Der Künstler und die kleine Tochter

Lou Andreas-Salomé, Clara Westhoff, Marie von Thurn und Taxis, Ellen Key, Baladine Klossowska, Leonid Pasternak, Anton Kippenberg, ...

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Lifink

Der Künstler und die kleine Tochter

Beitrag von Lifink »

Der Beitrag über die Rilke-Tochter Ruth hat mich angeregt, aus meinem Archiv dieses herzusetzen:
-«Der Künstler und sein Kind»-
Paula Modersohn-Becker hat sich in bestürzender Offenheit, wie ihre Biographin schreibt, über Zeiten gefreut, in denen sie von ihrem Mann getrennt war. Paulas Arbeitstag als Künstlerin war genau eingeteilt. Darin mußte sich auch die kleine Stieftochter fügen.
Mit Clara Westhoff war Paula tief verbunden. Manche Ideen, die beide austauschten, bleiben uns unbekannt. Aber ich zitiere aus einem Vortrags-Manuskript Claras über Rodin. Darin finden wir verwandte Gedanken.
Wenn wir das Höchste wollen und links und rechts das --Eigentlichste-- von uns stoßen, wo bleiben dann innere Wahrheit und unsere Scham? Nämlich dass wir als Geschöpf die Schöpfung gerade darin verfehlen: wenn wir hoch hinaus wollen? Etwa indem wir das eigene Kind vernachlässigen.

