Die Blinde

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

Moderatoren: Thilo, stilz

Antworten
DoMi
Beiträge: 80
Registriert: 10. Aug 2007, 16:45
Wohnort: Bayern

Die Blinde

Beitrag von DoMi »

Hallo ihr,

vor kurzem bin ich auf Rilkes Gedicht "Die Blinde" aus dem Buch der Bilder gestoßen und war wirklich fasziniert.
Nun wollte ich einmal fragen, was ihr davon haltet? Wisst irh etwas über die Entstehung, Hintergründe?
Wer glaubt ihr steckt hinter der Person des Fremden?? Der Tod vielleicht?
Und zudem habe ich mich gefragt, warum Rilke zunächst komplett ohne Reim dichtet und später durchgehend reimt. Daher dachte ich, vielleicht steckt eine Struktur dahinter, eventuell die Vergangenheit, die grausame Zeit ohne Reim und das neue Leben gereimt. Aber dem war meiner Meinung nach nicht so, oder habe ich mich getäuscht??

Gruß
Dominik :shock:
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Beitrag von stilz »

Lieber Dominik,

zuerst einmal herzlich willkommen im Forum!

Ich hab mich sehr gefreut über Dein so freundliches Lobfür unser Forum, das mir inzwischen viel bedeutet.
Und ich finde auch Deine Fragen hier sehr interessant und anregend, wenn ich auch ziemlich verspätet darauf reagiere.

Deine Frage nach den Reimen kann ich leider überhaupt nicht beantworten, ja, ich muß sogar gestehen, daß ich das von selber gar nicht bemerkt hatte.
Vielleicht gibt es jemanden, der sich damit besser auskennt (ich bin nämlich nicht im geringsten ein „Experte“!)?

Und ich bin vor kurzem auf ein Buch aufmerksam geworden (ich kenne es allerdings noch überhaupt nicht, habe nur gelesen, daß es existiert), das vielleicht einiges zur Erhellung der Hintergründe beitragen kann:
Adrianna Hlukhovych: ? wie ein dunkler sprung durch eine helle tasse ?
Rainer Maria Rilkes Poetik des Blinden. Eine ukrainische Spur



Und nun möchte ich endlich versuchen, meine eigenen Gedanken zu diesem Gedicht in eine lesbare Form zu bringen:
Es ist ein sehr vielschichtiges Gedicht. Ich erinnere mich, beim ersten Lesen vor längerer Zeit hatte auch ich vage die Vorstellung, der Fremde könnte vielleicht „der Tod“ sein…
Inzwischen lese ich es anders.

Der Fremde beginnt das Gedicht mit einer behutsamen Frage, allerdings in sehr vertrautem Ton, und als ob er die Antwort schon wüßte:
Du bist nicht bang, davon zu sprechen?
Und er hat recht, die Blinde hat inzwischen genug Distanz zu dem, was ihr geschehen ist, sie kann es erzählen, ohne all die Qualen nochmals erleben zu müssen. Und der Fremde ermuntert sie dazu, sehr einfühlsam findet er genau den richtigen Ton, sodaß sie vertrauensvoll erzählen kann… und ich denke mir: es tut ihr gut, das alles diesem verständnisvollen „Fremden“ erzählen zu können…

Was erzählt sie nun: sie erzählt vom „Tod“, den diejenige erlitten hat, die sie damals war, und die ihr inzwischen so fremd geworden ist.
Und wirklich:
…Die Welt,
die in den Dingen blüht und reift,
war mit den Wurzeln aus mir ausgerissen,
mit meinem Herzen (schien mir),

es gelingt ihr, in ihrem Bericht die Distanz zu wahren; es ist eine „wissende Distanz“, keine, die aus Furcht gewählt wird. Und so kann sie Raum lassen auch für die schmerzlichen und fast nicht zu ertragenden Erfahrungen, die sie gemacht hat.
Das erinnert mich sehr an das, was ein Freund, er war Psychotherapeut, mir über sein „narratives Menschenbild“ erzählt hat…

Der Raum ist eingefallen. …
ich kann nicht leben so, mit dem Himmel auf mir.

