*help* Interpretation zu "Gott im Mittelalter"

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

Moderatoren: Thilo, stilz

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Sunny_girl
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*help* Interpretation zu "Gott im Mittelalter"

Beitrag von Sunny_girl »

Hallo Leute! :D

Ich hätte eine große Bitte: Ich muss einen Vergleich zwischen einem Gedicht von Rilke (Gott im Mittelalter) und einem Gedicht von Dagmar Nick (Gotik) schreiben. :roll:

Rilkes Gedicht, das mir viel besser gefällt, geht so: :arrow:

Und sie hatten ihn in sich erspart
und sie wollten, dass er sei und richte,
und sie hängten schließlich wie Gewichte
(zu verhindern seine Himmelfahrt)

an ihn ihrer großen Kathedralen
Last und Masse. Und er sollte nur
über seine grenzenlosen Zahlen
zeigend kreisend und wie eine Uhr

Zeichen geben ihrem Tun und Tagwerk
Aber plötzlich kam er ganz in Gang,
und die Leute der entsetzten Stadt

ließen ihn, vor seiner Stimme bang
weitergehn mit ausgehängtem Schlagwerk
und entflohn vor seinem Zifferblatt.

Falls irgendwer Lust und Zeit hat um mir zu helfen, in irgendeiner Art und Weise, d.h. kleine hilfreiche Stichwörter zu dem Gedicht oder so, würd ich mich seeeeeehr freuen! :D

lg Sunny_girl
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Hallo Sunny_girl, stelle bitte konkrete Fragen.
Gruß
gliwi
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helle
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Beitrag von helle »

Es gibt einige Gedichte von Dagmar Nick, die ich sehr schätze, sie hat auch wunderbare Reiseführer geschrieben, über Israel, Rhodos, Sizilien und andere. Wenn Du, Sunny_girl, hier den Text von D. Nick einstellen könntest und sagen, warum Du Rilkes Gedicht vorziehst und welche Vergleichsmöglichkeiten Du siehst oder auch nicht siehst, wärst Du vielleicht schon einen Schritt weiter. Und wir vielleicht auch.

Gruß h.
Sunny_girl
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Beitrag von Sunny_girl »

sry, werd ich natürlich nachholen:

Danke schon mal für euer Interesse! :D

das Gedicht von Dagmar Nick, Gotik:

Als sie auf ihre schmalen Hände schauten
Erwachten sie und nannten ihre ZEit
Mit einem neuen Namen. Und sie bauten
Und was sie bauten, wurde Ewigkeit.

Und alles stieg, den Himmel hinzuhalten.
Die Enge barst, DIe Seele wurde groß
Und ragte- säulengleich aus den Basalten
Und alle Maße wurden grenzenlos.

Da schien die Menschheit wie zu Staub zertreten
Und kniete aufgelöst vor ihrem Herrn.
An das Gewölbe brandete ihr Beten.

Sie sahen auf, verworren, klein und fern:
Dort standen Engel, Fürsten und Propheten,
Und jeder Pfeiler stützte einen Stern.

Also vor allem ist mir der Lauf der Menschheit in beiden Gedichten aufgefallen (die übrigens auch beide Male mit "sie" beschrieben wird), nämlich dass sie trotz den Versuch, Gott zu erreichen, am Ende wieder gleich geblieben sind (ein Zeichen für das damalige düstere Zeitalter)
Unterschiedlich ist aber die Methode, mit welcher sie es versuchen. (die einen wollen ihn erreichen, die anderen wollen ihn zu sich holen)

Mir gefällt das Gedichte von Rlke insofern besser, da er Gott mehr behandelt und bei ihm die Menschen noch den Hauch einer Chance hatten, außerdem bin ich ja als ein alter Rilke.Fan schon voreingenommen ;)

Mir bereitet vor allem die Form, also die Diktion usw als Vergleich große Schwieirigkeiten :?
Und ich kann mit dem letzten Satz von Dagmar Nick nicht viel anfangen..

Falls euch was einfällt, ich würd mich echt freuen, will den Aufsatz nämlich gut schreiben :)

lg Sunny_girl
helle
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Beitrag von helle »

Die Form, mit der Du Probleme hast, legt doch den Vergleich zunächst aber nahe, es sind doch beide Gedichte Sonette. Daß man als deutsche Autorin der Gegenwart – Frau Nick ist glücklicherweise auch im fortgeschrittenen Alter noch munter und geistig vollkommen rege – noch Sonette schreibt, ist natürlich eher ungewöhnlich. Die Form ist ja derzeit etwas außer Mode, ich vermute, es handelt sich um ein älteres Gedicht von ihr (?).

