Fichte war’s, in der fünften Vorlesung („über den Einfluss der Künste und Wissenschaften auf das Wohl der Menschheit“) in „Über die Bestimmung des Gelehrten“ (1794): «
wir werden (…) besser verstehen, als er selbst sich verstand, und wir werden ihn in vollkommener Übereinstimmung mit sich selbst und mit uns antreffen.»
Sei gegrüßt @
helle! Ein Freund, der unsere Beiträge hier las, hat ganz ähnlich wie du empfunden und mailte mir: «
… fand ich es schade, dass du im letzten Absatz zunächst den Rückzieher vor den Fachleuten machst – auch wenn nachher doch deutlich zu lesen ist, dass du ein Interesse an allen Reaktionen hast.»
Ganz offenkundig ist es mir nicht geglückt auszudrücken, dass ich durchaus nicht einen Antrag auf Immunität stelle. Mein scham- wie schalkhaftes Wort vom Laientum heißt ja nicht: Verschont mich mit philologischen Weisheiten, sondern: Messt meinen Versuch bitte mit seinem eigenen Maß – dem des
Lesers, der seinen Scheffel nicht schon mit dem [durchaus kostbaren!] Gold des
wissenschaftlichen Expertentums gefüllt hat,
bevor er in das reife und keimkräftige Korn der Rilkeschen Sprach
kunst taucht.
Auf seinem Felde gilt mir der Philologe durchaus als Anreger, wo nicht gar als Autorität, und ich werde ihm nicht unqualifiziert hineinquasseln wollen, möchte aber als Dialogpartner auch dann willkommen sein, wenn ich mit dem Apparat, den er handhabt, „nichts anfangen“ kann.
Das weiß ich ja gerade als einen Vorzug dieses Forums zu schätzen, dass es so voraussetzungslos aufgesucht werden kann.
helle hat geschrieben: … sie kommen mir unsauber, unehrlich vor und machen mich mißtrauisch gegenüber dem, was sich als Gehalt jenseits des konkreten Ausdrucks und der Sprachgestalt vorstellen läßt.
stilz hat geschrieben:
Und dieses ein bisserl "Streberische" macht mich mißtrauisch, und ich stelle mir vor, daß es als Hindernis zwischen den Pilger und den Gott, den er sucht, treten wird...
Ihr habt beide das Wort „misstrauisch“ gebraucht, und ich möchte gerne auf das jeweils hier unterstrichene Wort etwas einwenden, @
helle, um für Rilkes Wahrhaftigsein einzutreten –
gerade weil die Bilder so absonderlich (du @
stilz schreibt vorhin: „absurd“) sind, und @
stilz, um Rilke vom Streberschimpf zu entlasten –
gerade weil er in gewissem Sinne strebt.
Über Rilke wird tatsächlich in einigen Internet-Beiträgen behauptet, er lehne sich an die Tradition der mittelalterlichen Mystiker (genannt werden Angelus
Silesius und
Meister Eckehart) an. Nun ist mystisches Erleben dort durchaus nicht ein Augenschließen im Sinne eines Sich-Abkapselns, sondern eine «
unio», eine Vereinigung, ein Eins-Werden, das allerdings auf dem Wege zum
Logos bzw. zu ’Gott’ Ausgang nimmt bei der
Welt, ohne diese zu verneinen: „…Was uns im Brote speist,| ist Gottes ew’ges Wort,| ist Leben und ist Geist.“ (
A. S.)
Rilke versucht „Verwesentlichung“, indem er das „Eins und Alles“ der Dinge in der Leere des bloßen Ichselbst auflöst und sprachlich neu erstehen lässt. Er ist da in guter Tradition und Einvernehmen mit Goethe:
- Im Grenzenlosen sich zu finden,
Wird gern der einzelne verschwinden,
(…)
Weltseele, komm, uns zu durchdringen!
Dann mit dem Weltgeist selbst zu ringen,
Wird unsrer Kräfte Hochberuf.
heißt es dort. Während aber Goethe noch mit einer Überfülle von Bildmotiven unbefangen spielen kann, erlebt Rilke die Krise des Verstummens angesichts der großen Aufgabe der Dichtung, nichts anderes als „dazusein“ im Dienst der „
Wahrheit“ (GW II, p. 242) und des „
gültigen Bilds“ (ibid., p. 243).
«
Es handelt sich ja wirklich oft um das Schwierigste, in einem „Grenzstreif“ des eben noch Sagbaren Belegene, manchmal ringe ich selbst um den Sinn, der sich meiner bedient hat, um sich menschlich durchzusetzen, und das Licht einzelner Stellen besitze auch ich nur in einzelnen begnadeten Augenblicken.», schreibt Rilke in einem Brief an Gräfin Sizzo (09.V.1926).
Dort, wo er anfänglich die Sicherheit des Wissenden spürt, versagt sich die Sprache dem Unsäglichen, und dort, wo er – „
Atmung durch die Feder“ – das dichterische Wort gleichsam inhaliert, erschrickt er vor der Vermessenheit, als aller Bedeutungen Ahnungsloser das Grenzenlose zu fassen, wie es unser Brustraum mit der alles durchdringenden und umspülenden Atmosphäre tut, denn das Vermessene ist hier zugleich das Beschränkte.