Bisher hat sie den Himmel mit ihren Augen gesehen, gewölbt über alles andere Sichtbare…
Das ist nun nicht mehr so. Denn es gibt für sie nichts Wahrnehmbares mehr zwischen ihr und diesem Himmel…

Viel später wird Rilke schreiben:
Ach, nicht getrennt sein,
nicht durch so wenig Wandung
ausgeschlossen vom Sternen-Maß.
Innres, was ists?
Wenn nicht gesteigerter Himmel,
durchworfen mit Vögeln und tief
von Winden der Heimkehr.
(Die Gedichte 1922-1926)


Und die Blinde stellt sich die Frage:
Aber sprech ich zu dir, Mutter?
Oder zu wem denn? Wer ist denn dahinter?

Ja – zu wem spricht man, in solch scheinbar ganz auswegloser Bedrängnis?

Und natürlich gibt es auch die bange Frage:
Ohne mich! Wie kann es denn ohne mich Tag sein?
Fehl ich denn nirgends?
Fragt denn niemand nach mir?
Sind wir denn ganz vergessen?


Und sie sieht sehr deutlich, was die Zukunft bringen wird bzw gebracht hat:
Meine Blumen werden die Farbe verlieren.
Meine Spiegel werden zufrieren.
In meinen Büchern werden die Zeilen verwachsen.
Meine Vögel werden in den Gassen
herumflattern und sich an fremden Fenstern
verwunden.
Nichts ist mehr mit mir verbunden.
Ich bin von allem verlassen. -
Ich bin eine Insel.

Ja, alles, was früher „Leben“ zu bedeuten schien, das gibt es nun nicht mehr…

Und nun wieder der Fremde:
Und ich bin über das Meer gekommen.
Wer ist es, der über das Meer kommt (das alle Inseln untereinander und auch mit dem Festland verbindet), sachte seinen Kahn an uns anlegt und leise da ist, als wäre er schon immer da gewesen… gerade dann, wenn wir uns ganz dessen bewußt geworden sind, daß die bisherigen „Verbundenheiten“ trügerische waren, daß wir all-ein sind…
Wer ist es, der dann kommt?

seine Fahne weht landein.
Landein, das bedeutet: in Richtung des „Kontinentes“, mit dem die „Insel“ früher einmal verbunden war.
Die Blinde antwortet sofort:
Ich bin eine Insel und allein.
Ich bin reich. -

Denn sie „braucht“ es nun nicht mehr, dieses feste Land, sie hat gelernt, ihren Halt in sich selbst zu finden, auch ohne sich an dieses „Festland“ zu klammern.
Und sie erzählt auch davon, von den Gefühlen, die ihr zunächst aus dem Herzen fort gingen, die dann
alle zurückkamen gebrochen
und niemanden erkannten.


Nicht nur mithilfe ihrer anderen Sinne (und mein Gehör war groß und allem offen), sondern auch in ihren Gefühlen hat sie schließlich eine neue Sicherheit gefunden:
Einige sind Lesende
über Erinnerungen;
aber die jungen
sehn alle hinaus.

Hinaus… dort ist zunächst das offene Meer…

Ich muß nichts mehr entbehren jetzt

Und der Tod, der Augen wie Blumen bricht,
findet meine Augen nicht...

Ja, der Tod kann ihre Augen nicht finden. Denn ihre Augen, und damit so vieles an ihr, das „sterblich“ war, die sind schon längst gestorben, und sie können nicht ein zweites Mal sterben.

DER FREMDE leise:
Ich weiß.



Wer ist es , der so etwas weiß von uns, und dem wir die allerintimsten Dinge anvertrauen können?
… denn wir wissen: dieser „Fremde“ geht nicht her und trompetet es laut heraus, damit alle es erfahren, sondern er sagt es ganz leise


Ich glaube, jeder von uns trägt in sich die Sehnsucht nach einem solchen „Fremden“, der übers „Meer“ kommt und sich als unser vertrautester Freund herausstellt…
Vielleicht können wir dieses „Gegenüber“ dort finden, wo die Sehnsucht danach wohnt: in unserem eigenen Herzen…
Und nun, wo die Blinde auf ihrem schweren Weg nach innen gelernt hat, mit diesem „inneren Auge“ zu schauen, sich diesem „Fremden“ in ihrem Inneren gegenüberzustellen --- nun ist sie dort in sich angekommen, wo sie unsterblich ist…
Natürlich wird auch der Rest ihres Leibes einmal sterben. Aber die Bedeutung des „Todes“ wird eine andere sein.


