Übersetzung des Gedichts "Man muss den Dingen..."

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Rilke Freundin
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Übersetzung des Gedichts "Man muss den Dingen..."

Beitrag von Rilke Freundin »

Hallo, freue mich sehr, auf dieses Forum gestoßen zu sein. Bin Rilke-Freundin, aber auch noch ziemlich unerfahren. Würde gerne einem afrikanischen Freund folgendes Gedicht in französischer Übersetzung schicken :

Man muß den Dingen
die eigene, stille,
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt,
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann;
alles ist austragen – und
dann gebären ....

Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen
des Frühlings steht,
ohne Angst,
daß dahinter kein Sommer
kommen könnte.

Er kommt doch !

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,
so sorglos still und weit ...

Man muß Geduld haben
gegen das Ungelöste im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antwort hinein.

Vielen Dank
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lilaloufan
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Beitrag von lilaloufan »

Nun, Rilke_Freundin, du hast einen Namen gewählt, der dich Ihm als Freundin anvertraut, mehr als dass du dir Ihn zum Freunde wünschen könntest – erweist er doch seine Freundschaft durch die vielen Erträgnisse, die uns Heutigen so frei zur Verfügung stehen, dass der Schatz kaum zu fassen ist: Wie schön, dass du ihn auszuteilen beiträgst!
[Meinen Namen hier habe ich zu kurz nur bedacht, denn das „fan“ wird allzu leicht im Sinne von «fanatisme» gedeutet statt als der Beginn von «fantaisie».]

Doch hier zu deiner Frage:
Es handelt sich ja nicht um ein Gedicht, sondern um Passagen aus den „Briefen an einen jungen Dichter“. Du findest sie in „Lettres à un jeune poète“, u. a. bei edition Flammarion (1999), ISBN 2-0807.0787-6 und in einer schönen Übersetzung von Marc B. de Launey bei edition Gallimard, ISBN 2-0703.2788-4, zur Not auch in einem etwas schludrig editierten Bändchen bei 1001, ISBN 2-8420.5156-4 oder bei Grasset als livre de poche, ISBN 2-2466.3971-9 in der Ausgabe von 2002, ISBN 2-2460.0470-5 von 1996. Auch als Hörbuch-CD, bei Flammarion gelesen von Denis Podalydès, bei Stanké gelesen von François Garagnon, ISBN 2-8955.8042-1, oder auch die beiden wunderbaren Aufnahmen mit weiblicher Sprechstimme, mit Barbara von 1991 bei Ducaté oder ganz neu die mit Cathérine Deneuve (1995), und das ist noch nicht alles, google mal…

Der Wortlaut in deiner Fassung ist um die Briefform bearbeitet und dadurch leider entstellt. So lautet die letzte Passage:
  • «Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.»
Mir sind diese Sätze sehr kostbar, ganz verwandt dem Exupéryschen „Sich-Vertraut-machen“! Vielleicht magst du hier im Forum einmal eröffnen, was sie dir bedeuten.
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
Rilke Freundin
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Beitrag von Rilke Freundin »

Man muss Geduld haben...
meine Antwortzeilen, geschätzter lilaloufan, haben gedauert, musste ich mir doch erst darüber klar werden, ob du mit deiner Äußerung bezüglich meines Namens meinst, ich hätte ihn zu anmaßend gewählt. Eine spannende Frage, an der mir erneut vieles deutlich wurde: dieser Name lag mir nah, da ich mich Rilke so nah empfinde, ich wählte, meiner Wesensart entspringend, aus dem Bauch und hätte für mich wohl keine entsprechendere Bezeichnung finden können, wohl wissend, dass ich – so ich weder in einer Freundschaft noch in einer Liebesbeziehung einen anderen besitzen oder für mich beanspruchen kann – noch viel weniger mit einer solchen Begrifflichkeit dessen eigenen „Frei-Raum“ zu schmälern vermag. Da fand ich folgende Worte so unendlich schön und wahr, die ich aus einem der Beiträge des Forums lernte (aus dem Brief Rilkes an E. Bodman):


"Ein Miteinander zweier Menschen ist eine Unmöglichkeit und, wo es doch vorhanden scheint, eine Beschränkung, eine gegenseitige Übereinkunft, welchen einen Teil oder beide Teile ihrer vollsten Freiheit und Entwicklung beraubt.

