Kindheit (Neue Gedichte)
Re: Kindheit (Neue Gedichte)
Liebe stilz/Ingrid,
an Deiner letzten Bemerkung bleibe ich hängen. Warum preist Rilke mit diesen Worten die Kindheit? In welchen Wendungen des Gedichts erkennt man das? Ich dachte bislang, etwas schlicht und allgemein gesagt, daß Rilke das Dasein preist, den Widernissen zum Trotz. Der Vergleich zwischen dem Verständigtsein der Zugvögel und dem Weltverständnis des Kindes dagegen leuchtet mir sehr ein.
Einen schönen Sonntag,
helle
an Deiner letzten Bemerkung bleibe ich hängen. Warum preist Rilke mit diesen Worten die Kindheit? In welchen Wendungen des Gedichts erkennt man das? Ich dachte bislang, etwas schlicht und allgemein gesagt, daß Rilke das Dasein preist, den Widernissen zum Trotz. Der Vergleich zwischen dem Verständigtsein der Zugvögel und dem Weltverständnis des Kindes dagegen leuchtet mir sehr ein.
Einen schönen Sonntag,
helle
Re: Kindheit (Neue Gedichte)
Lieber helle,
ich begreife „preisen“ (im Sinne der Neunten Elegie) oder „rühmen“ (im Sinne des „Oh sage“-Gedichtes) nicht als ein „Loben“, ein „Verherrlichen“ oder ein sonstwie „Verklären“.
Sondern ich begreife es als ein „Sachliches Sagen“ im Sinne der Ding-Gedichte:
Und das ist es, was Rilke mir zu versuchen scheint in diesem Gedicht über die „Kindheit“.
Rilke „preist“ hier also nicht die Kindheit (das kann er noch nicht, dazu »wäre [es] gut viel nachzudenken, um/von so Verlornem etwas auszusagen«), sondern er „preist“ allenfalls die Tatsache, daß es Kindheit gibt im Leben jedes Menschen; und er skizziert nur andeutungsweise, in einigen wenigen „Strichen“, das „Wesen“ der Kindheit, dieses Mysteriums: einerseits wie es war, solange sie noch währte, andererseits auch ihren unabwendbaren Verlust...
Für mich lebt das Gedicht „Kindheit“ die Fragen, mit denen die Vierte Elegie endet:
Herzlichen Gruß,
Ingrid
ich begreife „preisen“ (im Sinne der Neunten Elegie) oder „rühmen“ (im Sinne des „Oh sage“-Gedichtes) nicht als ein „Loben“, ein „Verherrlichen“ oder ein sonstwie „Verklären“.
Sondern ich begreife es als ein „Sachliches Sagen“ im Sinne der Ding-Gedichte:
- ... Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus,
Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster, -
höchstens: Säule, Turm.... aber zu sagen, verstehs,
oh zu sagen so, wie selber die Dinge niemals
innig meinten zu sein.
Und das ist es, was Rilke mir zu versuchen scheint in diesem Gedicht über die „Kindheit“.
Rilke „preist“ hier also nicht die Kindheit (das kann er noch nicht, dazu »wäre [es] gut viel nachzudenken, um/von so Verlornem etwas auszusagen«), sondern er „preist“ allenfalls die Tatsache, daß es Kindheit gibt im Leben jedes Menschen; und er skizziert nur andeutungsweise, in einigen wenigen „Strichen“, das „Wesen“ der Kindheit, dieses Mysteriums: einerseits wie es war, solange sie noch währte, andererseits auch ihren unabwendbaren Verlust...
Für mich lebt das Gedicht „Kindheit“ die Fragen, mit denen die Vierte Elegie endet:
- Wer zeigt ein Kind, so wie es steht? Wer stellt
es ins Gestirn und giebt das Maß des Abstands
ihm in die Hand?