Soweit meine derzeitigen Gedanken dazu. Ich finde es wirklich faszinierend, wieviele "Schichten" dieses Gedicht in mir anspricht, und wie es mir jedesmal noch anderes zu erzählen scheint...

Lieben Gruß!

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
gliwi
Beiträge: 941
Registriert: 11. Nov 2002, 23:33
Wohnort: Ba-Wü

Beitrag von gliwi »

Zum Reim: Ja, warum nicht? Das ist eine mögliche, durchaus überzeugende Deutung. Was mir noch auffällt: der erste, ungereimte Teil ist dafür streng alternierend, also immer abwechselnd eine betonte und eine unbetonte Silbe - auch ein Ordnungsprinzip! -, während der gereimte Teil sehr verschiedene Metren aufweist, da geht es sogar manchmal wild durcheinander, z. B. : "Du musst ihn heben, hochheben,". Also im ersten Teil ist dann das Metrum das Ordnende, im zweiten der Reim.
Gruß
gliwi
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
DoMi
Beiträge: 80
Registriert: 10. Aug 2007, 16:45
Wohnort: Bayern

Beitrag von DoMi »

Liebe (stimmt doch oder? :) ) stilz und gliwi,

erstmal vielen Dank für die umfangreichen antworten!! Freut mich wirklich, dass ihr doch noch antwortet...gerade, da auch ich dieses Gedicht wirklich bemekenswert finde. Nicht zuletzt deshalb, weil rilke hier meiner Meinung nach sehr viele Gefühle weckt; indem er nämlich zunächst das Leiden und dann das neue Leben beschreibt.

Nun, die Interpretation, dass der Fremde, jenes tiefste Gegenüber in ihrem Inneren sei, finde ich durchaus einleuchtend und wahrlichpassend...nur frage ich mich, warum sie in dem Gespräch dann so überrascht wirkt? Warum, wenn sie durch die Erblindung "reich" geworden ist, da sie es lernte das Innere zu lieben und mit ihm zu leben - sie ist nun so zu sagen geheilt, da "wie Genesende [...] die Gefühle" gehen und dies auch genießen - warum antwortet sie dann mit: "Wie? Auf die Insel?... Hergekommen?" Sie weiß doch in diesem Gespräch schon um den neuerlangten Reichtum, welchen ihre Gefühle hervorriefen. Oder glaubt ihr, sie kam erst durch dieses Gespräch zu dieser Erkenntniss?

Als ich deine Deutung des Begriffes "Meer", stilz, las, kam mir noch eine andere Idee wieder, über die ich auch schon einmal nachgedacht hatte.
Wer verbindet "alle Inseln untereinander", wer verbindet Länder, Völker, alle Menschen, ja alle Wesen miteinander?
Ist es nicht Gott?
Nun; ich kenne Rilkes Einstellung zu Gott zu zu wenig, als dass ich tiefer hier einsteigen könnte, aber auch Gott ist vertrauenswürdig und weiß wohl um den Reichtum den ein innerer Freund mit sich bringt.

Gliwi, meinst du wirklich, dass dies wirklich passt? Ich meine, der zweite Teil, also der gereimte, begänne doch dann schon vor ihren Rufen nach der Mutter, oder?
Aber die Sache mit dem Metrum ist interessant...

Vielen Dank nochmals (auch für den Link zu der Dame mit dem unaussprechlichen Namen :wink: "Hlukhovych")

Liebe Grüße
Dominik
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Beitrag von stilz »

gliwi hat geschrieben:Also im ersten Teil ist dann das Metrum das Ordnende, im zweiten der Reim.
Ja, das ist ein sehr schöner Gedanke!