Aber, das Bewusstsein vorausgesetzt, dass auch zwischen den nächsten Menschen unendliche Fernen bestehen bleiben, kann ihnen ein wundervolles Nebeneinanderwohnen erwachsen, wenn es ihnen gelingt, die Weite zwischen sich zu lieben, die ihnen die Möglichkeit gibt, einander immer in ganzer Gestalt und vor einem großen Himmel zu sehen."


Sprach ich von meiner Unerfahrenheit, so meinte ich damit wohl eher mein Un“wissen“, denn gemessen an dem, wie du in vielen Beiträgen bewiesen, sofort zuzuordnen vermagst, wo welche der Worte Rilkes geschrieben stehen, bin ich ein Kind, das wohl gerade erst dabei ist, sich der Buchstaben unserer Sprache zu bemächtigen. Ich danke dir für deine rasche und differenzierte Antwort und darf wohl hoffen, noch manches Mal die Hilfe des bei dir so lebendig-gespeicherten Rilke-Schatzes in Anspruch nehmen zu dürfen.

Doch ist es mir ein Anliegen, eine Wertigkeit herauszunehmen, die ich in all dem spüre, die jedoch meine ganz eigene sein mag: auch das war Teil meines Zögerns, dir zu antworten und nicht umsonst kam ich auf den Vergleich des Kindes, das sich erst der Sprache und Schrift bemächtigen muss...

So will ich nur am Rande andeuten, was mich Zeit meines Lebens beschäftigt: meine Unfähigkeit, Wissen zu speichern und wieder abzurufen, mein Leiden daran und die nach und nach daraus erwachsene Erkenntnis, dass es ein Wissen, eine Weisheit des Herzens gibt, die dem in nichts nachsteht, einfach anders ist, die sich mit dem (mir schwer zugänglichen Weg) des Wissens ergänzt, wie völlig ungleiche Geschwister sich ergänzen und doch trotz allen Wesensunterschieden zueinander gehören.

Durch deine Antwort wurde mir bewusst: ich habe viel Erfahrung, doch diese im Umgang mit „nur“ wenigen Worten Rilkes, so diesem „Gedicht“ (wie ich fälschlicherweise glaubte) das mich seit vielen Jahren begleitet, mich lehrt, immer wieder anklopft, mein Herz beruhigt, prüfen hilft, wo ich mich im Festhalten, im Drängen, im Wissenwollen, in der phasenweise empfundenen Unerträglichkeit der Spannung der eigenen inneren Entwicklung... verliere. Es holt mich zurück auf den Weg der Reifung, der Geduld und des staunenden Wahrnehmens, zurück in die Ruhe des Seins.

Aus diesem Erleben entspringt das Empfinden der tiefen Verbundenheit und Freundschaft mit Rilke, da ich seine Worte als lebbar und wahrhaftig, als frei und allgemeingültig erfuhr. Denn ich wusste nichts von einem Brief, von dem Anlass, der Rilke diese Worte wählen ließ (es war mir auch bis jetzt keine Frage), ich stecke nicht in einem dem des jungen Dichters vergleichbaren Prozess. Ich lebe mein ganz eigenes Leben, habe meine ganz eigenen Herzensfragen und -nöte.
Mag sein, dass dir diese Originalworte Rilkes näher sind, doch ich, die ich von all dem nichts wusste und so lange mit den mir vertrauten lebte, empfinde keine „Entstellung“, kann die von dir zitierten in gleicher Weise annehmen wie die „verfälschten“. Bedeutend ist für mich, was ich mit meinem inneren Weg verbinden kann.
Rilkes Worte sollen Rilkes Worte bleiben, doch gleichzeitig widerstrebt mir ein wenig, seinen Geist, der noch unendlich viel größer und vielseitiger war und ist als das, was Rilke in seinen begrenzten Lebensjahren auszudrücken vermochte, in einen Rahmen zu sperren. Rilke ist einer der Menschen, die über sich hinaus sprechen, die eine Weisheit ausströmen, die ihnen selbst vielleicht zu Lebzeiten gar nicht in ihrem ganzen Ausmaß bewusst war. Ich weiß, dass dieser Geist weiter lebt, und hoffe sehr, dass er sich weiter ausbreitet und Nahrung gibt für viele, die ihrer auf dem nicht einfachen Pfad des Suchens und Werdens bedürfen. Dieser Geist wird sich neue „Rilkes“, neue Menschen und neue Formen des Ausdrucks suchen, das macht mich zutiefst dankbar und froh im gleichzeitigen Bewusstsein, dass Rilke und jeder einzelne von uns dabei in seiner Einzigartigkeit lebendig bleibt.
In der Hoffnung, mit dieser Antwort nicht den Rahmen des Forums zu sprengen (hier spricht wieder die Unerfahrene) grüßt dich

