Garten-Frage

Von den frühen Prager Gedichten über Cornet, Neue Gedichte, Sonette und Elegien bis zum lyrischen Grabspruch

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lilaloufan
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Hermeneutik

Beitrag von lilaloufan »

stilz hat geschrieben:P.S.: ad lilaloufan: und hat helle in Sachen "Häupten" nicht schon selber erfolgreich nachgeforscht und damit (neuerlich) bewiesen, daß er nicht "Philister" ist?
Na klar, @stilz, ich schreibe ja sogar, ich würde es nicht mal Kritteln nennen wie er selbst. Aber du musst auch über mich nicht denken, ich versuchte, ex kathedra zu interpretieren. Ich stelle Fragen, stelle sie aber an das Ganze des Gedichts und frage: Was sagst du Gedicht, als Ganzes? Von da aus lege ich mir Rechenschaft, ob das so Verstandene auch ein Verstehen der Einzelheiten trägt und sich daran bestätigt. Wo du am Ende vielleicht ein: «Howgh, ich habe gesprochen» hörst, stelle ich immer noch Fragen. Es würden sich Fragen gewiss noch auf elf andere Weisen sinnvoll stellen lassen, dann könnten sich zwölf Fragearten gegenseitig beleuchten und ergänzen. @helle, du aber zerstörst das Gedicht erst und beklagst dann, der Rilke habe nur Scherben produziert. Das ist, wie wenn man die Leiche seziert und dann sagt, der Organismus scheint ja nicht gerade zur Gesundheit veranlagt zu sein.

Freilich komme ich von meiner Frageart auch zu einer Anschauungsweise.
stilz hat geschrieben:Ich möchte nur nicht gern diese Meinung/Deinung als unbestritten, unbestreitbar und unumstößlich hinstellen!)
Das unterschreibe ich auch!
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
helle
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Beitrag von helle »

Na, jetzt übertreibst Du ein bißchen. Wenn das Gedicht gut ist, wird es auch den Bemerkungen eines Ignoranten standhalten und braucht nichts zu fürchten ("Zerpflücke eine Rose, und jedes Blatt ist schön")

Aber ein Autor ist nicht unfehlbar und ein "Lyrisches Ich" noch kein Freibrief.

Natürlich steckt eine Menge in Deiner Entgegnung, vielleicht ein bißchen zuviel, aber herzlichen Dank. Ich glaube, einen anderen Blick auf "das Ganze des Gedichts" zu haben und sicher einen anderen Begriff vom Ganzen, weniger erfüllt und beseelt.

Ohne der Diskussion jetzt ausweichen zu wollen, werde ich doch einige Tage unterwegs sein und habe nicht die Zeit, auf die wichtigsten Argumente einzugehen. Vielleicht ja nicht so schlecht, da ich vermutlich doch nur wieder in dieselbe Kerbe schlagen würde, so oft ich das Gedicht auch durchdenke. Nicht aus Spaß daran, meine eigenen Vorbehalte zu wiederholen, nur aus einer Überzeugung anderer Art.

Grüße H.
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lilaloufan
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Re: »Ich will ein Garten sein…«

Beitrag von lilaloufan »

Also nochmal: lilaloufan möchte nicht sagen: Rilke habe dieses eine gemeint und sagen wollen. Auch nicht, nur so könne man es verstehen.

Aber die Lesart möge doch berechtigt sein. Sie stimmt für mich mit der Lebensbeobachtung widerspruchslos überein, noch immer.
Bertold Brecht hat geschrieben:Zerpflücke eine Rose, und jedes Blatt ist schön.
Aber einen Satz davor hat er geschrieben: „In der Anwendung von Kriterien liegt ein Hauptteil des Genusses.

Dieses ästhetische Credo: „Zerpflücke eine Rose, und jedes Blatt ist schön” gilt mir übrigens als fragwürdig. Zumindest darf daraus nicht unversehens gemacht werden: „… und jedes Blatt bleibt lebendig” oder auch nur Zeugnis des Lebendigen; damit ist's dann nämlich rasch vorbei.
  • Wie alles sich zum Ganzen webt,
    Eins in dem andern wirkt und lebt!
    Wie Himmelskräfte auf und nieder steigen
    Und sich die goldnen Eimer reichen.
    Mit segenduftenden Schwingen
    Vom Himmel durch die Erde dringen,
    Harmonisch all das All durchklingen!
Um das anschaulich werden zu lassen, zerpflücke ich auch schon mal eine Rose, aber nur, um mir dann die Blütenblätter, angeordnet in der Reihenfolge ihres Wuchses, als Gesamtbild auszulegen und herauszufinden, welches „geheime Gesetz“ wirkt ganz offenbar in dem Bauplan:
  • Und so deutet das Chor auf ein geheimes Gesetz,
    Auf ein heiliges Rätsel …
    Aber entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern,
    Überall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug.
In solcher Zusammenschau ist jedes einzelne Blatt schön. Im Kehricht ist die Schönheit dann vergangen.