Aber
DoMi hat geschrieben: eventuell die Vergangenheit, die grausame Zeit ohne Reim und das neue Leben gereimt.
so einfach kann es auch wieder nicht sein, da hast Du ganz recht, Dominik; dazu wird es zuwenig „durchgehalten“.

Ich habe es mir jetzt ein bisserl genauer angesehen und komme auf neue Ideen:
Zuerst, als sie aus der Distanz von ihrem körperlichen Leiden erzählt, gibt es den alternierenden Rhythmus: sie hat mithilfe der ihr verbliebenen Sinne diesbezüglich in sich „Ordnung gemacht“: Rhythmus assoziiere ich mit dem Gehör und mit dem Tastsinn.
Dann folgt eine weitere Leidensphase, die aber nicht mehr bloß körperlich ist, und sie dauert länger als diese „ersten Tage“.
Und hier beginnen die Reime.
Aber sie werden nicht ganz konsequent durchgehalten.
Ob das bedeutet, daß sie eben doch nicht alles aus dieser Distanz ansehen kann, daß es noch immer „ungeordnete“ Dinge gibt, die sie innerlich aufwühlen?
Immer wieder gibt es Zeilen, für die sich kein Reim finden will:
(…Nimm den Raum)
mir vom Gesicht und von der Brust.


ich kann nicht leben so, mit dem Himmel auf mir.
Aber sprech ich zu dir, Mutter?

(das ist besonders interessant: denn wenn diese Frage nicht mit der Anrede „Mutter“ endete, dann gäbe es doch einen ordnenden Reim… die Verwirrung entsteht also gerade durch das verzweifelte "Haltsuchen" bei bisher vertraut-Gewohntem?)

Und dann natürlich die Passage:
Ohne mich! Wie kann es denn ohne mich Tag sein!
Fehl ich denn nirgends?
Fragt denn niemand nach mir?
Sind wir denn ganz vergessen?
Wir? … Aber du bist ja dort;

Die Gefühle, die zu diesen Fragen gehören, sind offenbar alles andere als „geordnet“.
Erst jetzt kehren die Reime langsam wieder, fast unmerklich, da zuerst als Binnenreim:
du hast ja noch alles, nicht?
Um dein Gesicht sind noch alle Dinge bemüht,
ihm wohlzutun.
Wenn deine Augen ruhn…


Ja, und dann gibt es wieder das, womit sie sich in ihrem Verstand „ordentlich“ abgefunden hat: sie ist mit nichts Sichtbarem mehr verbunden.
In diesem Moment, da sie Ruhe und Ordnung und Genügen zu finden scheint in der Vorstellung, eine Insel zu sein, in diesem Moment erzählt der „Fremde“, daß er "übers Meer gekommen" ist.
Und sie ist überrascht, das scheint nicht zu ihrer mühsam gefundenen Ordnung zu passen… oder doch? Sie muß die Reime nicht aufgeben, sie kann ihre Fassung behalten und auch das noch erzählen, wie sie in ihren Gefühlen ihre Ruhe gefunden hat.

Vielleicht ist die Struktur des Gedichtes auch ein Ausdruck von dem, was der Blinden jetzt, in diesem Gespräch mit dem Fremden geschieht?

Denn sie ist ja nicht schon deshalb „von allem genesen“, weil sie gelernt hat, mit ihrer Blindheit umzugehen.
Damals, als sie das lernen mußte, war sie zwar ganz in sich gekehrt… aber nicht auf der Suche nach diesem eigenen Gegenüber. Sondern gezwungenermaßen in sich hineinschauend, bemüht, mit dem Verlust des "draußen" fertigzuwerden.

Und damals war sie voll Schmerz, sie hätte nicht erkennen können, daß es um ein „Genesen“ ging, um ein „etwas Sterbliches hinter sich lassen“…

Jetzt erst kann sie das. Und bemerkt es staunend… und es gibt Teile in ihrem Erleben, die sie "in Ordnung" gebracht hat… aber es gibt auch noch Teile, die sie unsicher machen, und wo sie sich nicht auskennt… hinausblicken… ja, aber wie? Wohin? Nicht mit dem eigenen „Reichtum“ sich zufrieden geben (das wäre „sicherer“)? Sondern Verbindung suchen? Womit?
Um darüber zur Klarheit zu kommen, dazu braucht sie das Gespräch mit dem „Fremden“.
Und dieses Gespräch wird ja möglicherweise weitergehen...