Wenn Du Dir das Reimschema ansiehst, entdeckst Du schon einige Unterschiede. Außerdem fällt doch auf, daß bei DN jede Strophe geschlossen ist, während Rilke Strophen-Enjambements, also Satzverbindungen über das Strophenende hinaus, benutzt. Das ist in beiden Fällen sicher eine Korrespondenz zum Inhalt. Nick betont das Ordnungs- und Festigkeitsprinzip, ihr Gedicht gleicht dem stützenden und festgefügten Bau der im Gedicht beschriebenen Bauwerke, bei Rilke könnte man sagen, daß die Auflösung der Strophengrenzen mit der Auflösung des simplen Erwartungsschemas zu tun hat, also mit der Auflösung der Uhrwerk-Regelmäßigkeit, auf die die "Leute" den Gott reduzieren wollen (zu den Formaspekten ließe sich noch einiges mehr sagen, aber ich will Dir ja nicht alles abnehmen).
Damit sind wir auch schon beim Inhalt. Rilkes Gedicht ist kritisch, es stellt eine Differenz fest zwischen dem eigentlichen göttlichen Sein (das sich die Leute "ersparen", ja, sie versuchen, seine "Himmelfahrt" zu "verhindern") und dem menschlichen Umgang damit fest. Dazwischen klafft eine Lücke, deshalb das Entsetzen, als sich die göttliche Natur aus der baulichen und zeitlichen Eingeschränktheit erhebt. Sie ist mehr als Gewohnheit und Routine. Übrigens sieht Rilke diese Differenz zwischen göttlicher Natur und menschlicher Konvention, unter etwas anderen Vorzeichen, nicht nur für frühere Epochen, nicht nur fürs Mittelalter, sondern auch für seine eigene Zeit, das schmuggelt sein Gedicht in gewisser Weise mit ein.

Bei Dagmar Nick ist das anders, weniger kritisch und ohne die heimliche Beziehung zur Gegenwart. Sie stellt das Verhältnis der Menschen zu Gott in einer vergangenen Epoche dar – Kleinheit des Menschen, Größe des "Herrn". Der Versuch, diesem ungleichen Größenverhältnis von Seiten des Menschen in irgendeiner Form zu entsprechen, mündet in seiner Bautätigkeit zu Ehren des "Himmels". Die Pfeiler und Säulen sind sein Versuch, das eigentlich unermeßliche Himmelsgewölbe zu tragen – dies das Charakteristikum der Epoche. So könnte man auch die letzte Zeile verstehen.

Daß Du Dich als Rilke-"Fan" bezeichnest, spielt dabei gar keine Rolle, das ist eine private Angelegenheit, eine Art von Bekenntnis, die man hier im Forum gelegentlich antrifft, die aber nichts austrägt und in der Wortwahl etwas Modisches hat, aber das ist wiederum wohl meine private Auffassung.

Good luck
wünscht helle
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Dem ist nicht mehr viel hinzuzufügen. Vielleicht noch die Bewegung: bei DN (die ich bis heute nicht kannte, danke) geht es alles aufwärts, es fängt an mit "stieg", und der Schlussvers wirkt auf mich wie ein Wegzoomen, das dann plötzlich die Totale zeigt: unten die Menschen, dann der Blick hinauf, hinauf bis zu den Sternen, während der untere Bildteil mit den Menschen immer mehr schrumpft.
Bei Rilke wird ja die Aufwärtsbewegung sofort wieder zurückgebogen, aber die drinsteckende Dynamik lässt sich nicht wieder stillegen, sie bricht sich Bahn in der Ebene und verstört die Menschen.
Wie schon gesagt, ich kenne die Autorin nicht, aber es scheint mir, dass sie diesese Gedicht ganz bewusst in rilkeschem Ton schreibt: die Sonettform, die vielen Alliterationen, die Versanfänge mit "und"...
Gruß
gliwi
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Sunny_girl
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Beitrag von Sunny_girl »

W-O-W!

Mir stockt der Atem. Ich habe nur 2 Erklärungen für diese brillanten Interpretationen: Entweder seid ihre beide anerkannte Professoren, oder noch unentdeckte Philologiegenies.

Egal wer ihr seid, ich danke vielmals! :D

Werd so gut als möglich versuchen, das in meinen Worten niederzubringen, denn jeder wüsste dass das nicht von mir sein kann :wink:

Mit lieben Grüssen verbleibt das glückliche

Sunny_girl[/code]
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Volker
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Kleine Korrektur

Beitrag von Volker »

Hallo,
kleine Korrektur, damit der Satz einen Sinn ergibt, muss er heißen:
....Und er sollte nur
über seine grenzenlosen Zahlen
zeigend kreisen und wie eine Uhr
Zeichen geben ihrem Tun und Tagwerk.
Das Rilke Gedicht spricht von
der großen Kathedralen Last und Masse
Komisch, wenn ich in einer gotischen Kathedrale war, habe ich nie das Gefühl von Last und Masse gehabt. Und das Bild vom Gewichte-Dranhängen um Seine Himmelfahrt zu verhindern ist mir ebenfalls sehr fremd. Sooo stelle ich mir die Gläubigen im Mittelalter nicht vor.

Da halte ich es eher mit den Zeilen von Dagmar Nick (die ich ebenfalls erfreut bin hier kennenzulernen :lol: )
Und alles stieg, den Himmel hinzuhalten.
Die Enge barst, die Seele wurde groß
Und ragte- säulengleich aus den Basalten
Und alle Maße wurden grenzenlos.
So habe ich auch immer empfunden: die gotischen Kathedralen "ziehen" dich regelrecht nach oben, wenn du drin stehst. Wie viel mehr müssen das noch unsere "echt" gläubigen Urahnen empfunden haben.

Soweit nur meine unmaßgeblich Meinung.
Ich hab' auch Verstand.©
gez. Volker
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