Ich zitiere aus zwei Briefen Rilkes. Zwei brennende Künstlerwünsche artikulieren sich. Eine Künstlerin, Clara Rilke-Westhoff, ist in der Heimat bei Bremen. Ihr Mann Rainer Maria Rilke ist in Paris. Wie wird der Weg zur Kunst bezwungen? Was wird aus der kleinen Tochter Ruth? Was uns Freud gelehrt hat von den Falten des inneren Seins, die sich plötzlich öffnen, und es fällt etwas heraus, was doch so sehr verborgen bleiben sollte - - -In seinem Brief spricht der Vater R.M. Rilke von einem Kinde. Rilke, der brennend den Erfolg will, sitzt bei dem berühmten Rodin im Garten. Rilke schildert, wie Rodin ist und was Rodin ihm, Rilke, ist:
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Rilke an Clara, Paris, 2.9.1902
"Ich fand ihn kleiner und doch mächtiger, gütiger und erhabener...dieses verlegene und zugleich fröhliche Lachen eins schön beschenkten Kindes. Er ist mir sehr lieb."
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Mein Kommentar:
Rodin, dieses "Urviech", diese Ungestalt: er, ein «kleines Kind»? Verzeihen Sie, aber mich befällt Erschrecken. Denn das "eigentliche", sein eigenes kleine Kind, seine Tochter Ruth, kommt sie in Rilkes Briefen an die Mutter gar nicht vor? Ist denn der alternde Rodin (man beachte die Fotos aus dieser Zeit!) und sein spaßiges Gewieher das: »Lachen eines Kindes»?
Natürlich denkt Rilke an seine Tochter. Denn auch Rodin kennt das Problem, wie man als Mensch und Bürger überlebt. Etwas später heißt es im Brief Rilkes vom 2.9.02:
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"Nach 12 bat Rodin mich zum déjeuner, das wurde im Freien eingenommen; es war sehr seltsam...."
"Madame Rodin (ich hatte sie schon vorher gesehen - er stellte mich nicht vor) sah müde, gereizt, nervös und nachlässig aus. ..Neben mir ein kleines, sehr liebes Mädchen von etwa zehn Jahren (von der ich auch nicht erfuhr, wer sie ist) - -".
Der Brief schließt dann später wie folgt:
"- Ich bin froh, daß es so viel Größe gibt und daß wir durch die weite bange Welt den Weg zu ihr gefunden haben. Wir beide. Küsse unsere Ruth mit meinen Küssen."
Dein Rainer Maria
Einige Monate später hat Rilke sich bei Rodin fest etabliert. Nun hören wir mehr über das Thema "der Künstler und sein Kind":
-
Rilke an Clara, Paris, 11, rue Toullier, am 5. September 1902:
-- -"wie gerne möchte ich Ruth sehen in ihren kleinen hellbraunen Lederschuhen. Ich habe manchmal so große Sehnsucht nach ihr!...
Ich glaube, mir ist jetzt manches offenbar geworden neulich bei Rodin. Nach einem dÚjeuner, das nicht weniger unruhig und seltsam verlief wie das j³ngst erwõhnte, ging ich mit Rodin in den Garten, und wir setzten uns auf eine Bank, die wunderbar weit über Paris hinaussah. Es war still und schön. Die Kleine (es ist wohl doch Rodins Tochter), die Kleine war mitgegangen, ohne daß Rodin ihrer achtete. Das Kind schien es auch nicht zu erwarten. Es saß nicht weit von uns am Wege nieder und suchte langsam und traurig nach merkwürdigen Steinen im Kies. Manchmal kam sie heran, sah den Mund Rodins an, wenn er sprach, oder meinen, wenn ich gerade etwas sagte. Einmal brachte sie auch ein Veilchen. Sie legte es mit ihrer kleinen Hand schüchtern auf die Rodins und wollte es ihmn irgendwie in die Hand legen, es irgendwie an dieser Hand befestigen. Aber die Hand war wie von Stein, Rodin sah nur flüchtig hin, sah darüber weg, über die kleine scheue Hand, über das Veilchen, über das Kind, über diesen ganzen kleinen Augenblick der Liebe, mit Blicken, die an den Dingen hingen, welche in ihm immerfort sich zu formen schienen."
"Er sprach von der Kunst, von den Händlern mit der Kunst, von seiner einsamen Stellung" - - - -
- - -."Siehst Du, hier ist der zweite Punkt dieses großen Künstlerlebens. Das erste war, daß er seiner Kunst ein neues Grundelement entdeckt hatte, das zweite, daß er vom Leben nichts mehr wollte, als sich ganz und alles Seine durch dieses auszudrücken. Er hat geheiratet [!?], parche qu'il faut avoir une femme, wie er mir sagte (in einem anderen Zusammenhange, nämlich als ich von Gruppen sprach, die sich zusammentun, von Freunden und meinte, es käme doch nur bei einsamen Streben was heraus, da sagte er es, sagte:
Non, c'est vrai, il n'est pas bien de faire des groupes, les amis s'empêchent. Il est mieux d'être seul. Peut-être avoir une femme - parce qu'il faut avoir une femme) .. so etwa. - Dann sprach ich von Dir, von Ruth, wie traurig es sei, daß Du sie verlassen müßtest, - er schwieg eine Weile und sagte dann, wunderbar ernst sagte er das: Oui, il faut travailler, rien que travailler. E il faut avoir patience. Man soll nicht daran denken, etwas machen zu wollen, man soll nur suchen, das eigene Ausdrucksmittel auszubauen und alles zu sagen. Man soll arbeiten und Geduld haben. Nicht rechts, nicht links schauen. Das ganze Leben in diesen Kreis hineinziehen, nichts haben außerhalb dieses Lebens. Rodin hat das so gemacht. J'ai y donné ma jeunesse, sagte er. Es ist sicher so. Man muß das andere opfern. Der unerquickliche Hausstand Tolstois, die Unbehaglichkeit in den Zimmern Rodins: das deutet alles auf dasselbe hin: daß man sich entscheiden muß, entweder das oder jenes. Entweder Glück oder Kunst. On doit trouver le bonheur dans son art...so ungefähr sagte Rodin auch. Und das ist ja alles so klar, so klar. Die großen Menschen, alle haben ihr Leben zuwachsen lassen wie einen alten Weg und haben alles in ihre Kunst getragen. Ihr Leben ist verkümmert wie ein Organ, das sie nicht mehr brauchen."
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- -."So verlor er sich nicht, selbst in den Jahren, da Geldnot ihn zu unwürdiger Arbeit zwang, verlor er sich nicht, weil nicht Plan blieb, was er erlebte, weil er abends es gleich verwirklichte, was er bei Tage gewollt hat. So wurde immer alles wirklich. Das ist die Hauptsache, daß man nicht beim Träumen, beim Vornehmen, beim In-Stimmung-sein bleibt, sondern immer mit Gewalt alles in Dinge umsetzt. Wie Rodin es getan hat. Warum ist er durchgedrungen? Nicht, weil er Beifall gefunden hat, Seiner Freunde sind wenige, und er steht, wie er sagt, auf dem Index. Aber sein Werk war da, eine enorme, grandiose Wirklichkeit, über die man nicht weg kann. Damit hat er sich Raum und recht erzwungen. Man kann sich einen Mann denken, der das alles in sich gefühlt, gewollt hatte und auf bessere Zeiten gewartet hätte, um es zu machen. Wer würde seiner achten; er wäre ein alternder Narr, der nichts mehr zu hoffen hätte. Aber machen, machen heißt es. Und ist erst einmal da,-- - -Sachen, ..die man alle bald aus dem, bald aus jenem Drang heraus gemacht hat, dann hat man schon ein Stück Land gewonnen, auf dem man aufrecht stehen kann. Dann verliert man sich nicht mehr. Wenn Rodin da unter seinen Dingen umhergeht, da fühlt man, wie ihm von ihnen immerfort Jugend, Sicherheit und neue Arbeit zuströmt. Er kann nicht irre werden. Sein Werk steht wie ein großer Engel neben ihm und schützt ihn...sein großes Werk!" ...
Dein Rainer Maria
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Soweit das Thema "Der Künstler und sein Kind". Es geht, so sehen wir, um's "Eingemachte". Wozu lebt der Mensch? Wie hoch darf er die Kunst über das Leben stellen? Picassos Frauen sind entweder verrückt geworden oder haben sich umgebracht. Nur eine hat sich erfolgreich nach 10 Jahren Zusammenleben von ihm gelöst (Gilot).
roberto