(eine der wohl unzähligen) Rilke Freundin(nen)
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lilaloufan
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Beitrag von lilaloufan »

Liebe Rilke_Freundin,

dein Beitrag hier hat mich so reich beschenkt, dass ich empfand, er verdiene eine gereifte Antwort statt eines rasch wie im Tischtennis Hinübergeworfenen, das immer darin triumphiert, den Anderen zu verfehlen. Doch was auch immer ich zu bündeln versuche an reichlicher Sonne, so wird doch der Strauß, den ich dir, immer noch viel zu früh aus dem Frühbeet geschnitten, nun darbieten kann, zu karg sein, um einen beachteten Platz bei dir zu erhoffen. In diesen zwei Wochen, während ich deinen Beitrag wieder und wieder las, dachte ich manchmal: Ob ich auf dieses Forum vielleicht nur gestoßen bin, um einen so berührenden Brief einmal zu erhalten, jenen ebenbürtig, um deren Erwürdigtsein ich manche Empfänger von Rilke-Briefen bisweilen ganz leise fast beneidet habe.

«Es ist gleichwohl möglich, dass Abelone in späteren Jahren versucht hat, mit dem Herzen zu denken, um unauffällig und unmittelbar mit Gott in Beziehung zu kommen», sinniert Malte in der 70. Aufzeichnung. Daran (und natürlich an den kleinen Prinzen) denke ich immer wieder, wenn ich deinen Satz über die Weisheit des Herzens lese. Rilke-Studium und Rilke-Befreundung als einander zugehörige Geschwister, das mag es nicht nur bei Menschen verschiedener Anlage geben, sondern auch im einzelnen Rilke-Leser kann dieses Paar eine Vereinigung finden:

Du hältst mich für belesen, für einen Speicher vieler Zitate; ich muss hier einmal bekennen, dass ich nur das Vielreproduzierte überhaupt kenne. Aber so wie du dich Rilke - in dem Wenigen dir Zugänglichen das schier Unerschöpfliche ahnend – „nah“ empfindest, so erlebe ich ihn in manchen Augenblicken, wenn ich mich seinem hinterlassenen Werk zuwende, real anwesend: Denn was führt meine Hand, im bislang allenfalls zerstreut durchgeblätterten Buch mit einem einzigen Griff die hilfreiche, passende, sogar die von einem Anderen gesuchte Stelle zu finden? Das Treffsichere dieser Gebärde kann sowenig als meine ’Leistung’ gelten wie als ein sogenannter ’Zufall’.

Aber dann gibt es eben auch Worte von Rilke, die sind in meinem Gemüt nicht wie in einem Magazin keimgeschützt bevorratet, sondern ergießen sich nieversiegend in mein Leben. Das Motto unten in meiner Signatur gehört dazu, und auch das Entsprechende in der Neunten Elegie, aber ebenso die Aufzeichnung Nr. 40 im Malte, mit der mein innerer Weg mit Rilke ganz planlos begann. Ich verdanke diesen Worten – wie auch du, anderen – manchen solcher Fingerzeige, die zurückweisen auf den Weg der eigenen Ideale und der einmal als für mich gültig erkannten Lebensmotive, welche dann von Etappe zu Etappe so vielgestaltige Formen bilden. Aber vor allem, viel stärker noch, erlebe ich ihre Mahnung und ihre gesammelte Kraft im Vorwärtsdeuten, unerbittlich oft, hin zu den Leitsternen, denen ich anvertraut bin. Gerade die „schweren“ Worte sind mir dann oft die beglückenden, denn sie künden davon, dass einer die wirklichen Maße zu wägen auf sich nahm, nichts gerechter wissend als das Tatsächliche und nichts tröstlicher als das Ja auch zu den Aufgaben, die größer sind als noch wir.

