Rilke Projekt: Lied (Du nur, Du)

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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stilz
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Re: Rilke Projekt: Lied (Du nur, Du)

Beitrag von stilz »

Liebe Anna,

vielen Dank für diese Ergänzung!
Ja. "Einsamkeit" ist bei Rilke ein zentraler Begriff.
Ich denke da auch an die Stelle aus dem Stunden-Buch ("Mit einem Ast..."), wo es heißt:
  • Denn nur dem Einsamen wird offenbart,
    und vielen Einsamen der gleichen Art
    wird mehr gegeben als dem schmalen Einen.
Und mir wird klar, daß ich - obwohl ich jetzt schon soooo viel dazu geschrieben habe :wink: - wohl noch immer nicht deutlich machen konnte, wieso ich in Abelones Lied den Satz "Du machst mich allein" dennoch nicht als "Du machst mich einsam" verstehen kann.
"Du machst mich einsam" würde bedeuten, daß die Einsamkeit eine Folge dessen ist, was das "Du" macht.
Die Einsamkeit, von der Rilke spricht, ist aber nicht etwas, das von anderen abhängig ist, sondern etwas, das aus seiner eigenen inneren Gewißheit entsteht, "daß wir uns zu Schwerem halten müssen".
Einsamkeit in diesem Sinn ist nicht etwas, das mit uns gemacht werden könnte:
"...Einsamkeit ist schwer; daß etwas schwer ist, muß uns ein Grund mehr sein, es zu tun." [Hervorhebung stilz]

Und trotz dieser "Einsamkeit" finde ich "Beziehung" in Abelones Lied, und ein konkretes "Du", das im Idealfall, in der Vision, ebenso zu dieser Art von "Einsamkeit" entschlossen ist wie das "Ich":
  • Du, der ichs nicht sage, daß ich bei Nacht
    weinend liege,
    deren Wesen mich Müde macht
    wie eine Wiege.
    Du, die mir nicht sagt, wenn sie wacht
    meinetwillen:

    wie, wenn wir diese Pracht
    ohne zu stillen
    in uns ertrügen?

    [Hervorhebungen stilz]
Ein solcher Versuch würde möglicherweise der Liebe "ähneln, die wir ringend und mühsam vorbereiten, der Liebe, die darin besteht, daß zwei Einsamkeiten einander schützen, grenzen und grüßen." (an Kappus, 14.5.1904).


Mit liebem Gruß

stilz, die persönlich davon überzeugt ist: wenn diese Liebe einmal errungen sein wird, dann wird "Einsamkeit" auch nichts mehr sein, das zu beklagen wäre.
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
dienica
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Re: Rilke Projekt: Lied (Du nur, Du)

Beitrag von dienica »