nachzutragen zu Rodin ist CAMILLE CLAUDEL

Beitrag von roberto »

In der ersten ro-ro-Bildnonographie über Paul Claudel wurde seine Schwester Camille Claudel als Junge bezeichnet, der 1911 starb. Die Bildhauerin Camille Claudel kommt bei Rilke nicht vor. Sie hat Rodin ihre Liebe gegeben und ihn künstlerisch inspiriert. Aber das ist ein anderes Thema, auch ihre Jahrzehnte in einem Irrenhaus und ihr Nachruhm.
Funkenflug

Gottfried Benns Tochter Nele

Beitrag von Funkenflug »

Nele hat über ihren Vater Gottfried Benn ein lesenswertes Buch geschrieben.
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Eine interessante Frage. Es gibt ja auch Gegenbeispiele: KünstlerInnen, die sich in ihrer Familie sehr wohlgefühlt haben, bis Carl Larsson, der ohne Familie gar nicht denkbar wäre. Schiller z. B. war ein Familienmensch. Maria Sybilla Merian ist mit ihrer Tochter zusammen nach Surinam gereist. Auch die Curies- Wissenschaftler- haben eine ausgesprochen harmonische Familie gebildet. Für mich hat es immer einen Hauch von Arroganz, wenn man Kinder in die welt setzt, sich aber nicht drum kümmert, weil irgend was anderes wichtiger ist. Als Feministin finde ich es auch anmaßend
, wenn männliche Künstler Frauen reihenweise vernaschen und sich dann aus dem Staub machen - Rilke gehört leider dazu - weil sie denken, ihre Kunst gibt ihnen das Recht dazu.
gliwi
Marie
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Beitrag von Marie »

Hallo Gast und gliwi,

ich war leicht geschockt über dieses moralisierende Genörgel.