Was ich heute schreibe, soll – @helle – in keiner Weise ein Widerspruch zu Deinem Beitrag sein. Aber durchaus eine Anregung, den von Dir zitierten Brechtschen Satz in seinem Gedankenzusammenhang aufzunehmen – nur darum geht es mir.

»Der Laie hat für gewöhnlich, sofern er ein Liebhaber von Gedichten ist, einen lebhaften Widerwillen gegen das, was man das Zerpflücken von Gedichten nennt, ein Heranführen kalter Logik, Herausreißen von Wörtern und Bildern aus diesen zarten blütenhaften Gebilden. Demgegenüber muss gesagt werden, dass nicht einmal Blumen verwelken, wenn man in sie hineinsticht. Gedichte sind, wenn sie überhaupt lebensfähig sind, ganz besonders lebensfähig und können die eingreifendsten Operationen überstehen. Ein schlechter Vers zerstört ein Gedicht noch keineswegs ganz und gar, so wie ein guter es noch nicht rettet. Das Herausspüren schlechter Verse ist die Kehrseite einer Fähigkeit, ohne die von wirklicher Genussfähigkeit an Gedichten überhaupt nicht gesprochen werden kann, nämlich der Fähigkeit, gute Verse herauszuspüren. Ein Gedicht verschlingt manchmal sehr wenig Arbeit und verträgt manchmal sehr viel. Der Laie vergisst, wenn er Gedichte für unnahbar hält, dass der Lyriker zwar mit ihm jene leichten Stimmungen, die er haben kann, teilen mag, dass aber ihre Formulierung in einem Gedicht ein Arbeitsvorgang ist und das Gedicht eben etwas zum Verweilen gebrachtes Flüchtiges ist, also etwas verhältnismäßig Massives, Materielles. Wer das Gedicht für unnahbar hält, kommt ihm wirklich nicht nahe. In der Anwendung von Kriterien liegt ein Hauptteil des Genusses. Zerpflücke eine Rose und jedes Blatt ist schön.«

Grüße,
Christoph
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
helle
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Re: Garten-Frage

Beitrag von helle »

Der vor langer Zeit zitierte Satz von Brecht ist zwar kein Axiom für mich, aber auch im freundlicher Weise angeführten Kontext finde ich ihn interessant und bedenkenswert. Daß ein Gedicht in all seinen Teilen der Prüfung standhalten muß, Tropen, Figuren, (ggf.) Reime, Metrum, Rhythmus und so fort, das sind ja Selbstverständlichkeiten. Nach wie vor denke ich, ein vollkommenes Gedicht ist in allen Momenten vollkommen und erträgt jede geistige Durchdringung und Zergliederung, und wer ihm gegenüber dummes Zeug erzählt, auf den fällt dies selbst zurück. Es gibt allerdings Grenzen der Argumentation, gerade bei so fragilen Gebilden wie Gedichten, aber auch überhaupt in den Künsten, manche sterben für Wagner, andere finden ihn grauenvoll, ich stand vor kurzem vor einem Bild von Mark Rothko und fand’s wunderbar, es war wie ein Tor ins Jenseits, neben mir aber empörte sich eine Dame über das schwarze und graue Nebeneinander, das muß man letztlich hinnehmen.

Gruß, helle
stilz
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Re: Garten-Frage

Beitrag von stilz »

Es ist immer wie eine kleine „Zeitreise“, wenn man sich selber in solchen alten Gesprächen begegnet... (und ich kriege einen roten Kopf wegen des von mir damals behaupteten „Subjekt-“ bzw „Objektwechsels“, was – auch wenn ich immer noch sehe, was ich gemeint habe – grammatikalisch natürlich ganz und gar unhaltbar ist...)


Aber ich danke für den Zusammenhang des Brecht-Zitats, dem ich wirklich sehr viel abgewinnen kann.

Mit dem Satz »Zerpflücke eine Rose, und jedes Blatt ist schön.« ist es natürlich, wenn man ihn für sich allein betrachtet, so eine Sache.
Ich halte einen anderen Satz dazu (mag er nun von Thukydides oder David Hume sein, wie die wikipedia sagt, oder auch einfach eine Redewendung): »Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters«.

Es kommt wohl sehr darauf an, wer es ist, der eine Rose „zerpflückt“, und auch, zu welchem Zweck er das tut.