Was meint Ihr. Könnte die Struktur des Gedichtes auf solche inneren Entwicklungen hinweisen?




Und noch einmal zum "Meer".

Das ist bei Rilke ein sehr vielschichtiger Begriff.
Ja. Natürlich denke ich dabei auch an „Gott“. (Und: auch bei diesem „inneren Gegenüber“ denke ich an „Gott“...)
Aber das Interessante ist ja: das Meer verbindet nicht nur alle Inseln miteinander und mit dem Festland. Sondern es ist gleichzeitig auch das Element, das trennend zwischen ihnen steht.
Um über das Meer verbunden zu sein, braucht es einen Kahn, wie den, in dem der "Fremde" sitzt. Sonst muß es bei der Trennung bleiben.

Und beim "offenen Meer" denke ich natürlich auch noch an Rilkes Begriff des "Offenen".


Aber ich würde mir sehr schwer tun, ganz genau zu definieren, was denn nun eigentlich „Gott“ bedeutet. Oder „das Offene“. Oder der "Fremde" in seinem "Kahn". Und wie all diese Begriffe möglicherweise zusammenhängen.

Ja – das fände ich sehr schwierig, weniger weil ich nicht imstande wäre, mir dazu etwas „vorzustellen“; sondern vielmehr weil die Sprache halt viel zu „endlich“ und „geschlossen“ ist, um damit etwas „Unendliches“ oder „Offenes“ vollständig zu beschreiben…

Rilke ist dem sehr nahe gekommen.

Und ich freu mich über unser Gespräch, das natürlich genau durch diese "begrenzte Sprache" ermöglicht wird!

Lieben Gruß

Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
DoMi
Beiträge: 80
Registriert: 10. Aug 2007, 16:45
Wohnort: Bayern

Beitrag von DoMi »

Hallo wieder,

also ich glaube, du hast vollkommen recht. Der Reim beginnt doch mit einem inhaltlich neuen Sinnabschnitt; sie hat die erste "Leidensphase" abgeschlossen. Ich würde sogar noch etwas weiter gehen: Die erste gereimte Zeile ist diese:
"und glaubte einen hellen Streif zu sehn, "

Dies ist wohl der erste Moment, in dem sie etwas Hoffnung schöpft. Ein heller Streif, (allein der Weihnachtsstern mit seinem Streif ist ja auch ein Sinnbild der Hoffnung) "der wachsen würde wie ein Tag; ", der sie wieder glücklich, wieder gesund machen könnte.
Also könnte es wirklich stimmen, das Reim, Ordnung, Zufriedenheit bzw. Genesung bedeutet.
Doch sie kann die Ordnung nicht halten; die Hoffnung erweißt sich als trügerisch...der Aspekt mit dem "Vergebenen" Reim bei "Aber sprech ich zu dir, Mutter?" passt richtig gut, (Ungleublich, was man mit einem Wort, einem so beinah banalen Wort nicht alles ausdrücken könnte!!) und dann kommen diese Fragen, welche wieder ungereimt sind.
Sicherlich bedeutet dies eine Unordnung, also wiederum Zweifel und somit Angst! Ruhe kehrt erst wierder ein, wenn sie sich über ihre Lage, ihre neue Lage bewusst wird.
Reim scheint also auch Ruhe, Beruhigung, zu bedeuten.
Aber ich verstehe deine Frage nicht richtig...8hab sie bestimmt 10 mal durchgelesen :) )
stilz hat geschrieben: Vielleicht ist die Struktur des Gedichtes auch ein Ausdruck von dem, was der Blinden jetzt, in diesem Gespräch mit dem Fremden geschieht?
Meinst du sie lernt in dem Gespräch??