- Wenn ein Mensch (Rilke) auch in einem "Urviech" (Rodin) noch das Kind entdecken kann, zeugt das von einer inneren Größe, die den meisten Menschen abgeht. Das Argument, er hätte stattdessen seiner eigenen Tochter mehr Beachtung schenken müssen, ist - entschuldigt bitte - unreflektierter Moralismus!
Menschen wie Rilke haben andere nicht aus Oberflächlichkeit benutzt (oder "vernascht") oder missachtet! Viele Künstler sind nun mal Grenzgänger und Ihre Suche nach absoluter Authentizität lässt sie anderen manchmal arrogant und rücksichtslos erscheinen. Es sind aber Menschen, die den sicheren Laufstall gesellschaftlicher oder religiöser Normen aufgegeben haben und oft auch einen extrem hohen Preis dafür zahlen ( Einsamkeit, Wahnsinn, Selbstmord...). Es fuchst mich schon, wenn Menschen, die diese Kräfte, die z. B. Rilke angetrieben haben, aus ihrem so-und-nicht-anders-hat-die-Welt-zu-sein Sicherheitsdenken nicht nachvollziehen können, aber verurteilen.
Ich könnte mir vorstellen, dass die Frauen, die mit Rilke zusammen waren, sich geachtet und geliebt gefühlt haben, vielleicht nicht alle, aber die meisten. Er hatte, glaube ich, trotz aller Depressionen den kindlichen Enthusiasmus des stetigen Anfangs bewahrt und in seinen Gedichten spiegelt sich auch dieses Streben, in jeder Blüte (oder Frau) das innerste Wunder zu entdecken.

- Wenn du, gliwi, einerseits dich als Feministin bezeichnest und andererseits im gleichen Atemzug sagst, Männer vernaschen Frauen, ist das doch irgendwie widersprüchlich!? Sind Frauen willenlose Objekte, die von Männern (wie Rilke) benutzt werden können? Es soll Frauen geben, die sich auch ganz gerne "vernaschen" lassen und ganz froh sind, hinterher keine Verpflichtungen mehr zu haben.
Es gibt umgekehrt auch Frauen, die Männer berechnend an die Kette legen (z.B. mit einem Kind!) Weißt du, ob Rilke zum Thema Familienplanung wirklich gefragt wurde? Selbst e.u. hat nicht mit unter der Bettdecke gesteckt und weiß sicher auch keine Antwort! Außerdem hat auch Clara Rilke ihre Tochter lange allein gelassen - wegen der Kunst!
Die Curie-Wissenschaftler haben es richtig gemacht (entsprechend der gesellsch. Dogmen) und Rilke falsch. Irgendwas stimmt doch da nicht, oder?

Gruß mit Kriegsgeheul! 8)
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Bevor wir weiter diskutieren, liebe Marie: Ist dir Hedwig Bernhard ein Begriff? Gruß gliwi
Marie
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Beitrag von Marie »

Hallo Gliwi,

der Inhalt der Briefe zw. Rilke und Hedwig Bernhard ist mir nicht bekannt. Vermute Dramatisches! Rück' schon raus damit!!!
Gruß :shock:
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Liebe Marie, die Briefe habe ich auch nicht gelesen. Was ich weiß, weiß ich aus dem Marbacher Literaturarchiv. Als ich letztes oder vorletztes Jahr dort war, war ausgestellt, was von Hedwig Bernhard übrig geblieben ist, nachdem sie nach Auschwitz deportiert wurde. Aus den Informationen ging hervor, dass sie für Rilke nur ein "Kurschatten" während seines Aufenthalts in Bad Rippoldsau war, während er ihre große und einzige Liebe war. "Vernaschen" ist ein oberflächliches Wort, aber was es ausdrückt, ist ein großes Ungleichgewicht in einer Beziehung - für den einen geht es auf Leben und Tod, für den anderen ist es nur eine Zerstreuung. Und da kannst du mich nun moralinsauer, kleinkariert und sonstwas nennen, dieses Ungleichgewicht mag ich nicht, und ich mag auch nicht, wenn Kinder in irgendeiner Weise im Stich gelassen werden. Ist das wirklich immer der Ruf der Genialität? Oder ist es nicht manchmal doch Herzensträgheit? Liebe Grüße Christiane
e.u.
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Beitrag von e.u. »