Du und ich haben zwei eigene innere Wege, die vielleicht ganz unterschiedliche Landschaften durchmessen, und spüren doch beide denselben Freund als Wegbegleiter dort wo wir rasten, wo wir uns orientieren, wenn wir uns sammeln zu weiteren Grenzgängen unserer Suche. So sind es eben jene stillen Einsamkeiten, in denen wir beisammen sind: dort, wo Raum und Zeit sich umstülpen und von Fluchtmarken da draußen zu Seelenorganen in uns werden, nicht mehr ähnlich der Hektik des Sekundenzeigers noch den Steinsetzungen unserer Revierbesitze. Auf irgendeinem Bahnhof werden du und ich einmal nichtsahnend aneinander vorbeirennen, aber im Besinnen eines jener Worte, die uns kostbar sind, tauchen wir in eine Einewelt, der Rilke in der ihn übersteigenden Großen Arbeit mit allen Fasern verantwortlich und demütig hingegeben diente.

Im letzten Absatz deines Postings beschreibst du, wie ich es selten und nur bei ganz Großen so stimmig fand, das allertiefste Geheimnis: das menschlicher Individualität, im Einzigartigen unsterblich und doch dort am lebendigsten, wo sie sich zu anderen hin als geistiges Fluidum befruchtend ausbreiten und in der Menschengemeinschaft Widerhall finden kann.

Ich denke über dich, dass du eine Erfahrene bist, die sich in diesem Leben abringt, einem Kopfwissen so weit zu entsagen, dass dir ein „Werden wie die Kindlein“ im besten Sinne möglich wird, nicht ohne, aber jenseits von „Sprache und Schrift“. Und so hoffe ich ganz unbescheiden, dass wir im Forum hier noch viel von deinem vielschichtigen und von Eitelkeiten unberührten seelischen Betrachten gewinnen werden, neben dem vielen Anregenden und Schönen, das es hier zu lesen gibt, zuweilen.

Ganz gegen meine Gewohnheit im Forum: Ich grüße dich, unbekannt vertraute Rilke-Freundin, ein wenig scheu vor dieser Öffentlichkeit, in (mit Unzähligen) gemeinsam gesteigerter Freundschaft zu Rilke.

Christoph
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lilaloufan
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Bodman-Brief vom 17. August 1901

Beitrag von lilaloufan »

Liebe Rilke_Freundin,

dein Zitat aus dem Bodman-Brief hat heute ein weiteres Mal Freude bereitet: http://rilke.de/phpBB3/viewtopic.php?p=7063#p7063.

Danke noch einmal dafür!

Christoph

{Link aktualisiert am 9. März 2011}
Zuletzt geändert von lilaloufan am 9. Mär 2011, 15:36, insgesamt 1-mal geändert.
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"Teil einer Melodie" und "Einsamkeit"

Beitrag von Rilke Freundin »

"Es ist eine sorglose Sicherheit in der einfachen Überzeugung, Teil einer Melodie zu sein, also einen bestimmten Raum zu Recht zu besitzen und eine bestimmte Pflicht an einem breiten Werke zu haben, in dem der Geringste ebenso viel wertet wie der Größte. Nicht überzählig zu sein ist die erste Bedingung der bewussten und ruhigen Entfaltung.“
(aus einer der kleinen Schriften Rilkes „Zur Melodie der Dinge“)

Es gibt Momente, lieber Christoph (schön, dich bei deinem Namen nennen zu dürfen, mein jüngerer Bruder heißt ebenfalls Christoph), in denen ich mich von solchen Worten Rilkes regelrecht getragen fühle. Ich scheine in ihnen eingebettet und zugleich zutiefst von ihnen erfüllt. Doch dann gibt es Zeiten, wie die vielen mir unendlich erscheinenden letzten Wochen, in denen ich diese Worte zwar verstehe und auch „irgendwie“ an sie glaube, doch fühle ich mich wie ein schweres Gewicht an ihnen hängen, zu schwer, um getragen werden zu können, zu besetzt von Traurigkeit, Schmerz und vielen vielen Selbstzweifeln und Fragen, um noch Raum in mir zu finden, der sie beherbergen und ihnen eine Chance auf fruchtbares Wirken geben könnte. Es war mir unmöglich, dir (und anderen) zu antworten; sehr schmerzhaft fühlte ich mich in diese innerlich empfundene Armut und Unfähigkeit, mich auszudrücken, eingesperrt. Ich ertrage oft nur schwer, mich von meinem Alltag und allem, was er in mir auslöst und mir zur Bewältigung aufgibt, so sehr ausgezehrt und aufgefressen zu fühlen.