Es könnte durchaus eine Entwicklung ablaufen...dafür würde meiner Meinung nach ihre Verwirrung sprechen....ich glaube, dass sie in diesem Moment nichts von dem Fremden weiß. Angenommen, der Fremde ist nun dieser innere Freund, dann müsste sie während des Gespräches eine Entwicklung machen.
Aber wenn sie den Fremden bräuchte, um sich Klarheit zu verschaffen, ob sie sich mit ihrem Reichtum zufrieden geben kann, kann er dann auch dieses „inneren Auge“, welches doch eigentlich zur Hauptsache aus Gefühlen besteht, darstellen?

Zu dem Kahn...ich glaube nicht, dass dem Kahn selbst eine größere Bedeutung zu beizustellenist...eher die Verbindung Kahn und "der Fremde" gemeinsam.

Ich gebe dir aber Recht. "Unendlich" ist ein unfassbar langes, ein weites, ein unbegreifbar breites Wort...und das wird es vermutlich auch bleiben.

Liebe Grüße
Dominik

[P.S.: Eine kleine Frage, die mir gerade einfällt. (die aber ziehmlich wenig mit dem Thema zu tun hat)...Ich habe gerade zum zweiten Mal den Malte gelesen...Habt ihtr ihn auch gelesen?? Was haltet ihr von ihm. ]
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
Wohnort: Klosterneuburg

Beitrag von stilz »

Hallo Dominik,

nur kurz heute:
DoMi hat geschrieben:Meinst du sie lernt in dem Gespräch??
Ja, vielleicht sowas Ähnliches. Ich wollte nur darauf aufmerksam machen, daß es in diesem Gedicht ja mehrere "Zeitebenen" gibt. Und die Struktur der Sprache, die sie wählt, um über ihre Vergangenheit zu sprechen, könnte ja ein Hinweis darauf sein, wie es ihr jetzt gerade geht...

Zum "Kahn": ich habe auch nicht das Gefühl, daß er in diesem Gedicht eine große Bedeutung hat. Aber mir ist dadurch aufgefallen, daß es also etwas geben könnte, wodurch das "unwegsame" offene Meer, was immer man auch darunter verstehen mag, "schiffbar" wird...

Lieben Gruß!
stilz

P.S.: Übrigens:
DoMi hat geschrieben:also ich glaube, du hast vollkommen recht.
na - ich hoffe nicht! Wenn ich "vollkommen recht" hätte, brauchten wir ja gar nicht erst weiter drüber zu sprechen... :wink:
Und wenn der "Reichtum" der Blinden tatsächlich schon alles wäre, was sie jemals er-reich-en könnte, dann wäre das Gespräch mit dem "Fremden" irgendwie überflüssig, jedenfalls nicht so bedeutsam, daß man darüber dichten würde...
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
DoMi
Beiträge: 80
Registriert: 10. Aug 2007, 16:45
Wohnort: Bayern

Beitrag von DoMi »

Hallo....

also, heute las ich erneut "Die Blinde" und es war jetzt, nach unseren interpretationsversuchen ein ganz anderes Lesen...ein beinah schon Wissendes.
Es ist doch schon immer wieder unfassbar, wie viel hinter einem bloßen, blanken Wort, welche Welt sich darin verbirgt....
Zunächst sind es nur Buchstaben, dann formt sich daraus ein Wort, ein Satz und dann letztlich, wenn man sich etwas Gedanken macht, erscheint einem der Pfad durch das Wort hindurch, in die eigentliche Welt eines solchen Gedichtes...die der Phantasie!...und dabei ist es meiner Meinung nach auch egal, wie viel davon aus den Gebieten unserer Phantasie und aus denen des Dichters stammt....und daher, stilz: sicherlich kann man das Universum, welches ein kleines Gedicht verbirgt alleine gar nicht durchwandern...
Das Wort lebt in sich fort!
Ich bin auf jeden Fall froh und dankbar über diese, unsere Gedanken....
Und zu dir gliwi, du hast natürlich Recht. Die Sache mit dem Malte tut mir Leid...ich bin einfach noch nicht rilkeformumkonfirm genug!

Liebe Grüße
Dominik
Antworten