Hallo,
ich will die Diskussion nicht auf Nebengeleise lenken. Nur zur Information. Rilkes Kontakt zu Hedwig Bernhard ist eigentlich gut zu studieren in der kleinen (aber feinen) Schriftenreihe 'Spuren' des DLA Marbach. Hier kurz die Daten:
Joachim W.Storck: "...Die Wäler sind herrlich..." Rainer Maria Rilke in Bad Rippoldsau. - Marbach August 2000 (16 Seiten). ISBN 3-933679-46-x
Mit Fotos, unbekannten Texten, auch aus H.B.s Tagebuch. Auf der letzten Seite gibt's dann weitere Literaturhinweise.
e.u.
Marie
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Beitrag von Marie »

Hallo Christiane,

zum Einen wollte ich dich mit dem Moralismus nicht persönlich angreifen - das steht mir nicht zu, aber andererseits habe ich zu dem Thema wirklich eine sehr konträre Anschauung.

1. Ich wusste, dass Hedwig Bernhard in Auschwitz umkam. Aber gerade wir Deutschen sind auch gerne geneigt im historischen Rückblick auf eine solche Tragödie ein generelles Opfer-Szenario zu gestalten und Dinge emotional miteinander zu verknüpfen, die zunächst einmal getrennt betrachtet werden müssen:

- H. Bernhard war 1913 Rilkes Geliebte. Punkt.
- H. Bernhard wurde in den 40er Jahren in Auschwitz ermordet. Punkt.

Ich kann nicht beurteilen, inwieweit die Aussage desjenigen, der diese Frau als "Kurschatten" Rilkes beschrieb, auf einer solchen unzulässigen emotionalen Verknüpfung beruht oder durch entsprechende Aussagen Rilkes belegt ist.

2. Einseitige Liebe ist ja keine Seltenheit. Ich wehre mich einfach gegen falsches Mitleid, das sich darin erschöpft, die Täter-Opfer-Rollen zu verteilen und im Urteilen stecken bleibt. Schau dir Israel und Palästina an! Jeder ist aus seiner Sicht nur Opfer und verübt nur "Vergeltung" - nie Angriff! Welches Übel der Menschheit ist durch diese Geisteshaltung jemals aus der Welt geschafft worden? Indem ich einen Menschen zum Opfer erkläre, entmachte ich ihn und rede ihm ein, sein Schicksal ist von anderen (Stärkeren = Tätern) abhängig!
Hedwig Bernhard hat in der Liebe eine große Enttäuschung erlebt und vielleicht unbewusst eine negative Lebensentscheidung getroffen: nämlich als Opfer zu leiden. Ich habe ja schon oft genug erwähnt, dass ich nicht an ein einziges Leben glaube. Eine solche Entscheidung darf jeder treffen, wenn er die Erfahrung als Opfer machen möchte! Vielleicht kennst du das Kinderbuch von Neale Donald Walsh (der Autor von "Gespräche mit Gott") "Die kleine Seele" (oder so ähnlich)?! Lohnt sich, in einer Buchhandlung mal reinzuschauen! Wahres Mitgefühl zeigt sich für mich darin, dass man nicht gemeinsam in die selbe Kerbe haut und den Täter verurteilt (bringt nichts!!!), sondern demjenigen Mut und Kraft für eine positive Lebensentscheidung zuspricht, die gerade aus der Leidenserfahrung Kraft bezieht.
Und nur aus dieser Geisteshaltung heraus, darf man sogar eine Verknüpfung der beiden o.g. Fakten ziehen (ganz spekulativ):

Hätte Hedwig Bernhard einen Weg gefunden, ihren Liebeskummer in Lebenswillen zu verwandeln, wäre sie möglicherweise nicht Opfer des Nazi-Terrors geworden. Vielleicht hätte ihre auf Überleben und Stärke programmierte Intuition sie dann rechtzeitig gewarnt und sie hätte (wie viele jüdische Künstler) früh genug emigrieren können oder hätte Auschwitz wenigstens überlebt.

Das ist für viele sicher sehr provokant, aber es ist nun mal meine tiefste Überzeugung. Urteilen ist Herzensträgheit!