Hallo ihr Lieben,

ich bin dank google mal hier bei Euch gelandet. Ich finde Eure Interpretationen interessant, ich habe überhaupt kein Rilke-Hintergrundwissen und bin ganz glücklich, dass ich hier noch was lerne. Ich habe dieses Gedicht so verstanden, dass Rilke mit "du" die Liebe an sich anspricht, also das Gefühl Liebe selbst. Für mich passt es sehr gut, da ja einer der philosophischen Leitsätze ist "Lieben bedeutet auch Loslassen" und dies die letzten Zeilen erklären würde, "weil ich niemals dich anhielt, halt ich dich fest".
Zu "Du machst mich allein" auch, denn wenn man davon ausgeht, dass Liebe nicht auf bestimmte Objekte oder Personen gerichtet ist, sondern eine Lebenseinstellung ist, ist es natürlich so, dass die geliebten Objekte be-lieb-ig (hihi) vertauschbar sind, da es nicht auf das Objekt ankommt, sondern auf die Liebe zu allem. Ich denke daher, der Satz könnte auch lauten "Du machst mich mit allem verbunden", aber wahrscheinlich fühlt er sich mit seiner uneingeschränkten Liebe zu allem eher allein. Als würde er darüber trauern, dass "die Liebenden", also Pseudo-Liebenden, bald zu Lügen anfangen, da es nicht seinem Liebesbegriff entspricht. Er zeigt ja durch den Einschub über Liebende, dass er die objektbezogene Liebe nicht als Liebe versteht, ich denke, "die Liebenden" ist in seinem Sinne ironisch gemeint. Er hat natürlich einen anderen Begriff von Liebe, denn Liebe schließt Lügen aus.
Die erste Strophe zeigt für mich, wie überwältigt und doch geborgen er von dem Gefühl der Liebe zu allem ist, es macht ihn müde, ist aber gleichzeitig eine Wiege. Die Liebe hingegen ist immer behütend in ihm vorhanden (natürlich in ihm, denn es ist ja sein Gefühl), sie wacht über ihn. Doch wie wäre es, wenn wir die ganze Pracht der Liebe einfach ertrügen, ohne sie zu stillen, also an Objekte zu binden und damit in den Kreislauf des Lügens geraten, was keine Liebe mehr wäre, sondern Heuchelei und Verstecken seines wahren Daseins usw... ?
Abgesehen davon, man stillt ja keine Pracht, man stillt ein Verlangen. Und ich denke, er meint mit jenen Zeilen, dass die Liebe als Lebenseinstellung eben ein allumfassendes Gefühl ist. Rilkes Liebe ist immer vorhanden. Die Menschen jedoch verwechseln ihr Verlangen nach Schutz, Anerkennung, und diesen anderen Nöten aus reinem Selbstzweck mit dem Begriff und Gefühl der bedingungslosen Liebe und müssen natürlich dadurch ihr Verlangen stillen, und tarnen dies mit dem Wort "Liebe".

Ja, so habe ich mir das mal zurechtinterpretiert. Es fühlt sich gut an. Ich bin gespannt, was ihr dazu sagt.

In Liebe ;-)
nica
stilz
Beiträge: 1226
Registriert: 26. Okt 2004, 10:25
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Re: Rilke Projekt: Lied (Du nur, Du)

Beitrag von stilz »

Liebe Nica,

mit vielem von dem, was Du schreibst, bin ich sehr einverstanden. Die "Liebenden", die so gern die Liebe verwechseln mit etwas, das alle Nöte und Unvollkommenheiten des eigenen Lebens ganz einfach wegzaubern möge... (zu "da es nicht auf das Objekt ankommt, sondern auf die Liebe zu allem" findest Du sicher einiges hier im Forum, wenn Du in der Suchfunktion "intransitive Liebe" eingibst...)

Ich habe ja schon einige Male geschrieben, wie ich dieses "Lied" verstehe, und möchte mich hier nicht wiederholen.

Ich danke Dir für die Anregung, "all-ein" als "mit allem verbunden" zu verstehen. Das ergibt für mich einen stimmigeren Sinn als "einsam"; wenn ich diese Zeile auch nach wie vor verstehe als "Du allein bist es, die mich 'macht' " - im Sinne von: ich bin in Dir erst dadurch, daß Du mich "erkennst"...

Daß Rilke mit dem "Du" in diesem Gedicht die Liebe selbst meint, scheint mir allerdings nicht ganz schlüssig: "Du, die mir nicht sagt, wenn sie wacht / meinetwillen:" - das deutet für mich schon auf ein konkretes menschliches Gegenüber hin.

Und dann schreibst Du geradezu einen "Schlüsselsatz":
dienica hat geschrieben: man stillt ja keine Pracht, man stillt ein Verlangen.
:D JA! Ganz genau.
Man stillt ein Verlangen. Diesen Zusammenhang kennt jedermann aus dem normalen Sprachgebrauch.
Und erst Rilke ist es, der das Wort "stillen" in einen ganz neuen Zusammenhang stellt. Und damit darauf aufmerksam macht, daß ein ungestilltes Verlangen nicht bloß etwas "Negatives" ist, ein unangenehmer Zwischenzustand, den es möglichst schnell zu beenden gilt, sondern daß eine solche unerfüllte Sehnsucht auch eine "Pracht" ist; eine Pracht, die, wenn das Verlangen, die Sehnsucht, restlos gestillt wird, womöglich gemeinsam mit dieser Sehnsucht zum Verschwinden gebracht werden könnte, sodaß nur Leere übrigbliebe...

Liebe :wink: Grüße!

Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
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