Herzlichen Gruß,
Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
Re: Kindheit (Neue Gedichte)
Ich hatte etwas mißverstanden, nämlich geglaubt, das Gedicht "O sage Dichter" würde nach Deinem Dafürhalten die Kindheit preisen – entschuldige, so war es ja nicht gemeint .
Deine letzten Ausführungen stellen das klar, sie sind anregend und klug bemerkt hinsichtlich der Frage der Kontinuität in Rilkes Dichtung, vom sachlichen Sagen zum Rühmen, auch ohne die »Wendung«.
Dank u. LG (schreibt meine Tochter immer),
von helle
Deine letzten Ausführungen stellen das klar, sie sind anregend und klug bemerkt hinsichtlich der Frage der Kontinuität in Rilkes Dichtung, vom sachlichen Sagen zum Rühmen, auch ohne die »Wendung«.
Dank u. LG (schreibt meine Tochter immer),
von helle
- lilaloufan
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Re: Kindheit (Neue Gedichte)
Pas de souci, ich hatte in diesem Gesprächsverlauf ja noch viel gründlicher etwas missverstanden, zum ganz falschen Gedicht gegriffen, aber um so mehr wächst meine Anteilnahme an diesem Faden. Vermutlich sind die beiden von mir verwechselten gleichnamigen Gedichte schon hunderte Male von Deutschlehrern in der Poetik-Epoche der zehnten Klasse zum Vergleich angeboten worden, und der muss ja wirklich interessant sein. Ich halte beide hier noch einmal nebeneinander:
Ich denke auch an das: „… ach, wozu?“ in der vierten Zeile des Requiems „auf den Tod eines Knaben“ (13. November 1915), gewidmet Peter Jaffé, dessen Eltern der Schwabinger Bohème angehörten; er war im Alter von acht Jahren gestorben.
Ich habe den Eindruck, dass Rilke angesichts der gewissermaßen „abgebrochenen“ Kindheit zwei gegensätzlich scheinende Aspekte von „Kindheit“ aus dem »Buch der Bilder« und aus dem ersten Teil der »Neuen Gedichte« vereint sieht. Kindheit ist schwer, das Kind ist einsam, gefordert, missverstanden, und doch ist Kindheit zu preisen, unwiederbringliche Chancenfülle, und vor allem: voller Sinnhaftigkeit und noch im äußersten Schicksalsfall unverloren. Der Dichter stellt halt keine Programme auf, und so bleibt dem Leser die offene Frage: „… ach, wozu?“ – auch wenn durch das Gedicht hindurch klingt, dass sie gewisslich beantwortbar ist.
l.
――――――――――
{Zusatz:}
Beantwortbar weder aus dem Motiv, „einmal ein Mann zu werden“, noch aus „Jenseitswarten“ und „Schaun nach drüben“, aber aus dem Blickwinkel hin zum „andern Bezug”.
So kann die neunte Elegie nach:
- Kindheit
Da rinnt der Schule lange Angst und Zeit
mit Warten hin, mit lauter dumpfen Dingen.
O Einsamkeit, o schweres Zeitverbringen...
Und dann hinaus: die Straßen sprühn und klingen
und auf den Plätzen die Fontänen springen
und in den Gärten wird die Welt so weit -.
Und durch das alles gehn im kleinen Kleid,
ganz anders als die andern gehn und gingen -:
O wunderliche Zeit, o Zeitverbringen,
o Einsamkeit.
Und in das alles fern hinauszuschauen:
Männer und Frauen; Männer, Männer, Frauen
und Kinder, welche anders sind und bunt;
und da ein Haus und dann und wann ein Hund
und Schrecken lautlos wechselnd mit Vertrauen -:
O Trauer ohne Sinn, o Traum, o Grauen,
o Tiefe ohne Grund.
Und so zu spielen: Ball und Ring und Reifen
in einem Garten, welcher sanft verblasst,
und manchmal die Erwachsenen zu streifen,
blind und verwildert in des Haschens Hast,
aber am Abend still, mit kleinen steifen
Schritten nachhaus zu gehn, fest angefasst -:
O immer mehr entweichendes Begreifen,
o Angst, o Last.