Viele Grüße :D
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Lieber kenntnisreicher e.u., genau dieses Büchlein liegt hier neben mir , während ich tippe! Liebe Marie, dazu gäbe es viel zu sagen, aber heute nicht mehr! Auf ein andermal Christiane :?
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Libe Marie, ich habe, soweit ich sehe, keine Verknüpfung zwischen Hedwig Benrhards Liebesgeschichte und ihrem Ende in Auschwitz gemacht.
Was nun den Reinkarnationsglauben angeht, so bist du ebenso wie Hans Dunkelberg ein Beleg dafür, was mal jemand gesagt hat: Alle, die sich für Reinkarnationen halten, sind vorher etwas Prominentes gewesen - du eine Fürstin, Hans gar Thomas von Aquin - , niemand war Arbeiter, Bauer, Sklavin, obwohl es davon viel mehr gegeben hat. Seltsam, nicht? Und das, was du über Hedwig Bernhard sagst, müsste ja auch für die übrigen 6 Mio gelten, dass sie nämlich selbst verantwortlich sind für ihr Ende im Ofen, weil sie es so gewollt haben. Wie praktisch! Die Täter waren dann bloß noch Werkzeuge, die den Willen ihrer Opfer ausgeführt haben.( Fast ebenso praktisch wie diese andre Theorie: Gott wollte die Juden für ihre Assimilationsbestrebungen bestrafen. )Toll: jeder ist immer ganz allein selber schuld an seinem Schicksal, im Zweifelsfall rührt es noch aus dem vorigen Leben. Die Politik, die Mächtigen: alles bloß Werkzeuge.Braucht man sich gar nicht einzumischen, es kommt ja doch alles wie vorherbestimmt.
Nein, von dieser Einstellung halte ich gar nichts. Darüber, wo wir herkommen und wo wir hingehen, gibt es keine Gewissheiten, nur Spekulationen, und unser Dasein wird von Zufällen bestimmt. Wir sind zur Freiheit verurteilt, verantwortlich für das, was wir tun und für das, was wir nicht tun, und zwar in diesem einen Leben, das wir haben. ( "Lasst euch nicht verführen, es gibt keine Wiederkehr" ,Brecht.)Bleibt nur die Hoffnung, dass da einer "dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält".
Liebe Grüße Christiane
Marie
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Beitrag von Marie »

Hallo Christiane,

vielleicht müsstest du dann zu allererst alle Rilke Bücher in den Ofen schicken, denn der war von Reinkarnation ebenfalls fest überzeugt!
Wenn man Mensch und Werk so strikt trennen möchte, wird einem auch der schönste und tiefsteTeil des Werkes verborgen bleiben (wie beispielsweise Katharina von Kippenberg, die deine Weltanschauung teilte und entsprechend flach ist auch stellenweise ihre Interpretation (1947, glaube ich) der Duineser Elegien! Und das, obwohl sie Rilke persönlich kannte und über die Elegien mit ihm gesprochen hatte).
Hass schickt Menschen "in den Ofen" - und etwas davon ist auch in deiner Antwort zu spüren, auch wenn du sicher die Massen der moralischen Zeigefinger sicher hinter dir weißt. "Kreuziget ihn" (denn er denkt anders als die meisten...) brüllt man auch heute noch allzu gerne - und es braucht etliche Leben, um diesen fatalen Teufelskreis zu durchbrechen.

Liebe Grüße :D
gliwi
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Beitrag von gliwi »

Liebe Marie, jetzt fühle ich mich aber sehr missverstanden. Ich muss doch nicht irgendwas "in den Ofen" schicken, nur weil der/die VerfasserIn eine andere Weltanschauung hat als ich. (Da müsste ich ja einen Großteil der Literatur in den Ofen tun.)Und was hat das ganze mit "moralischem Zeigefinger" zu tun? Ich gönne es jedem und jeder, sich für die Reinkarnation eines hervorragenden Menschen zu halten, nur teile ich eben diese Ansicht nicht. Ich wüßte nicht, gegen wen ich Hass empfinde. Wenn ich auf der Verantwortlichkeit der Menschen bestehe, was hat das mit Hass und moralischem Zeigefinger zu tun? Überträgst du vielleicht hier auf mich schlechte Erfahrungen, die du mit anderen gemacht hast? Eines meiner liebsten Rilke-Gedichte ist übrigens "Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort...". Hass? Moralischer zeigefinger? Ofen? Ich stehe dazu, dass ich mit den Duineser Elegien nicht so viel anfangen kann, aber es ist legitim, bei einem Künstler, der viel geschaffen hat, sich den Teil des Werkes herauszusuchen, der einen besonders anspricht. Schön für dich und jede/n, der/die sich auch in die D.E. ganz hineinversenken kann. Ich kenne übrigens noch längst nicht alle Rilke-Gedichte( da ist mir das Forum eine wichtige Anregung, neue kennenzulernen und dabei Entdeckungen zu machen). Nein, ich finde, was du hier schreibst, hat nichts mit mir zu tun. Gruß Christiane
Marie
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Beitrag von Marie »

