Es ist immer wie eine kleine „Zeitreise“, wenn man sich selber in solchen alten Gesprächen begegnet... (und ich kriege einen roten Kopf wegen des von mir damals behaupteten „Subjekt-“ bzw „Objektwechsels“, was – auch wenn ich immer noch sehe, was ich gemeint habe – grammatikalisch natürlich ganz und gar unhaltbar ist...)
Aber ich danke für den Zusammenhang des Brecht-Zitats, dem ich wirklich sehr viel abgewinnen kann.
Mit dem Satz
»Zerpflücke eine Rose, und jedes Blatt ist schön.« ist es natürlich, wenn man ihn für sich allein betrachtet, so eine Sache.
Ich halte einen anderen Satz dazu (mag er nun von Thukydides oder David Hume sein, wie die wikipedia sagt, oder auch einfach eine Redewendung):
»Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters«.
Es kommt wohl sehr darauf an,
wer es ist, der eine Rose „zerpflückt“, und auch, zu welchem
Zweck er das tut.
Ist es jemand, der das „Ganze“ im Auge behält, der dieses „Ganze“ nur umso besser begreifen will, indem er die einzelnen Teile studiert? (Ich denke hier an den von gliwi so oft zitierten Satz Emil Staigers vom
»Begreifen, was uns ergreift«...)
Dann wird er als Kriterien den „Bauplan“ heranziehen, von dessen „geheimem Gesetz“ Christoph spricht, wenn er zu dem Schluß kommt:
»In solcher Zusammenschau ist jedes einzelne Blatt schön.«
Oder ist es jemand, der die Einzelteile voneinander losgelöst betrachten und ihres „Geheimnisses“ entkleiden will, um dann die Existenz eines solchen „geheimen Gesetzes“ leugnen zu können, weil es kein „materiell greifbares“ ist? Dann geht ihm freilich das Kriterium des „Bauplans“ ab. Und vielleicht geschieht dann tatsächlich dieses zweite:
»Im Kehricht ist die Schönheit dann vergangen.«
Insofern finde ich Brechts Satz:
»In der Anwendung von Kriterien liegt ein Hauptteil des Genusses.«
wirklich sehr gut beobachtet und treffend formuliert.
Aber noch zu der Frage, ob die zerpflückte Rose „lebendig“ bleibt:
Erstens ist eine Rosenblüte ja noch nicht
die ganze Rose.
Wenn ich eine Blüte vom Rosenstrauch schneide, so ist sie gewissermaßen „toter“ als zuvor, auch ohne daß ich sie zerpfücke. Allerdings stirbt damit noch nicht der ganze Strauch, sondern er kann eine neue Blüte treiben (die der alten wohl ähneln, aber nie ganz gleichen wird).
Zweitens ist ein Kunstwerk etwas anderes als eine Rose. Und ein Gedicht - selbst wenn Brecht es
»etwas verhältnismäßig Massives, Materielles« nennt – ist noch etwas anderes als beispielsweise Michelangelos „David“...
Die „Lebendigkeit“ eines Gedichtes ist nicht etwas bereits durch die Zusammensetzung seiner Buchstaben „Gegebenes“, sondern sie ist etwas, das im Leser jedesmal neu entstehen
kann, aber nicht
muß. Das hängt natürlich vom Leser ab, davon, ob er prinzipiell dazu imstande ist, die Buchstaben sinn-voll zusammenzusetzen, aber auch von seiner augenblicklichen Stimmung, davon, ob er in diesem Moment
willens ist, den Sinn eines Gedichtes zu erkennen.
Ich unterscheide hier zwischen „Sinn“ und „Bedeutung“, ohne daß ich in Worten genau definieren könnte, wie ich’s meine.
Vielleicht gelingt das aber mit einer Geschichte, die ich vor kurzem über Goethe gehört habe (leider ohne Quellenangabe - aber vielleicht weiß ja jemand von Euch, wo das zu finden ist):
Goethe soll einst auf ihr Bitten einer Abordnung von Studenten eine „Audienz“ gewährt haben. Die jungen Männer
(naja, also ich glaub halt, daß wohl keine Frau dabei war ) fragten ihn nach seinem „Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie“. Sie seien zu keinem Ergebnis gekommen, was beispielsweise der Riese zu bedeuten habe: symbolisiere er die Französische Revolution, oder ... und sie packten verschiedene in „Professorenkreisen“ existierende Theorien aus...
Und Goethe soll auf die eifrigen Fragen dieser Studenten geantwortet haben:
»Genügt es Euch nicht, daß man’s gedichtet hat? Muß es auch noch etwas bedeuten?«
Und ich denke auch an dieses Gedicht von Klaus Groth (ich höre es innerlich in der Vertonung von Johannes Brahms):
- Wie Melodien zieht es
Mir leise durch den Sinn,
Wie Frühlingsblumen blüht es,
Und schwebt wie Duft dahin.
Doch kommt das Wort und faßt es
Und führt es vor das Aug',
Wie Nebelgrau erblaßt es
Und schwindet wie ein Hauch.
Und dennoch ruht im Reime
Verborgen wohl ein Duft,
Den mild aus stillem Keime
Ein feuchtes Auge ruft.
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Und nun will ich draußen im Garten noch einige Blumen aussäen...
Herzlichen Gruß,
Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)