Dabei war ich ebenfalls sehr berührt von deinem Schreiben, den Worten deiner Wertschätzung, doch noch viel mehr von deiner Fähigkeit, dich berühren zu lassen und deiner Berührung so aufrichtig, lebendig und bilderreich Ausdruck zu geben. Diese gegenseitige Berührung ist ein Schatz, ein Geschenk, denn was weiß ich schon von dir, von dem, wo du stehst, was dich bewegt?!? Und du: wer oder was lässt dich erahnen, mit welchen Worten du mir wirklich begegnen kannst???
Es ist die Quelle des Herzens, die, geöffnet von innerer Berührung, zu sprudeln beginnt und – unendlich Wertvolles verströmend – allen daran Anteil gibt, die sich in ihrem Umfeld bewegen. Und doch ist genau das so schwierig: dieses einfach nur (da-)Sein, diesem sehr zarten Geschehen Raum zu geben... Wie schnell versickert dieser Quell (tut er das wirklich?), wenn wir versucht sind, uns selbst für den Ursprung edler Worte anzusehen oder gar auszugeben, mit dem Anspruch, dies erneut „tun“ zu wollen... doch „echte“ Worte wollen fließen, sie lassen sich nicht „machen“ !!!
Und gerade die letzten Wochen war es mir unmöglich, überhaupt Worte zu finden, geschweige denn Worte von außen in mich aufzunehmen. Daher zog ich mich von allem zurück, nahm auch am Forum keinen Anteil mehr. Als ich nun heute Morgen einen Blick hineinwagte – ich war bereits dabei, dir diesen Brief zu schreiben – freute ich mich und war zugleich etwas beschämt über deine Nachricht, die meiner zuvorkam, und mich – mir meinen langen Rückzug scheinbar nicht nachtragend – so schlicht und freundlich anstupste, wie ein kleiner Hund es liebevoll und sanft mit seiner feuchten Hundeschnauze tun würde (ein zu platter Vergleich?).

(Verzeih, wenn meine Zeilen noch immer gefüllt sind mit Schwere, doch ich habe die Wahl, mich weiterhin in Schweigen zu hüllen oder aber mich mitzuteilen, wie ich gerade bin, und die Schwere ist momentan eben ein sehr prägender Teil meines Seins. Ich will und kann nicht darüber hinwegreden.)

Wie oft schreibt Rilke über Einsamkeit und ich glaube, es ist diese getrennt und doch über selbst zeitliche Distanz hinweg gemeinsam erlebte Erfahrung, die mich am allermeisten mit ihm verbindet. Ich fühle mich in so vielen seiner erschütternd ehrlichen und klaren Bilder zu Hause, wie in dem Bild aus dem von dir angesprochenen Brief an Emanuel von Bodman. Allerdings sehe und fühle ich mich selbst Wache stehn an den Toren meiner Einsamkeit, meiner eigenen inneren Tiefe, in der sich ein anderer Teil von mir zugleich wie ein „Maulwurf“ fortbewegt und dort Erlebtes, Entdecktes oder gar Ge-(Er-)löstes aus dem Dunkel ans Licht zu bringen versucht. Schwerstarbeit, wie der Abbau von Diamanten, die dann selbst in ihrer Rohform noch lange nicht ihre eigentliche Brillanz und Leuchtkraft zeigen. Auch ihnen steht dann noch ein langer Weg der Bearbeitung bevor.

Eine wunderbare Stelle fand ich erneut in der Schrift „Zur Melodie der Dinge“:

„Und wie Früchte sind wir. Hoch hangen wir in seltsam verschlungenen Ästen und viele Winde geschehen uns. Was wir besitzen, das ist unsere Reife und Süße und Schönheit. Aber die Kraft dazu strömt in einem Stamm aus einer über Welten hin weit gewordenen Wurzel in uns Alle. Und wenn wir für ihre Macht zeugen wollen, so müssen wir sie jeder brauchen in unserem einsamsten Sinn. Je mehr Einsame, desto feierlicher, ergreifender und mächtiger ist ihre Gemeinsamkeit.