Hallo Christiane,
ich konnte nicht früher antworten wg. PC Problemen.
Wenn du nicht missverstanden werden willst, dann müsstest du mit der Sprache und Andeutungen etwas sorgsamer umgehen. Wenn du z. B. diesen Jemand zitierst, der sich über Reinkarnation auslässt und lediglich mit "Seltsam, nicht?" kommentierst, deutest du damit an, Menschen, die sich für Reinkarnationen Prominenter halten, sind psychotisch - das ist die knallharte Aussage dahinter. Dann sag' es doch auch so, das ist mir 100mal lieber! Vor allem ist es ehrlicher als dann zu behaupten, jedem seinen Glauben zu gönnen. Das geht doch gar nicht! Wenn du felsenfest überzeugt bist, dass Reinkarnation Humbug ist, müssen andere, die sich an vergangene Leben erinnern doch spinnen, oder! Mir ist Volkers Einstellung, die er mir im Juni unter pn schickte, die mit Abstand reifste. Sinngemäß: Ich habe keine Ahnung davon, ist mir fremd, habe aber von dem schwedischen Mädchen gelesen, das sich erinnert, Anne Frank gewesen zu sein und bin offen (wenn auch skeptisch) in puncto Reinkarnation.

Im Übrigen ist das Promi-Vorurteil auch noch völlig falsch: ich verweise nur auf den amerikanischen Psychiater Ian Stevenson, der tausende von Fällen spontaner Erinnerungen an vergangene Leben, ich glaube meist bei Kindern, untersuchte. Der empirische Beweis ist längst erbracht! Außerdem: als Rilke-Bewunderer bin ich mit Brecht irgendwie nicht wirklich zu missionieren!

Rilkes Furcht "vor der Menschen Wort" hat sicher einen anderen Hintergrund. Der "moralische Zeigefinger" bezog sich auf das Verurteilen von Tätern. Das ist doch ganz faktisch gesehen, das, was du auch vertrittst - da habe ich doch nichts missverstanden, oder. Warum sich also vor diesem Begriff fürchten? Wenn du davon überzeugt bist, dann darfst du den "moralischen Zeigefinger" doch auch anwenden. Ich weiß nur von mir selbst, dass ich mich immer dann heftig gegen etwas verwehre, wenn ich es in mir selbst nicht in aller Nüchternheit wahrnehmen will...
Die Frage, welches Übel damit jemals wirklich beseitigt wurde, hast du mir nicht beantwortet.
Verurteilen ist in meiner Überzeugung immer mit Agression (auch unbewusst gegen sich selbst) und Hass gekoppelt. Es gibt einen feinen Unterschied zwischen der Freiheit zu unterscheiden (zwischen "gut und böse") und verurteilen. Die Handlungen, die daraus entwachsen, mögen aüßerlich manchmal gleich sein, aber die psychische Energie dahinter entscheidet über die Effizienz: Täter und Opfer brauchen Heilung (durch Liebe, nicht durch Urteile!
Ich gehöre zwar keiner Konfession an, aber in dieser Hinsicht nehme ich Christus sehr ernst. Und wenn auf der Autobahn mal wieder so ein "Idiot" hinter mir drängelt und es mit der Liebe absolut nicht hinhauen will, - dann hole ich tief Luft und versuche mir wenigstens das Verurteilen zu verkneifen!

Liebe Grüße :D
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