Ist es jemand, der das „Ganze“ im Auge behält, der dieses „Ganze“ nur umso besser begreifen will, indem er die einzelnen Teile studiert? (Ich denke hier an den von gliwi so oft zitierten Satz Emil Staigers vom »Begreifen, was uns ergreift«...)
Dann wird er als Kriterien den „Bauplan“ heranziehen, von dessen „geheimem Gesetz“ Christoph spricht, wenn er zu dem Schluß kommt:
»In solcher Zusammenschau ist jedes einzelne Blatt schön.«

Oder ist es jemand, der die Einzelteile voneinander losgelöst betrachten und ihres „Geheimnisses“ entkleiden will, um dann die Existenz eines solchen „geheimen Gesetzes“ leugnen zu können, weil es kein „materiell greifbares“ ist? Dann geht ihm freilich das Kriterium des „Bauplans“ ab. Und vielleicht geschieht dann tatsächlich dieses zweite:
»Im Kehricht ist die Schönheit dann vergangen.«

Insofern finde ich Brechts Satz:
»In der Anwendung von Kriterien liegt ein Hauptteil des Genusses.«
wirklich sehr gut beobachtet und treffend formuliert.


Aber noch zu der Frage, ob die zerpflückte Rose „lebendig“ bleibt:

Erstens ist eine Rosenblüte ja noch nicht die ganze Rose.
Wenn ich eine Blüte vom Rosenstrauch schneide, so ist sie gewissermaßen „toter“ als zuvor, auch ohne daß ich sie zerpfücke. Allerdings stirbt damit noch nicht der ganze Strauch, sondern er kann eine neue Blüte treiben (die der alten wohl ähneln, aber nie ganz gleichen wird).

Zweitens ist ein Kunstwerk etwas anderes als eine Rose. Und ein Gedicht - selbst wenn Brecht es »etwas verhältnismäßig Massives, Materielles« nennt – ist noch etwas anderes als beispielsweise Michelangelos „David“...

Die „Lebendigkeit“ eines Gedichtes ist nicht etwas bereits durch die Zusammensetzung seiner Buchstaben „Gegebenes“, sondern sie ist etwas, das im Leser jedesmal neu entstehen kann, aber nicht muß. Das hängt natürlich vom Leser ab, davon, ob er prinzipiell dazu imstande ist, die Buchstaben sinn-voll zusammenzusetzen, aber auch von seiner augenblicklichen Stimmung, davon, ob er in diesem Moment willens ist, den Sinn eines Gedichtes zu erkennen.

Ich unterscheide hier zwischen „Sinn“ und „Bedeutung“, ohne daß ich in Worten genau definieren könnte, wie ich’s meine.

Vielleicht gelingt das aber mit einer Geschichte, die ich vor kurzem über Goethe gehört habe (leider ohne Quellenangabe - aber vielleicht weiß ja jemand von Euch, wo das zu finden ist):

Goethe soll einst auf ihr Bitten einer Abordnung von Studenten eine „Audienz“ gewährt haben. Die jungen Männer (naja, also ich glaub halt, daß wohl keine Frau dabei war ;-)) fragten ihn nach seinem „Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie“. Sie seien zu keinem Ergebnis gekommen, was beispielsweise der Riese zu bedeuten habe: symbolisiere er die Französische Revolution, oder ... und sie packten verschiedene in „Professorenkreisen“ existierende Theorien aus...

Und Goethe soll auf die eifrigen Fragen dieser Studenten geantwortet haben:
»Genügt es Euch nicht, daß man’s gedichtet hat? Muß es auch noch etwas bedeuten?«


Und ich denke auch an dieses Gedicht von Klaus Groth (ich höre es innerlich in der Vertonung von Johannes Brahms):
  • Wie Melodien zieht es
    Mir leise durch den Sinn,
    Wie Frühlingsblumen blüht es,
    Und schwebt wie Duft dahin.

    Doch kommt das Wort und faßt es
    Und führt es vor das Aug',
    Wie Nebelgrau erblaßt es
    Und schwindet wie ein Hauch.

    Und dennoch ruht im Reime
    Verborgen wohl ein Duft,
    Den mild aus stillem Keime
    Ein feuchtes Auge ruft.
---

Und nun will ich draußen im Garten noch einige Blumen aussäen...

Herzlichen Gruß,

Ingrid
"Wenn wir Gott mehr lieben, als wir den Satan fürchten, ist Gott stärker in unseren Herzen. Fürchten wir aber den Satan mehr, als wir Gott lieben, dann ist der Satan stärker." (Erika Mitterer)
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