Und gerade die Einsamsten haben den größten Anteil an der Gemeinsamkeit. Ich sagte früher, dass der eine mehr, der andere weniger von der breiten Lebensmelodie vernimmt; dem entsprechend fällt ihm auch eine kleinere oder geringere Pflicht in dem großen Orchester zu. Derjenige, welcher die ganze Melodie vernähme, wäre der Einsamste und Gemeinsamste zugleich. Denn er würde hören, was keiner hört, und doch nur weil er in seiner Vollendung begreift, was die anderen dunkel und lückenhaft erlauschen.“

Vielleicht ist es die größte Kunst überhaupt, dem, was uns Menschen vermutlich am meisten ängstigt und belastet – der Einsamkeit – einen Sinn zu geben. In Rilkes Worten scheint mir die Einsamkeit gar notwendig, doch zumindest unumgänglich um einer anderen Wahrnehmung willen.
Ich jedenfalls fühlte mich beim Entdecken dieser Worte zutiefst getröstet. Ich erkannte: wenngleich ich diesen Weg freiwillig wohl nie gegangen wäre, wurde ich – mich mehr und mehr auf ihn einlassend – mit dem inneren Reichtum wertvoller Erkenntnisse, nach und nach errungener Gelassenheit und einem Gefühl von wachsendem Vertrauen und einer Heimat IN MIR beschenkt. Empfänglich zu werden für die leisen Zwischentöne, wahrzunehmen, was zwischen den Ereignissen geschieht, was in feinen Tönen in diesen unsichtbaren Zwischenräumen erklingt, birgt eine Lebens- und Empfindungstiefe und –qualität, die mir dann am intensivsten erfahrbar wird, je bewusster und entschiedener ich mich der letztlich unausweichlichen Einsamkeit stelle. Erst darin erfährt sie, die Einsamkeit, den Wandel zum Begegnungsort innerer Verbundenheit und Gemeinsamkeit, wenn ich und andere sie als wesentlichen Teil unseres Seins akzeptieren. Aus dieser hörenden, wahrnehmenden Gemeinschaft der Einsamen, gibt es kein Zurück mehr. Nicht selten wird mir seither noch mehr die Trennung von all jenen bewusst, die ihre Einsamkeit wie einen schlechten Traum abzuschütteln versuchen oder gar glauben, sie träumten nicht einmal. Wir leben in verschiedenen Welten, und doch will ich mich in meiner Welt nicht abkapseln, offen sein, wahrnehmen, wahrnehmen, wahrnehmen – einfach da sein…

Lieber Christoph, deine Vorstellung, trotz aller äußeren Hast und Eile, unabhängig von allen äußeren Formen und Grenzen, Maßstäben und Ansprüchen, innerlich in den Einewelt-Raum eintauchen und einander begegnen zu können, hat etwas sehr Tröstliches und Friedvolles. Vielen lieben Dank für das Teilen des gemeinsamen Raumes.

In diesem Bewusstsein grüßt dich und alle gemeinsam Einsamen

Rilke Freundin Barbara
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lilaloufan
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Einsamkeit

Beitrag von lilaloufan »

  • Denn es ist fast von der Bedeutung einer Religion, dieses Einsehen: dass man - sobald man einmal die Melodie des Hintergrundes gefunden hat - nicht mehr ratlos ist in seinen Worten und dunkel in seinen Entschlüssen.“ So, liebe Barbara, beginnt ja das Rilke-Wort, das du mir im rechten Augenblicke schenkst.
Ich war gar nicht überrascht, deinen Namen zu lesen; es war mir, als hätte ich dich schon vorher so anreden mögen und immer gewusst, dass du nicht anders heißen kannst – seltsam.

