forum ein bißchen herumstöbern magst und in den vielen Beiträgen auch noch ganz andere Antworten auf Deine Frage findest.
Lieben Gruß!
stilz