Und stundenlang am großen grauen Teiche
mit einem kleinen Segelschiff zu knien;
es zu vergessen, weil noch andre, gleiche
und schönere Segel durch die Ringe ziehn,
und denken müssen an das kleine bleiche
Gesicht, das sinkend aus dem Teiche schien -:
O Kindheit, o entgleitende Vergleiche.
Wohin? Wohin?
aus: Das Buch der Bilder
― ― ― ― ― ― ―
Kindheit
Es wäre gut viel nachzudenken, um
von so Verlornem etwas auszusagen,
von jenen langen Kindheit-Nachmittagen,
die so nie wiederkamen - und warum?
Noch mahnt es uns -: vielleicht in einem Regnen,
aber wir wissen nicht mehr was das soll;
nie wieder war das Leben von Begegnen,
von Wiedersehn und Weitergehn so voll
wie damals, da uns nichts geschah als nur
was einem Ding geschieht und einem Tiere:
da lebten wir, wie Menschliches, das Ihre
und wurden bis zum Rande voll Figur.
Und wurden so vereinsamt wie ein Hirt
und so mit großen Fernen überladen
und wie von weit berufen und berührt
und langsam wie ein langer neuer Faden
in jene Bilder-Folgen eingeführt,
in welchen nun zu dauern uns verwirrt.
aus: Neue Gedichte
Ich denke auch an das: „… ach, wozu?“ in der vierten Zeile des Requiems „auf den Tod eines Knaben“ (13. November 1915), gewidmet Peter Jaffé, dessen Eltern der Schwabinger Bohème angehörten; er war im Alter von acht Jahren gestorben.
Ich habe den Eindruck, dass Rilke angesichts der gewissermaßen „abgebrochenen“ Kindheit zwei gegensätzlich scheinende Aspekte von „Kindheit“ aus dem »Buch der Bilder« und aus dem ersten Teil der »Neuen Gedichte« vereint sieht. Kindheit ist schwer, das Kind ist einsam, gefordert, missverstanden, und doch ist Kindheit zu preisen, unwiederbringliche Chancenfülle, und vor allem: voller Sinnhaftigkeit und noch im äußersten Schicksalsfall unverloren. Der Dichter stellt halt keine Programme auf, und so bleibt dem Leser die offene Frage: „… ach, wozu?“ – auch wenn durch das Gedicht hindurch klingt, dass sie gewisslich beantwortbar ist.
l.
――――――――――
{Zusatz:}
Beantwortbar weder aus dem Motiv, „einmal ein Mann zu werden“, noch aus „Jenseitswarten“ und „Schaun nach drüben“, aber aus dem Blickwinkel hin zum „andern Bezug”.
So kann die neunte Elegie nach:
- Ach, in den andern Bezug,
wehe, was nimmt man hinüber? Nicht das Anschaun, das hier
langsam erlernte, und kein hier Ereignetes. Keins.
…
… Sind wir vielleicht hier, um zu sagen: Haus,
Brücke, Brunnen, Tor, Krug, Obstbaum, Fenster, -
höchstens: Säule, Turm.... aber zu sagen, verstehs,
oh zu sagen so, wie selber die Dinge niemals
innig meinten zu sein. …
…
Hier ist des Säglichen Zeit, hier seine Heimat.
…
…
…
- Siehe, ich lebe. Woraus? Weder Kindheit noch Zukunft
werden weniger ....... Überzähliges Dasein
entspringt mir im Herzen.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
Re: Kindheit (Neue Gedichte)
Vielen Dank für den Hinweis auf das Requiem auf den Tod eines Knaben! Ich kannte dieses Gedicht bisher nicht, und ich bin davon so beeindruckt, daß ich es jetzt hier zu den beiden „Kindheit“-Gedichten dazustellen will.