Du fragst nicht, aber dir möchte ich erzählen, wie mir für diese Hintergrundmelodie Ohren aufgegangen sind, die nun immer wieder danach lauschen möchten und sich sensibel halten möchten für die zarte Stimme, deren Ton ich nicht mehr missen möchte im seelischen Andachtsraum. Ich war zu meinem verkürzten zweiten Studium aufgebrochen und wusste, ich würde meine Frau und die damals noch erst vier Kinder für ein Jahr selten sehen – und bei aller Vorfreude auf die Ausbildung meldete sich auch Angst: Wie würde ich aufrecht und mir treu bleiben in jenen Verlockungen, die da verheißen, den sonst einsamen Stunden Unterhaltsamkeit zu bieten? Mein Budget war weit unter Sozialhilfeniveau, da war nicht zu prassen; aber die große Stadt gaukelt mit so Vielem, das nicht Geld, sondern Selbstverleugnung kostet. — Und an diesem ersten Abend sah ich viele außergewöhnlich edel und gefasst aussehende Menschen in eine Veranstaltung gehen, schloss mich ihnen an und erfuhr an der Kasse, als Teilnehmer des neuen Studienjahres käme ich kostenlos hinein. Neben vielem anderen war auch Rilke - Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen - auf dem Eurythmie-Programm, und neben vielem von Steiner auch der folgende Satz (aus einem Büchlein mit dem Titel: „Die geistige Führung des Menschen und der Menschheit“):
«Der Mensch ist nicht allein; in ihm lebt etwas, was ihm immerdar den Beweis liefern kann: Es kann der Mensch sich über sich selbst erheben, zu etwas, was gegenwärtig schon über ihn hinauswächst und was wachsen wird von Leben zu Leben.»
Mich hat das damals wie ein priesterliches Mysterienwort getroffen und mein ganzes Aufgewühltsein noch an diesem ersten Abend geheilt. Ich bin nicht sicher, ob der Satz dir ähnlichen Entdeckerwillen weckt wie mir, aber ich weiß doch, dass du über Rilkes Überpersönliches neulich ganz ganz ähnlich hier geschrieben hast, nämlich dass es gegenwärtig schon über ihn hinauswachse und wachsen werde: Also verstehst du! Auch, dass nichts weniger gemeint ist als ein irgend geartetes Überheblichwerden, das in so unerträglicher Weise einsam machen müsste. Sondern gemeint ist ein Hinwachsen auch zu den anderen Menschen, denn dieses Hinauswachsen geschieht ja nicht um meiner mich isolierenden Selbstvervollkommnung willen, sondern aktiviert ein Gefühl der Liebe, das nicht jener Reize bedarf, wie sie sonst einen Abklatsch von Liebe auslösen.

Es klingt paradox: Da wir nur selten anders als in der Einsamkeit etwa eines Meditationsaugenblicks dieses All-Ich neben dem gewöhnlichen Hier-bin-ich-Ich bemerken, sind wir gerade dann, wenn wir allein sind, am deutlichsten dessen gewiss, dass „der Mensch nicht allein“ ist. Und können das ganze Vermögen an Geistesgegenwart, das in diesem inneren Leben entsteht, dann unserem menschlichen Umkreis energisch zur Verfügung stellen.

Nie könnte ich das kostbare Gut, das Einsamkeit neben der Geißel auch bedeuten kann, kundiger oder schöner ansprechen als du, und warum auch sollte ich dich zu übertreffen versuchen – im Gegenteil: Ich möchte mich dir virtuell zu Füßen setzen und lesend hinhören, nur hinhören und versteh’n.

Und wo du dreimal „wahrnehmen“ schreibst, möchte ich ergänzen: Gerade wo ich mich ganz einsam, aber unverbarrikadiert, öffne, wo ich dem anderen Lebens-Menschen (stilz’ Ausdruck in Anlehnung an Rilkes „Lebens-Dinge“) als Geist unter Geistern begegne, durchdringungsfähig und doch unvermischt, da ereignet sich nicht nur dieses tiefere Wahrnehmen, sondern zugleich werden wir wahrgenommen. Nicht „ewig unbeirrt beäugt“ (Eugen Roth), sondern mild und ernst wahr-genommen.

Die uns nahen Toten teilen nämlich unsere Einsamkeit und wollen diese nicht vertreiben, sondern helfen uns, unsere Einsamkeit zu schützen. Ein solcher uns naher Toter hat das besonders tief empfunden.

Aber er hat auch empfunden, dass wir Lebenden eine weitere Voraussetzung brauchen, um die Einweihung der Einsamkeit bestehen zu können. Er, der so oft das Lob der Einsamkeit sang, schrieb im letzten Erdenjahr seines Rilke-Lebens, er wagte in sein Muzot, wo er „hingehörte“, „doch nicht zurückzukehren, aus Furcht, den strengen Gesetzen der Einsamkeit nicht gewachsen zu sein. Mit diesem überlebensgroßen Engel kann man nur ringen, wenn man den Saft der Arbeit in den Adern hat, sonst wird seine Dämonie zur Überwältigung und zum fortwährend sich fällenden Urteil.

Alles Liebe, Barbara!
Christoph

P.S.: Kennst du Adam Bittleston?
»Wir tragen leidenschaftlich den Honig des Sichtbaren ein, um ihn im großen goldenen Bienenstock des Unsichtbaren anzuhäufen.«
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