"Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort"

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

Moderatoren: Thilo, stilz

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Sneak
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"Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort"

Beitrag von Sneak »

Hey.
Also ich habe da mal eine Frage. Das Gedicht von Rilke ist nämlich abiturrelevant (weswegen wir auch alles dazu fleissig lernen, ja) und während Bekannte und ich so unsere Gedanken untereinander ausgetauscht haben, kam die Frage auf: Ist das ein impressionistisches Gedicht oder doch expressionistisch oder symbolistisch? Rilke war ja von allen Epochen irgendwie geprägt und hat auch in jede Richtung Werke herausgebracht.
Ich finde "Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort" eigentlich ziemlich untypisch für den Impressionismus und würde das Gedicht jetzt eher dem Symbolismus zuschreiben, weil es ja eigentich keinen Eindruck beschreibt, sondern schon fast Kritik übt. Auch ist das ja eher ein gesellschaftliches Thema, das kam auch eher selten im Impressionismus vor, oder nicht?

Ich finde Symbolismus einfach am plausibelsten, aber ich kann mich natürlich auch irren. Was meint ihr?
gliwi
Beiträge: 941
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Beitrag von gliwi »

Hallo Sneak,
ja, was sollte es denn symbolisieren? Beim Symbolismus bräuchten wir doch wenigstens ein Symbol, am besten mehrere. Nein, Rilke macht seine eigene Epoche, die Mehrzahl seiner Gedichte ist einfach Rilke "...und sonst gar nichts." Ich bestreite nicht, dass er auch impressionistische und sogar symbolistische Gedichte geschrieben hat - expressionistische finde ich persönlich keine - , aber das hier vorliegende passt in keine dieser Schubladen. Wie du ganz richtig bemerkst, ist es ein "kritisches" Gedicht, und zwar übt es Kritik genau an der Haltung, zu sagen: "Ha, hier XY-ismus! Schublade auf, rein , zu, erledigt!" Also eine solche Zuordnung würde gerade diesem Gedicht völlig widersprechen. Wenn ich so überlege, wo wir eine Tradition finden, in Gedichtform kritische Gedanken unter die Leute zu bringen, und das völlig ironiefrei, dann fällt mir Walter von der Vogelweide mit seiner "Spruchdichtung" ein. Ja, es ist, wenn überhaupt etikettierbar, ein "aufklärerisches" Gedicht, "Gedankenlyrik" wie bei Schiller. Ich kenne kein anderes von Rilke, in dem er so verfährt, insofern nimmt es ohnehin eine Sonderstellung ein.
Gruß
gliwi
(nicht gerne mit hey angesprochen)
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. KANT
stilz
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Beitrag von stilz »

Dieses Gedicht ist mir eines der liebsten, also kann ich, obwohl gliwi ja schon alles gesagt hat, natürlich nicht widerstehen, auch noch was dazu zu sagen.

Danke, gliwi, für Deine Ent-schubladisierung!

Und hey :wink: Sneak:

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.


Und da ist Express- und hier Symbolis-,
oder auch Impress-, versteh ich was miß?

Sicherlich ist gerade dieses Gedicht mißverstanden, sobald es in einer der von Dir angebotenen Schubladen landet.
(Übrigens wird für mich das Beengende dieser Schubladen in der "umschließenden" Reimform der ersten beiden Strophen noch zusätzlich ausgedrückt, bei "das Ende ist dort" kann ich richtig fühlen, wie eine Falle zuschnappt... aber das nur am Rande)

Ganz egal, was Du für "abiturrelevant" halten magst: ich wünsch Dir, daß Du Deinem eigenen Urteil vertrauen lernst, und ganz selbstbewußt sagen/schreiben kannst, was Du siehst, nämlich daß Rilke mit diesem Gedicht nicht nur "schon fast", sondern ganz und gar Kritik übt.

Und außerdem wünsch ich Dir, daß Dir Berge und vieles mehr wunderbar bleiben, und daß Du, ebenso wie Rilke, die Dinge singen hören kannst...

Frohen Ostermontagsabend!

stilz
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
janine
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Registriert: 23. Dez 2009, 12:56

Re: "Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort"

Beitrag von janine »

Auch wenn es evtl. zu spät sein dürfte:
expressionistische Züge kann ich hier auf keinen Fall entdecken, dafür aber durchaus impressionistische und -natürlich- auch Symbolismus. Eine feste Zuordnung würde ich hier tatsächlich auch nicht vornehmen. In einer Abiklausur in Deutsch kommt es ja auch darauf an, zu argumentieren und ganau dazu bietet sich dieses Gedicht ja an, vielmehr drängt es sich gradezu auf.

Übrigens: es gibt ein einziges Gedicht in Rilkes Werk, dass im Allgemeinen expressionistisch benannt wird: "Ich möchte einer werden so wie die", das wunderbare Gedicht um den Kleine-Jungen-Traum.

Herzliche Grüsse
Harald
Beiträge: 230
Registriert: 28. Dez 2005, 23:47

Re: "Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort"

Beitrag von Harald »

In einem Gedicht von Octavio Paz heißt es:

el mundo cambia
si dos se miran y se reconocen,
amar es desnudarse de los nombres

verändert wird die Erde,
wenn zwei sich sehen, zwei sich erkennen;
Lieben heißt: die Namen ausziehen

Und Nietzsche fällt einem ein:

Die Worte liegen uns im Wege! — Überall, wo die Uralten ein Wort hinstellten, da glaubten sie eine Entdeckung gemacht zu haben. Wie anders stand es in Wahrheit! — sie hatten an ein Problem gerührt und indem sie wähnten, es gelöst zu haben, hatten sie ein Hemmnis der Lösung geschaffen. — Jetzt muss man bei jeder Erkenntnis über steinharte verewigte Worte stolpern, und wird dabei eher ein Bein brechen, als ein Wort.
... und Anfang glänzt / an allen Bruchstelln unseres Mißlingens
ZaunköniG
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Wohnort: Burgdorf

Re: "Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort"

Beitrag von ZaunköniG »

Hallo,

Rilke wird auch zu den Neoromantikern gezählt.
Und bei aller Skepsis mit der man solchen Kategorien begegnen sollte, ist der Begriff vielleicht treffender als Impressionismus oder Symbolismus,
zumindest wenn man Romantik nicht mit Kitsch verwechselt, sondern aus dem Selbstverständnis der Epoche heraus begreift.

Nach eher mechanistischen Vorstellungen der Aufklärung, haben die Romantiker versucht, der Natur ihre Seele wiederzugeben.
Rilke erweitert diesen Ansatz auch auf unbelebte "Dinge", ja begründete quasi das Genere des Ding-Gedichtes.
Sehr aufschlußreich sind in dieser Hinsicht auch seine Ausführungen zum Werk Rodins.

LG ZaunköniG
§1: Der Konjunktiv des Menschen ist unbegreiflich
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