Denn diese drei Gedichte zeigen, wie ich finde, sehr schön die Entwicklung der Fragen Rilkes an das „Wesen der Kindheit“ – vom Winter 1905/6 (»Da rinnt der Schule...«) zum Juli 1906 (»Es wäre gut...«) bis zum Jahre 1915 dieses „Requiems“:
Besonders berühren mich die letzten beiden Zeilen. Hier klingt ja die Frage nach dem „Sinn“ eines solchen Todes an, dieses Rätsel, das Rilke auch an das Ende seiner (im November 1915 entstandenen) Vierten Elegie stellt – allerdings hier gewissermaßen von der anderen, der „irdischen“ Seite aus gesehen:
Denn diese drei Gedichte zeigen, wie ich finde, sehr schön die Entwicklung der Fragen Rilkes an das „Wesen der Kindheit“ – vom Winter 1905/6 (»Da rinnt der Schule...«) zum Juli 1906 (»Es wäre gut...«) bis zum Jahre 1915 dieses „Requiems“:
Requiem auf den Tod eines Knaben
Was hab ich mir für Namen eingeprägt
und Hund und Kuh und Elephant
nun schon so lang und ganz von weit erkannt,
und dann das Zebra -, ach, wozu?
. . . Der mich jetzt trägt,
steigt wie ein Wasserstand
über das Alles. Ist das Ruh,
zu wissen, daß man war, wenn man sich nicht
durch zärtliche und harte Gegenstände
durchdrängte ins begreifende Gesicht?
Und diese angefangnen Hände –
Ihr sagtet manchmal: er verspricht...
Ja, ich versprach, doch was ich Euch versprach,
das macht mir jetzt nicht bange.
Zuweilen, dicht am Hause, saß ich lange
und schaute einem Vogel nach.
Hätt ich das werden dürfen, dieses Schaun!
Das trug, das hob mich, meine Augenbraun
waren ganz oben. Keinen hatt ich lieb.
Liebhaben war doch Angst -, begreifst du, dann
war ich nicht wir
und war viel größer als ein Mann
und war
als wär ich selber die Gefahr,
und drin in ihr
war ich der Kern.
Ein kleiner Kern; ich gönne ihn den Straßen,
ich gönne ihn dem Wind. Ich geb ihn fort.
Denn daß wir alle so beisammen saßen,
das hab ich nie geglaubt. Mein Ehrenwort.
Ihr spracht, ihr lachtet, dennoch war ein jeder
im Sprechen nicht und nicht im Lachen. Nein.
So wie ihr alle schwanktet, schwankte weder
die Zuckerdose, noch das Glas voll Wein.
Der Apfel lag. Wie gut das manchmal war,
den festen vollen Apfel anzufassen,
den starken Tisch, die stillen Frühstückstassen,
die guten, wie beruhigten sie das Jahr.
Und auch mein Spielzeug war mir manchmal gut.
Es konnte beinah wie die andern Sachen
verläßlich sein; nur nicht so ausgeruht.
So stand es in beständigem Erwachen
wie mitten zwischen mir und meinem Hut.
Da war ein Pferd aus Holz, da war ein Hahn,
da war die Puppe mit nur einem Bein;
ich habe viel für sie getan.
Den Himmel klein gemacht, wenn sie ihn sahn, -
denn das begriff ich frühe: wie allein
ein Holzpferd ist. Daß man das machen kann:
ein Pferd aus Holz in irgend einer Größe.
Es wird bemalt, und später zieht man dran,
und es bekommt vom echten Weg die Stöße.
Warum war das nicht Lüge, wenn man dies
'Pferd' nannte? Weil man selbst ein wenig
als Pferd sich fühlte, mähnig, sehnig,
vierbeinig wurde - (um einmal ein Mann
zu werden?) Aber war man nicht
ein wenig Holz zugleich um seinetwillen
und wurde hart im Stillen
und machte ein vermindertes Gesicht?