- Wie, für die Jungfrau, dem, der vor ihr kniet, die Namen
zustürzen unerhört: Stern, Quelle, Rose, Haus,
und wie er immer weiß, je mehr der Namen kamen,
es reicht kein Name je für ihr Bedeuten aus…
Der Gehalt ist eben nicht jenseits des konkreten Ausdrucks und der Sprachgestalt vorzustellen, sondern das „
offenbare Geheimnis“ liegt
in dem ungegenwärtigen Bild selbst. Im Hinblick auf Paul Valéry urteilt Rilke, dessen Sprache sei
«
gerade dort am klarsten, wo sie das Geheime
aufweist, das offene Geheimnis, das geheim ist seiner Natur nach und also
weder imstande, sich zu verbergen, noch sich selbst zu erläutern.»
Und an anderer Stelle: «
Im Übrigen gehört es zu
den ursprünglichen Neigungen meiner Anlage, das Geheimnis als solches
aufzunehmen, nicht als ein zu Entlarvendes, sondern als das Geheimnis,
das so bis in sein Innerstes, und überall, geheim ist…»
Als äußerlich vorgestellte Gebilde haben die Bilder unseres Gedichts Reibung, sie „stimmen“ nicht. Ihren Inhalt verstehen wir allenfalls, wenn wir sie ansehen als keinen anderen Inhalt enthaltend denn sich-selbst, um dieses bloße Sich-Selbst einer inneren Erfahrung zur Verfügung zu stellen, durch welche sie wiederum verwandelt werden: Der Dichter kann diese Bilder nicht vollenden; sie vollenden sich beim Leser – er darf nur nicht in einem „Jenseits“ suchen, sonst er löst er nicht das offenbare Geheimnis in ihnen.
Wie die Rosenblüten in der „Rosenschale“ (Capri, 1907):
- (…)
und jene da, die nichts enthält als sich.
Und sind nicht alle so, nur sich enthaltend,
wenn Sich-enthalten heißt: die Welt da draußen
und Wind und Regen und Geduld des Frühlings
und Schuld und Unruh und vermummtes Schicksal
und Dunkelheit der abendlichen Erde
bis auf der Wolken Wandel, Flucht und Anflug,
bis auf den vagen Einfluss ferner Sterne
in eine Handvoll Innres zu verwandeln.
Eben dieses Rilkesche Bemühen, die dinglichen (!) Welterscheinungen als solche – statt sie auszudeuten oder sie künstlich mit Gehalt zu begaben - so zu betrachten, dass sie
Sich enthalten und nichts als sich, ist zwar ohne Zweifel, @
stilz, ein Be-Streben ohne Beispiel oder Vorbild. Aber ich stelle mir durchaus nicht wie du vor, dass dies in einer unerbittlichen nachtodlichen Seelenwägung als unehrlich oder überheblich zurückgewiesen wird.
Denn es entspricht diese Tätigkeit:
- Ich aber will dich begreifen, wie dich die Erde begreift
- - also: ’Gott’ begreifen, wie die Rose einfach durch ihre Authentizität, durch ihre vollständige und ein-verstandene Übereinstimmung mit ihrem eigenen Wesen, „die Welt da draußen“ inklusive aller kosmischen Wirkenskräfte in Dasein verwandelt -
dem „weitaus schwereren Tagwerk“, von dem
Goethe im „Versuch als Vermittler“ sagt, dieses «
übernehmen diejenigen, deren lebhafter Trieb nach Kenntnis die Gegenstände der Natur an sich selbst und in ihren Verhältnissen untereinander zu beobachten strebt: denn sie vermissen bald den Maßstab, der ihnen zu Hilfe kam, wenn sie als Menschen die Dinge in Bezug auf sich betrachten. Es fehlt ihnen der Maßstab des Gefallens und Missfallens, des Anziehens und Abstoßens, des Nutzens und Schadens. Diesem sollen sie ganz entsagen, sie sollen als gleichgültige und gleichsam göttliche Wesen suchen und untersuchen, was ist, und nicht, was behagt.»
Sollte das wirklich vor ’Gott’ als eine Unbescheidenheit gelten?
Liebe
stilz, ich habe eine schöne, recht alte Ausgabe des Stundenbuchs (1935), da sind jeweils die Erstzeilenversalia der einzelnen Gedichte als eingebaute zweizeilige Initialen gesetzt und nur der erste Buchstabe der ganzen Sammlung: „
Da neigt sich die Stunde und rührt mich an…“ als ornamentierte fast freistehend angehängte vierzeilige und farbige Versalie. Soviel zu deiner Frage.
Und bitte hoffe nicht wirklich auf schlechter werdendes Wetter; uns hat’s gereicht. Aber: wann konzertierst du mal in unserer Nähe?
Liebe Grüße rundumher!