Jetzt mein ich fast, wir haben stets getauscht.
Sah ich den Bach, wie hab ich da gerauscht,
rauschte der Bach, so bin ich hingesprungen.
Wo ich ein Klingen sah, hab ich geklungen,
und wo es klang, war ich davon der Grund.
So hab ich mich dem Allen aufgedrängt.
Und war doch Alles ohne mich zufrieden
und wurde trauriger, mit mir behängt.
Nun bin ich plötzlich ab-geschieden.
Fängt
ein neues Lernen an, ein neues Fragen?
Oder soll ich jetzt sagen,
wie alles bei euch ist? - Da ängst ich mich.
Das Haus? Ich hab es nie so recht verstanden.
Die Stuben? Ach da war so viel vorhanden.
. . . . . Du Mutter, wer war eigentlich
der Hund?
Und selbst, daß wir im Walde Beeren fanden,
erscheint mir jetzt ein wunderlicher Fund
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Da müssen ja doch tote Kinder sein,
die mit mir spielen kommen. Sind doch immer
welche gestorben. Lagen erst im Zimmer,
so wie ich lag, und wurden nicht gesund.
Gesund . . . Wie das hier klingt. Hat das noch Sinn?
Dort, wo ich bin,
ist, glaub ich, niemand krank.
Seit meinem Halsweh, das ist schon so lang -
Hier ist ein jeder wie ein frischer Trank.
Noch hab ich, die uns trinken, nicht gesehen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Besonders berühren mich die letzten beiden Zeilen. Hier klingt ja die Frage nach dem „Sinn“ eines solchen Todes an, dieses Rätsel, das Rilke auch an das Ende seiner (im November 1915 entstandenen) Vierten Elegie stellt – allerdings hier gewissermaßen von der anderen, der „irdischen“ Seite aus gesehen:
- Wer zeigt ein Kind, so wie es steht? Wer stellt
es ins Gestirn und giebt das Maß des Abstands
ihm in die Hand? Wer macht den Kindertod
aus grauem Brot, das hart wird, - oder läßt
ihn drin im runden Mund, so wie den Gröps
von einem schönen Apfel? . . . . . . Mörder sind
leicht einzusehen. Aber dies: den Tod,
den ganzen Tod, noch vor dem Leben so
sanft zu enthalten und nicht bös zu sein,
ist unbeschreiblich.
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Re: Kindheit (Neue Gedichte)
Ja, und zugleich eben auch klingt der „Sinn“ aller Kindheit an, die sowenig „weniger“ werden kann wie die Zukunft [cf. E₉]. l.stilz hat geschrieben:Hier klingt ja die Frage nach dem „Sinn“ eines solchen Todes an.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
Re: Kindheit (Neue Gedichte)
Ja.lilaloufan hat geschrieben:Ja, und zugleich eben auch klingt der „Sinn“ aller Kindheit an, die sowenig „weniger“ werden kann wie die Zukunft [cf. E₉]. l.
Und in dem »ach, wozu?« klingt für mich auch noch die Frage nach dem Sinn all dessen an, was wir „lernen“ --- eine Frage, die, wenn wir sie weiterdenken, zur Frage nach dem „Sinn des Lebens“ überhaupt wird (»Glaubt nicht, Schicksal sei mehr, als das Dichte der Kindheit;«, Siebente Elegie).
Das scheint mir auch zu dieser Zeile in „unserem“ Kindheit-Gedicht zu passen:
»und wie von weit berufen und berührt« . . .
---
Ich bin heut früh mit einem weiteren Rilke-Satz aufgewacht, den ich vorhin endlich in seinem Zusammenhang gelesen habe:
»... Kunst ist Kindheit nämlich. Kunst heißt, nicht wissen, daß die Welt schon ist, und eine machen. Nicht zerstören, was man vorfindet, sondern einfach nichts Fertiges finden. Lauter Möglichkeiten. Lauter Wünsche. Und plötzlich Erfüllung sein, Sommer sein, Sonne haben. Ohne daß man darüber spricht, unwillkürlich. Niemals vollenden. Niemals den siebenten Tag haben. Niemals sehen, daß alles gut ist. ...«
Herzlichen Gruß,
Ingrid
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Re: Kindheit (Neue Gedichte)
l.Rilke, in dem [url=http://rilke.de/phpBB3/viewtopic.php?p=11290#p11290]Aufsatz: »Über Kunst«[/url] hat geschrieben:»Wenn ich die Kunst als eine Lebensanschauung bezeichne, meine ich damit nichts Ersonnenes. Lebensanschauung will hier aufgefasst sein in dem Sinne: Art zu sein. Also kein Sich-Beherrschen und -Beschränken um bestimmter Zwecke willen, sondern ein sorgloses Sich-Loslassen, im Vertrauen auf ein sicheres Ziel. Keine Vorsicht, sondern eine weise Blindheit, die ohne Furcht einem geliebten Führer folgt. Kein Erwerben eines stillen, langsam wachsenden Besitzes, sondern ein fortwährendes Vergeuden aller wandelbaren Werte. Man erkennt: diese Art zu sein hat etwas Naives und Unwillkürliches und ähnelt jener Zeit des Unbewussten an, deren bestes Merkmal ein freudiges Vertrauen ist: der Kindheit. Die Kindheit ist das Reich der großen Gerechtigkeit und der tiefen Liebe. Kein Ding ist wichtiger als ein anderes in den Händen des Kindes. Es spielt mit einer goldenen Brosche oder mit einer weißen Wiesenblume. Es wird in der Ermüdung beide gleich achtlos fallen lassen und vergessen, wie beide ihm gleich glänzend schienen in dem Lichte seiner Freude. Es hat nicht die Angst des Verlustes. Die Welt ist ihm noch die schöne Schale, darin nichts verloren geht. Und es empfindet als sein Eigentum Alles, was es einmal gesehen, gefühlt oder gehört hat. Alles, was ihm einmal begegnet ist. Er zwingt die Dinge nicht, sich anzusiedeln. Eine Schar dunkler Nomaden wandern sie durch seine heiligen Hände wie durch ein Triumphtor. Werden eine Weile licht in seiner Liebe und verdämmern wieder dahinter; aber sie müssen Alle durch diese Liebe durch. Und was einmal in der Liebe aufleuchtete, das bleibt darin im Bilde und lässt sich nie mehr verlieren. Und das Bild ist Besitz. Darum sind Kinder so reich.
Ihr Reichtum ist freilich rohes Gold, nicht übliche Münze. Und er scheint immer mehr an Wert einzubüßen, je mehr Macht die Erziehung gewinnt, die die ersten unwillkürlichen und ganz individuellen Eindrücke durch überkommene und historisch entwickelte Begriffe ersetzt und die Dinge, der Tradition gemäß, zu wertvollen und unbedeutenden, erstrebenswerten und gleichgiltigen stempelt. Das ist die Zeit der Entscheidung. Entweder es bleibt jene Fülle der Bilder unberührt hinter dem Eindrängen der neuen Erkenntnisse, oder die alte Liebe versinkt wie eine sterbende Stadt in dem Aschenregen dieser unerwarteten Vulkane. Entweder das Neue wird der Wall, der ein Stück Kindsein umschirmt, oder es wird die Flut, die es rücksichtslos vernichtet. Das heißt das Kind wird entweder älter und verständiger im bürgerlichen Sinn, als Keim eines brauchbaren Staatsbürgers, es tritt in den Orden seiner Zeit ein und empfängt ihre Weihen, oder es reift einfach ruhig weiter von tiefinnen, aus seinem eigensten Kindsein heraus, und das bedeutet, es wird Mensch im Geiste aller Zeiten: Künstler.«
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
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